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Landung ohne Start

Warum alle bisherigen Versuche, den baskisch-spanischen Konflikt auf dem Verhandlungsweg zu lösen, scheiterten: Die Gespräche mit Arnaldo Otegi sind auf deutsch erschienen. Rezension und Leseprobe

Von Gerd Schumann *

"Eltzea sutan frogratzen da" (Aus dem Baskischen: Den Topf prüft man auf dem Feuer)

Spanien ist keine Republik wie 1936, als die »noblen Generale« putschten. Beim postfranquistischen Spanien handelt es sich um ein Königreich, dessen Feind links steht. Arnaldo Otegi, Jahrgang 1958, Baske, hat den König beleidigt. Damit begründete ein Gericht eine 15monatige Haftstrafe gegen den Sprecher der baskischen Linken. Der Marxist Otegi gilt als »Schlüsselfigur« des Friedensprozesses von Anoeta, also eines Dialogs im Baskenland wie zugleich zwischen Madrid und der Untergrundorganisation ETA zur Lösung des fünfhundert Jahre andauernden Konflikts. Am 8.Juni 2007 mußte Otegi die Haft antreten, drei Tage nach Aufkündigung eines einseitigen ETA-Waffenstillstands -- ein politischer Gefangener wie 700 andere Basken, wenn auch der bekannteste.

Ich traf Otegi zweimal, im Frühherbst 1999 und im Januar 2007. Die Umstände hätten kaum unterschiedlicher sein können. 1999, auf dem Höhepunkt des dritten Friedensprozesses nach Franco, dem von Lizarra-Garazi, hatte das Baskenland eine »kollektive Euphorie« (Otegi) erfaßt. Der 41jährige stand an der Spitze einer 14köpfigen Fraktion der Linken im Autonomieparlament von Gasteiz (span: Vitoria), mit fast 20 Prozent der Stimmen war die baskische Linke dem Ergebnis der baskischen Christdemokratie (PNV) sehr nahe gekommen, gefährlich nahe, wie Otegi meinte. Für die Bürgerlichen wog der nunmehr befürchtete Hegemonieverlust schwerer als eine Lösung des Konflikts, sagte Ortegi. Die PNV zog sich peu à peu zurück aus dem bis dato breitesten Bündnis, das dem Kampf um das baskische Selbstbestimmungsrecht, in allen sieben Provinzen, diesseits und jenseits der Pyrenäen, neuen Auftrieb gegeben hatte, vergleichbar mit dem »revolutionären Aufruhr« in den Jahren direkt nach Francos Tod 1975.

2007, bei unserer zweiten Begegnung, saß mir der nun 48jährige Sprecher der vier Jahre zuvor verbotenen Linkspartei Batasuna (Einheit) in einem Büro der Gewerkschaft LAB in Donostia (span.: San Sebastián) gegenüber. Seine sachliche Lageeinschätzung konnte nicht seine Besorgnis überdecken. Der insbesondere von ihm entwickelte und Ende 2004 in Donostia-Anoeta vor 15000 Menschen vorgestellte Weg zum Frieden stand vor dem Scheitern: Seit Monaten hatte sich weder die spanische PSOE-Regierung noch ihre sozialdemokratische Ablegerin im Baskenland bewegt, ETA hatte im Parkhaus des Flughafens Madrid-Barajas eine Hunderte Kilo schwere Bombe gezündet mit fatalen Folgen: Zwei Menschen starben.

Das tragische Geschehen diente der Sozialdemokratie (PSOE) als durchaus willkommener Anlaß, ihr Versagen zu kaschieren, ihr angesichts des Ernstes der Lage unsägliches Auf-Zeit-spielen, ihren Unwillen, auch nur minimale Zugeständnisse zu machen. Mehrfach hatte die PSOE mit ETA verhandelt, und ihr baskischer Ableger mit der verbotenen Batasuna (Einheit), doch hielt sie an einer Unverbindlichkeit fest. Otegi mochte ahnen, daß die verzweifelten Versuche der Linkskräfte, den Friedensprozeß zu retten, vergeblich sein würden: »...dann schicke ich einen Brief aus dem Knast«, orakelte er, nachdem ihm bereits die Fahrt nach Berlin zur Rosa-Luxemburg-Konferenz höchstrichterlich untersagt worden war.

