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"15M muss die nächsten Schritte gehen"

Iñigo Errejón Galván über die Bewegung der Empörten und das Wahldebakel der Sozialisten in Spanien *


Iñigo Errejón Galván ist Politikwissenschaftler an der Madrider Universität Complutense und Aktivist der Bewegung der spanischen Indignados (Empörten), die nach ihrem Ursprung am 15. Mai auch als 15M bezeichnet wird. Galván war auf Einladung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung kürzlich zu Besuch in Berlin. Für »nd« sprach mit ihm Carmela Negrete.


nd: Spanien hat bereits früher Zeiten von Krise und ökonomischem Stillstand durchlaufen. Wie kommt es, dass sich auf einmal viele Leute auflehnen und sagen: Heute mache ich Revolution?

Galván: Im Untergrund gärte die Unzufriedenheit bereits über Generationen, ohne dass sie sich politisch artikulierte. Diese Unzufriedenheit wandelte sich erst zur Politisierung der Menschen, als verschiedene Gruppen fähig wurden, sie zu mobilisieren. Die erste Demonstration dieser neuen Bewegung stand unter dem Motto »Wir sind keine Ware in den Händen der Banken und Politiker«. Das Entscheidende war der Abgrund zwischen den Zukunftsversprechungen der politischen Klasse und der Realität. Die enttäuschten Erwartungen, die die Medien und die offizielle Ideologie geweckt hatten, führten zu einer Spirale der Desillusionierung.

Was unterscheidet die Bewegung der Empörten Spaniens, die sich unter der Bezeichnung 15M - nach ihrer ersten großen Demonstration am 15. Mai - sammelt, von ähnlichen Prozessen in Griechenland oder Italien?

Der grundlegende Unterschied zu den Bewegungen dort ist, dass die spanische 15M in einem Moment auf den Plan trat, als es in der Gesellschaft kochte, zugleich aber die Organisationen der Linken schwach und schlecht aufgestellt waren. Viel schlechter als in Italien oder Griechenland. In diesen beiden Ländern gibt es nicht einfach Empörte, sondern starke Organisationen der radikalen Linken. Der Diskurs von 15M ist sehr weit und politisch wenig festgelegt, deshalb fällt es vielen verschiedenen Menschen leicht, sich dazuzuzählen. Das ist vorteilhaft, wenn es um ihre Breite geht, aber von Nachteil dabei, eine konkrete politische Stoßrichtung zu entwickeln.

Ist die Bewegung der spanischen Empörten überhaupt als linke Kraft einzuordnen?

Viele, die sich daran beteiligen, sind sich nicht einmal bewusst, dass es sich objektiv um eine linke Bewegung handelt. Und wären sie es, würde das ganze Projekt nicht mehr funktionieren. Statt linker ideologischer Phrasen baut die Bewegung auf allgemein akzeptierte Begriffe wie »Jugend«, »Bürger« oder »Demokratie«. Eine Umfrage des staatlichen Zentrums für Soziologische Forschungen (CIS) ermittelte im Juli eine Zustimmung von 60 Prozent der spanischen Bevölkerung zu der Bewegung. Offensichtlich kann diese nicht allein durch linksorientierte Menschen zustande gekommen sein. Das Beste, was die Empörten erreicht haben, ist, Ideen, die gestern noch als radikal galten, allgemein konsensfähig zu machen.

Warum spiegelt sich der Einfluss dieser Bewegung überhaupt nicht im Wahlresultat wider, das der konservativen Volkspartei PP eine absolute Parlamentsmehrheit bescherte?

Die 15M-Bewegung hat keine einheitliche Position in Bezug auf die Wahlen eingenommen. Deren Ergebnis entspricht nicht der politischen Landkarte Spaniens. Ein echter Rechtsruck hat nicht stattgefunden. Die PP hat mit nur 400 000 Stimmen Vorsprung nicht entscheidend gewonnen, sondern die sozialistische PSOE hat verloren. Die Bewegung der Empörten wusste nicht, wie sie sich auf dem Feld der Wahlen bewegen sollte, Ihre Stimmen wurden zersplittert.

Welche Perspektive sehen Sie unter den politischen Verhältnissen für die Bewegung der Empörten?

Sie hat bereits eine Aufwertung des politischen Lebens in meinem Land bewirkt, aber nun muss die Bewegung die nächsten Schritte gehen. Meiner Meinung nach sollte diese Kraft sich in einem neuen politischen Projekt mit einem gemeinsamen Namen kristallisieren. Es wäre unverantwortlich, wenn die Bewegung das Regieren den Eliten, insbesondere der nun konservativen Führung überließe. Wichtiger als ein bis ins kleinste ausgearbeitetes Programm ist aber die Herausbildung von politischem Selbstbewusstsein.

* Aus: neues deutschland, 05. Dezember 2011


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