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Hungern für die Banken

Zwei Millionen Spanier auf Lebensmittelspenden angewiesen. Weiter Proteste gegen Kürzungsprogramme. Vereinigte Linke ruft zu »demokratischem Aufstand« auf

Von Carmela Negrete *

In Spanien gehen die Proteste gegen die Kürzungspolitik der Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy unvermindert weiter. Am Samstag erreichten mehrere Demonstrationszüge von Erwerbslosen aus ganz Spanien nach mehrwöchigen Fußmärschen über Hunderte Kilometer die Hauptstadt Madrid, um von der Regierung den Einsatz der von der EU bewilligten Gelder zur Schaffung von Arbeitsplätzen und nicht zur Subventionierung der Banken einzufordern. Tausende Madrilenen begrüßten die Teilnehmer des »Marsches der Würde« und zogen mit ihnen unter Parolen wie »Hände hoch, das ist ein Überfall!« oder »Sie pinkeln auf uns und sagen, es regnet« durch die Straßen der Metropole zum Arbeitsministerium.

Während die rechte Regierung mit dem jüngsten Kürzungspaket rund 65 Milliarden Euro einsparen will, zugleich jedoch an Steuergeschenken für die Großkonzerne festhält, sind inzwischen bereits rund zwei Millionen Spanier auf Lebensmittelspenden angewiesen. Einer Meldung der Tageszeitung El Mundo zufolge hat die EU-Kommission Madrid 80,4 Millionen Euro überwiesen, damit die Regierung 67 Millionen Kilogramm Grundnahrungsmittel an die Betroffenen verteilen kann. Die darin enthaltenen sechs Millionen Kilogramm Hülsenfrüchte entsprechen etwa 13 Prozent der gesamten spanischen Jahresproduktion. Ein Ende der Krise ist unterdessen nicht in Sicht. Die Regierung kündigte bereits an, daß die Rezession das gesamte Jahr 2013 über anhalten werde.

Doch nicht nur die Notwendigkeit von Lebensmittelhilfe wird in Spanien als Zeichen dafür gewertet, daß das Land auf dem Weg »zurück in die Unterentwicklung« sei. So berichtete der Journalist Juan Castromil von der Tageszeitung 20 minutos, er sei am Donnerstag bei der Großkundgebung in Madrid festgenommen und gemeinsam mit 15 weiteren Demonstranten von der Polizei gefoltert worden. »Es hat mich überrascht, feststellen zu müssen, daß sich in diesem Land im Jahr 2012 Dinge ereignen, die ich eher in Staaten der Dritten Welt erwartet hätte«, schrieb er.

Bei der Kinderarmut liegt Spa­nien inzwischen im europäischen Verhältnis gleichauf mit Rumänien und Griechenland. Das Armutsrisiko für Minderjährige liegt der EU-Statistikbehörde Eurostat zufolge inzwischen bei 29 Prozent. Insgesamt sind bereits elf Millionen Menschen in Spanien von Armut bedroht – jeder vierte Einwohner. Entsprechend steigt die Zahl der Auswanderer. Allein im ersten Quartal 2012 verließen 40000 Spa­nier zumeist aus wirtschaftlichen Gründen ihr Heimatland – ein Anstieg um 44 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Die Vereinigte Linke (IU) hat die Bevölkerung inzwischen zu einem »demokratischen Aufstand« zum Sturz der Regierung aufgerufen, um die Krise von »ihren Verursachern, den Spekulanten und den von den antidemokratischen Eliten in der EU geförderten Finanzbetrügern« bezahlen zu lassen. In Santiago de Compostela demonstrierten am Samstag ehemalige Kunden des Bankhauses Nova Galicia (NGB) gegen die millionenschweren Entschädigungszahlungen für die Manager des Instituts. Während diese für den Verlust der Ersparnisse ihrer Kunden auch noch belohnt werden, sollen die Geprellten leer ausgehen. In Asturien wurden unterdessen die Proteste der Bergleute gegen die Kürzung der staatlichen Kohlebeihilfen um mehr als 60 Prozent fortgesetzt. Dabei kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen den streikenden Kumpeln und der Polizei.

* Aus: junge Welt, Montag, 23. Juli 2012


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