Zum vierten Mal endete ein ebenso gut durchdachter wie sorgfältig vorbereiteter Versuch der baskischen Linken, den Weg zum Selbstbestimmungsrecht friedlich, also durch Verhandlungen, zu beschreiten. Wie schon in Algier 1989 und Lizarra-Garazi 1998/99 hatten sowohl der spanische Staat als auch die baskischen Konservativen den notwendigen politischen Prozeß, der in einer freien Abstimmung über den zukünftigen Status des Baskenlandes münden sollte, auf einen rein technischen Vorgang reduziert. -- »Als ob der ETA eine Art Landebahn gebaut werden und man etwas Theater veranstalten müßte, um ihr die Möglichkeit zu bieten, die Waffen niederzulegen«, so Ortegi. Dauernd habe es Diskussion um die »Landebahn« gegeben, so daß »wir uns gezwungen sahen, richtigzustellen, daß es sich in der Realität um eine Startbahn zum Aufbau dieses Landes handelte«.

War die Annahme, die baskische Unabhängigkeitslinke hinters Licht führen zu können, Dummheit oder Kalkül? Oder war die regierende Sozial­demokratie unter dem Druck der heiligen Dreifaltigkeit aus Postfranquisten, Klerikalfaschisten und ETA-Opferverbänden schlicht eingeknickt? So oder so oder so liegt das Problem -- auch zukünftig bei jedem neuen Anlauf zur Lösung des spanischen Konflikts mit den Basken -- nicht nur in der Verfassung des Königreichs, die eine Unteilbarkeit Spaniens festschreibt. Es liegt vor allem in der Lernunfähigkeit spanischer Nationalisten, die zum Beispiel nicht akzeptieren, daß die Basken -- wie die Kubaner, Philippiner, Rif-Araber oder die Saharauis auch -- keine Spanier sind. »Ebensowenig wie die Iren, Zyprioten und Inder keine Briten waren und ebensowenig, wie die Algerier, Vietnamesen, Madagassen und die Basken des Nordens Franzosen waren« -- so der Batasuna-Vorstand im Vorwort des nun auf deutsch vorgelegten Buchs »Das Baskenland -- Wege zu einem gerechten Frieden«.

Auf spanisch erschien das Gespräch mit Otegi, das Inaki Iriondo und Ramón Sola führten, bereits 2005 -- nach dem Friedensplan von Anoeta, als Madrid mit ETA an geheimen Orten verhandelte und die Bedingungen für den Waffenstillstand vom Mai 2006 ausgelotet wurden. Obwohl seitdem viel dunkles Wasser die Grenzflüsse zum Baskenland, Adour im Norden und Ebro im Süden, hinabgeflossen ist, ist das bei Pahl-Rugenstein verlegte Gespräch topaktuell -- und das nicht nur wegen des Vorworts vom Batasuna-Vorstand. Daran ändert auch die stiefmütterlich ausgefallene lektorische Betreuung des ersten Gesprächsdrittels grundsätzlich nichts. Das Buch macht klar, daß der spanische Staat Ortegi nicht ignorieren kann, sollte er irgendwann einmal ernsthaft an einer nicht-militärischen Lösung des Konflikts interessiert sein. Das war allerdings bisher nicht der Fall. Der Topf kam nie richtig aufs Feuer.

Inaki Iriondo, Ramón Sola: Das Baskenland - Wege zu einem gerechten Frieden. Ein Gespräch mit Arnaldo Otegi. Übersetzung aus dem Spanischen von Ralf Streck und Ingo Niebel. Mit einem Vorwort von Heinrich Fink. Pahl-Rugenstein, Köln 2008, 260 Seiten, 22,90 Euro

* Aus: junge Welt, 13. März 2008


"Das heutige Entwicklungsmodell des Planeten ist untragbar"

Über die Chancen, Selbstbestimmung für das Baskenland zu erreichen, über ehrliche Sozialdemokraten und die sozialistischen Ziele seiner Partei

Anfang März wird im Pahl-Rugenstein Verlag Bonn das Buch "Das Baskenland. Wege zu einem gerechten Frieden. Ein Gespräch mit Arnaldo Otegi" erscheinen. - Arnaldo Otegi (geb.1958) ist Sprecher der seit 2003 im spanischen Staat verbotenen baskischen Partei Batasuna (Einheit) und anerkanntes mitglied der Verhandluingskommission, die vergangenes jahr mit der spanischen Regierung verhandelte. Nach Scheitern der Verhandlungen wurde er im Juni 2007 eingesperrt. Am 16.2.erschien der von uns im Folgenden dokumentierte Auszug in der Jungen Welt.

Seit fünf Jahrhunderten können die Basken nicht selbst über sich entscheiden. Wo verorten Sie heute die Forderung nach diesem Recht?

Es ist ein demokratisches Recht, das letztendlich den Konflikt in diesem Land lösen wird. Wir fordern kein politisches Projekt ein, sondern ein demokratisches Recht, das vom Völkerrecht anerkannt wird. Manche wollen glauben machen, daß es sich um ein Recht handelt, das seinerzeit von den Vereinten Nationen reguliert wurde, um den Entkolonialisierungsprozeß einzuleiten. Das ist richtig. Aber es ist auch offensichtlich, daß in den letzten zehn Jahren Staaten in Osteuropa das Selbstbestimmungsrecht ausgeübt haben. Auch die Lösung des Konflikts in Irland hat mit diesem Recht zu tun. Folglich ist unsere Forderung absolut aktuell. Und es ist der zentrale Kern dessen, was die Lösung des baskischen Konflikts sein kann. (.)

Warum sehen Sie jetzt realisierbare Chancen, daß Madrid das Baskenland als solches anerkennt, obwohl das all die Jahrhunderte nicht geschehen ist? Welches neue Element haben Sie festgestellt?

Wir wissen nicht, ob das realisierbar ist. Wir vertreten den Standpunkt, daß die 25 Jahre seit dem Beginn der Transición, dem Übergang von der Franco-Diktatur zur parlamentarischen Monarchie, nicht ergebnislos verlaufen sind. Und daß die abertzale (baskisch-patriotische, d. Red.) Linke dabei verstanden hat, einen politischen, volksnahen und kampffähigen Pol aufrechtzuerhalten, der alle Pläne dieses Staates - sein letzter war das Parteiverbot - neutralisiert hat. Wir sind uns auch bewußt, daß der spanische Staat seine Gebietsstruktur einem Reformprozeß unterwirft. Wenn Herr Zapatero ein Staatsmann ist, versucht er vielleicht, diesen Prozeß der Gebietsreform mit der Lösung des baskischen Konflikts zu verbinden. Aber das ist eine Annahme. Wir wissen nicht, ob es umsetzbar ist, noch sagen wir, daß es umsetzbar sein wird. Wir haben nicht die Hoffnung, daß der Staat selbstlos und aus gutem Willen handelt. Wir wissen, daß er uns nichts schenken wird - aber wie sehen Elemente, die in diese Richtung zeigen. Dabei ist uns klar, daß es auf jeden Fall ein langer Kampf sein wird. (.)

Gibt es dafür aus heutiger Sicht ein definierbares Zeitfenster? Wieviel Zeit verginge von der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts bis zu seiner tatsächlichen Ausübung?

Man kann zwei Phasen unterscheiden. Die erste verstehen wir als die vordringlichste. Das ist die Anerkennung von Euskal Herria (Baskenland - d. Red.) als Nation und somit als Subjekt mit politischen Rechten. Damit überwindet man den politischen Konflikt. Und es gibt eines zweite Phase: Die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts. Es ist klar, daß seine Anwendung der Absprache bedarf, wobei man die unterschiedlichen Sensibilitäten, Kräfteverhältnisse und politischen Kulturen berücksichtigt.

Das muß über ein Abkommen geschehen. Wann wird die abertzale Linke die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts vorschlagen? Logischerweise in dem Moment, wenn es gesellschaftlich und politisch offensichtlich ist, daß die baskische Gesellschaft und das baskische Volk bereit und ausreichend gefestigt sind, um diesen Sprung zu wagen und einen unabhängigen Staat zu bilden. Ich wage es nicht, von Zeiträumen zu sprechen.

Was antworten Sie denen, die meinen, daß es im Rahmen des jetzigen Autonomiestatuts bereits eine Entscheidungsfähigkeit gibt?

Ganz einfach: Daß es eine Lüge ist. Heute können wir Basken weder über die Zukunft noch über die Gegenwart entscheiden. (.)

Lassen Sie uns nach Europa zurückkehren. Wie glauben Sie, sieht man dort die Möglichkeit, daß es eine neue anerkannte Nation geben kann? In den letzten Jahren hat es vor allem in Osteuropa vergleichbare Vorgänge geben, aber in Westeuropa wäre das etwas Neues...

Ich würde gerne einige Dinge festhalten, die man bei Europa berücksichtigen muß. Erstens gibt es wohl keinen demokratischen Staatsbürger in Europa, der einen Zweifel daran hätte, daß Euskal Herria heute ein Staat in Europa wäre, wenn seine geographischen Grenzen die von Lettland, Litauen oder Estland gewesen wären. Zweitens sehen wir gerade, wie der Europäischen Union Länder beitreten mit einer geringeren Bevölkerungsdichte als das Baskenland, mit größeren wirtschaftlichen Problemen, die die Maastricht-Kriterien - mit denen wir nicht einverstanden sind - schlechter erfüllen. So betrachtet, würde der Beitritt des Baskenlandes zur EU überhaupt kein Problem darstellen. Das Problem ist aber ein anderes: Es betrifft zwei europäische Staaten. Und die europäische Politik setzte bisher auf die Nichteinmischung in die von ihr so genannten inneren Probleme. Deshalb ist es wichtig, die Lösung des Konflikts nach Europa zu tragen - es ist ja ein europäisches Problem. Man muß eine Lösung im europäischen Rahmen finden. Es ähnelt dem, was die Kurden vorschlagen.

Erklären Sie das.

Die Kurden sind daran interessiert, daß die Türkei der EU beitritt. Und das ist eng mit der Notwendigkeit verbunden, das kurdische Problem in ein europäisches zu verwandeln. Die Kurden meinen, daß es in diesem geographischen und politischen Szenario einfacher sein wird, eine Lösung für ihren Konflikt zu finden. Mein Standpunkt ist, daß nicht viel dagegen einzuwenden ist, wenn man einen neuen Staat in Europa schafft, sobald dies demokratisch geschieht. (.)

Einige Führer der spanischen Sozialistischen Partei PSOE haben bereits vorgeschlagen, daß es eine ähnliche Erklärung wie die der Downing Street (des englischen Premiers John Major und des irischen Regierungschefs Albert Reynolds 1993 - d. Red.) geben könnte. Ist das vergleichbar?

Ja, sehr. In dem geographischen Kontext, in dem wir uns bewegen, würde eine solche Erklärung die Grundlagen für eine bessere Zukunft legen. Natürlich müßte es eine Downing-Street-Erklärung auf spanische Art sein, in der der spanische Regierungschef die Existenz der baskischen Nation anerkennen würde und versprechen würde, das, was die politischen Parteien am Verhandlungstisch beschließen, zu respektieren.

Bei diesem Beispiel antworten viele immer, daß die Iren sehr gerne über die Kompetenzen verfügen würden, die die Basken bereits besitzen...

Das hängt davon ab, welche Iren man meint: Die im Süden besitzen alle Kompetenzen, sie haben einen unabhängigen Staat. Wir verweisen nachdrücklich darauf, daß man einen Konfliktlösungsprozeß nicht mit einem Prozeß um Kompetenzen vermischen darf. Wir würden Kompetenzen gegen das eintauschen, was das irische Volk besitzt: Das Recht, seine Zukunft frei und demokratisch zu entscheiden. In einer ersten Phase eines Lösungsprozesses sollte man das Kompetenzthema nicht ansprechen, sondern den Kern des Konfliktes: Das ist die Existenz des Baskenlandes und sein Selbstbestimmungsrecht. (.)

Gibt es realistische Alternativen zu den Regierungsmodellen, die momentan von den Institutionen umgesetzt werden, und die sich auch nicht so sehr unterscheiden, ob jetzt die PNV, UPN oder die PSOE gerade regiert?

Nach dem Zusammenbruch des Sowjetblocks sprach jemand vom Ende der Ideologien und der Geschichte. Der Fall dieses Blocks ließ die weltweite Linke - auch, wenn sie mitunter starke Kritiken an diesem Block hatte -, an Orientierung verlieren. Auf der anderen Seite sind wir davon überzeugt, daß uns das neoliberale und kapitalistische Modell in die Katastrophe führt. Das ist ein Planet, auf dem jeden Tag Zehntausende Kinder sterben, weil sie nichts zu Essen haben. Um mit dem Hunger in der Welt aufzuräumen, benötigte man Hunderte Milliarden US-Dollar. Sehr viel Geld. Ungefähr dieselbe Summe, die die US-Amerikaner jedes Jahr für ihre Haustiere ausgeben. Die zweite Todesursache in der Welt ist fehlendes Trinkwasser. Auch hier hat man ausgerechnet, wieviel es kosten würde, damit alle Welt über ausreichend sauberes Trinkwasser verfügt. Es ist die Summe, die wir Europäer jedes Jahr für Kosmetik ausgeben. Das sind die Gründe, die rechtfertigen, warum wir Sozialisten sind. Wenn das noch nicht ausreichen sollte, muß man nur einmal auf die Flüchtlingsdramen in Melilla und Ceuta schauen. Das bestätigt mich darin, daß die Formel "Sozialismus oder Barbarei" eine große Wahrheit darstellt. Das momentane Entwicklungsmodell dieses Planeten mit seinen Ungerechtigkeiten ist untragbar. Es gibt nur eine Art, dieser Situation entgegenzutreten: Ein sozialistisches Modell vorzuschlagen, das den Menschen ins Zentrum aller Notwendigkeiten setzt. (.)

Gibt es eine linke Kraft in Europa, in der Sie sich wiederfinden?

Wir haben es immer vorgezogen, Modelle nicht zu kopieren, weil jedes Modell seine positiven aber auch seine negativen Seiten hat. Aber ich stelle schon ein Phänomen fest, das glücklicherweise in Europa Form annimmt. Es gibt einen Bereich der Sozialdemokratie, der ehrlich an einen Weg zu einer gerechteren Gesellschaft glaubt, und der jetzt begonnen hat, sich gegen den Niedergang zu artikulieren, den der Sozialliberalismus darstellt. Wir haben das Beispiel der Linkspartei in Deutschland, das uns zeigt, daß es eine Linke links von der Sozialdemokratie gibt. In diesem Raum - links von der Sozialdemokratie - fühlen auch wir uns am wohlsten. (.)

Batasuna spricht auch von der Verteidigung aller bürgerlichen wie politischen Rechte. Wie konkretisieren Sie das?

In Situationen des Konflikts und der Konfrontation wie der aktuellen verteidigst du die Grundrechte, wenn du Auswege aus dem Konflikt suchst. Von unserem Standpunkt aus betrachtet sind die bürgerlichen und politischen Freiheiten sowie Rechte nicht diskutierbar. Uns belustigen die Diskussionen über die hohe oder niedrige Qualität der spanischen Demokratie. Das ist wie mit dem Schwangersein: Entweder man ist es oder man ist es nicht. Entweder gibt es Demokratie oder es gibt keine Demokratie. Und im spanischen Staat gibt es keine Demokratie. Bei seinem Versuch, die abertzale Linke zu liquidieren, hat dieser Staat die Rechte und Freiheiten der gesamten Gesellschaft beschnitten. Der kraftvolle Einsatz für die Konfliktlösung und den nationalen Aufbau muß andauernd einhergehen mit dem Einsatz für die bürgerlichen Rechte und Freiheiten.

Immer wenn Batasuna von Rechten spricht, dann wird sie von anderen Seiten daran erinnert, daß sie weder die Aktionen der ETA verurteilt noch die kale borroka, den Straßenkampf.

Eben habe ich von dem Paradigma gesprochen, daß der Kapitalismus es geschafft hat, der öffentlichen Meinung ein bestimmtes Konsumverständnis aufzudrängen. Im politischen Umfeld gibt es ein weiteres Paradigma: Den Versuch, der Vorstellungswelt der Bürgerinnen und Bürger aufzuzwängen, daß die abertzale Linke für den Grad an Gewalt verantwortlich ist, den es in diesem Land gibt, daß die Gewalt von der ETA kommt oder von volksnahen Schichten, während andere Parteien oder Regierungen überhaupt nichts mit der Gewalt zu tun haben. Das führt dazu, daß diejenigen, die die spanische Verfassung verteidigen, die wiederum in ihrem Artikel acht der Armee die Verteidigung des Vaterlandes überträgt, überhaupt nichts mit der Gewalt zu tun haben. Das führt dazu, daß die, die in Gasteiz regieren, auch nichts damit zu tun haben, was die Ertzaintza (Polizeitruppe in der Autonomen Baskischen Gemeinschaft - d. Red.) gemacht hat. In diesem Land gab es Anschläge auf das Leben durch die ETA, den GAL (die 1983 von der spanischen PSOE-Regierung gegründete Geheimtruppe tötete mindestens 29 Basken - d. Red.), der Guardia Civil, der spanischen Nationalpolizei, der Ertzaintza und den militärischen Geheimdienst Cesid. Das heißt, es gibt eine Gewalt des Staates mit all seinen Variabeln, und es gibt eine Gewalt von der ETA, die wir als eine Antwort sehen. Vor diesem Hintergrund setzen wir uns dafür ein, ein Szenario zu finden, in dem man alle Rechte aller Menschen im ganzen Baskenland respektiert. Die Staaten sollen endgültig darauf verzichten, juristische oder militärische Erpressung zu benutzen, mit denen sie verhindern wollen, daß dieses Volk frei und demokratisch seinen Willen ausdrückt. (.)

Batasuna definiert sich als sozialistisch: aber welche Art von Sozialismus ist das? Können Sie uns einige Eckpunkte nennen?

Batasuna versteht sich als eine politische Organisation, die sich als strategische Ziele die Unabhängigkeit und den Sozialismus gesetzt hat. Und seit ihrem Ursprung verbindet diese "Unidad Popular" in ihrem Innern ideologische Positionen, die vom Kommunismus bis zu den progressiven christlichen Bereichen reichen. Sie ist also eine linke und sozialistische Organisation. Außerdem sind wir der Überzeugung, daß ein Unabhängigkeitsprojekt in Euskal Herria nur mehrheitsfähig sein kann, wenn es ein sozial gerechtes und egalitäres Modell für unser Volk mit sich bringt. Wir glauben, objektiv betrachtet, daß das baskische Unabhängigkeitsprojekt die Arbeiterklasse und die Volksschichten unseres Landes anspricht. Und weil das so ist, werden diese Volksschichten im Unabhängigkeitsprozeß zu einem sozialistischen Szenario zusammenfließen. Andererseits versucht die abertzale Linke ein eigenes sozialistisches Modell aufzubauen, ein Modell, das sich der konkreten Realität unseres Volkes anpassen muß. Wir sind überzeugt, daß der Schlüssel für den Aufbau eines anderen Euskal Herria darin liegt, daß der Mensch im Mittelpunkt der wirtschaftlichen und politischen Aktivität steht.

Auch wenn die Gefahr besteht, dass Klischees vereinfachen: Wem stehen Sie näher? Was trennt Sie von der Sozialdemokratie, vom Marxismus...?

Ich persönlich bezeichne mich als Marxisten. Der Marxismus ist ein unerläßliches und notwendiges Werkzeug, um die Gesellschaft zu analysieren und umzubauen. Von der Sozialdemokratie denke ich, daß sie hauptsächlich entstand, um die sozialistische Revolution zu bremsen. Das war ihr Hauptanliegen. Und als der Kalte Krieg zu Ende war, mit dem Zusammenbruch des Sowjetblocks, gerät sie in die Krise. Da ja die sozialistische Revolution am Horizont nicht mehr sichtbar ist, was ist dann die Rolle der Sozialdemokratie in Europa? In der Folge haben wir es mit einer geteilten Sozialdemokratie zu tun: Es gibt diejenigen, die beschlossen haben, offen die Maske abzulegen und die Thesen des Sozialliberalismus anzunehmen, wie das bei Blair und Schröder der Fall ist. Und es gibt solche, die sich vorgenommen haben, weiterhin den Wohlfahrtsstaat gegen die neoliberale Aggression zu verteidigen. Das kann der Fall bei einigen Teilen des deutschen und französischen Sozialismus sein. Das Entstehen der Linkspartei in Deutschland ist eine direkte Folge dieser Krise. Sicher ist, daß sich für die abertzale Linke ein Weg hin zur Möglichkeit einer europäischen Linken jenseits der Sozialdemokratie öffnet, einer Linken, die sich mit den Volksschichten und aufstrebenden Bewegungen aus anderen Zusammenhängen verbinden kann. Das ist eine zum Umbau fähige Linke, die - trotz der bestehenden Einschränkungen im weltweiten geopolitischen Rahmen - nicht aufhört, eine radikal andere Welt als die jetzige zu schaffen. Genau mit dieser Linken können wir uns am besten identifizieren.

Sie sprechen von einem sozialistischen Projekt im europäischen Rahmen. Es ist mehr oder weniger klar, daß die Gesundheitsversorgung im staatlichen System verbleiben soll, um den Wohlfahrtsstaat zu garantieren, aber glauben Sie, daß man der Willkür des Marktes Bereiche wie die Grundversorgung, die Energie oder das Finanzsystem überlassen soll? Oder sind Sie für die Verstaatlichung der Produktivbereiche?

Von einem sozialistischen Projekt zu sprechen, bedeutet von einem Projekt zu reden, das die wirtschaftlichen, kulturellen, Bildungs- und Gesundheitsinteressen der Bevölkerungsmehrheit den Interessen des Kapitals vorzieht. Man muß verstehen, daß die Politik Alternativen schaffen muß, die diese Interessen befriedigt. Und man muß vor allem von einem humanen Projekt, von einem demokratischen Projekt sprechen. Wenn wir das Leben des Planeten oder das derer, die wir ihn bevölkern, dem Wagnis aussetzen, den Markt entscheiden zu lassen, dann ist das - neben einer ethischen Unverantwortlichkeit - die beste Garantie für eine radikal ungerechte Welt. Der ideologische Kampf zwischen Sozialisten und Liberalen ist der Kampf der Vernunft gegen das egoistische Interesse einiger weniger, die auf Kosten der übergroßen Mehrheit leben. Batasuna verteidigt deshalb ein Projekt, in dem die Gesundheit, die Bildung, die Gleichheit der Geschlechter, die Lebensmittelqualität oder das Recht auf ein würdiges Leben die Ziele des politischen Handelns sind; ein Handeln, das unserer Meinung nach eben von diesem Standpunkt her verstanden werden muß. Und deshalb betrachten wir es als notwendig, einen starken, entwickelten und modernen öffentlichen Sektor aufzubauen, der außerdem transparent geführt wird, damit er unsere Wirtschaft im Dienste der arbeitenden Mehrheit unseres Landes vorantreibt. Heute allerdings sind es die multinationalen Konzerne und die großen Teile des Finanzkapitals, die von ihren Interessen her die Politik Europas und der Welt bestimmen.

(Übersetzung aus dem Spanischen: Ingo Niebel und Ralf Streck)

* Aus: Website Prison's Dialogue; www.dialogt.org


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