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Spanien steht vor Rechtsruck

Regierung verbietet Proteste / Regionalwahlen: Baskenland erwartet Stärkung der Linken

Von Ralf Streck, San Sebastian *

Nach tagelangen friedlichen Protesten hat Spaniens zentrale Wahlbehörde ein Demonstrationsverbot verhängt. Danach müssten am Wahlwochenende alle Kundgebungen verboten und die Protestcamps in rund 60 Städten aufgelöst werden. Am Sonntag (22. Mai) werden in 13 von 17 Regionen die Parlamente gewählt, es wird mit einem Rechtsruck gerechnet.

Zu dem erwarteten Ergebnis wird auch die Bewegung »Wahre Demokratie Jetzt« beitragen. Seit Sonntag protestieren Zehntausende gegen die dramatische wirtschaftliche und soziale Situation im Land. Für die Misere macht die Demokratiebewegung neben der regierenden PSOE auch die oppositionelle rechte Volkspartei (PP) verantwortlich. Sie ruft die Wähler auf, keiner dieser Parteien ihre Stimme zu geben, und spricht von einer »Zweiparteiendiktatur der PPSOE«, einer Wahl zwischen Pest und Cholera. Nachdruck verleiht die Demokratiebewegung der Forderung nach grundlegenden demokratischen und sozialen Reformen mit der Besetzung von zentralen Plätzen beispielsweise in der Hauptstadt Madrid.

Damit kommt die PSOE weiter unter Druck. Ihrer Kampagne, sich als kleineres Übel gegenüber den Ultrakonservativen darzustellen, wird auf der Straße eine Abfuhr erteilt. In vielen Regionen und Städten wird sich das Szenario wiederholen, das sich schon bei den Regionalwahlen im Herbst 2010 in Katalonien abgespielt hat: Der PSOE-Regierungschef wurde aus dem Amt gejagt, die Partei steckte die heftigste Wahlschlappe seit dem Ende der Franco-Diktatur 1975 ein.

Die Regional- und Kommunalwahlen gelten als wichtiger Test für die Parlamentswahlen 2012. Allgemein wird ein Rechtsruck erwartet – mit einer Ausnahme: Im autonomen Baskenland wird eine Linkswende vorausgesagt, nachdem das von der Regierung angestrengte Verbot der linksnationalistischen Koalition »Bildu« (Sammeln) vom Verfassungsgericht kassiert wurde.

Spanien steckt seit vier Jahren tief in der Wirtschafts- und Finanzkrise. Deutlichster Ausdruck ist die Zahl von fünf Millionen Arbeitslosen. Die Quote von über 21 Prozent ist Europarekord. In 1,4 Millionen Familien sind alle Mitglieder ohne Job. Wer keine neue Beschäftigung findet, steht nach dem Ende des Arbeitslosengeldbezugs schnell vor dem Nichts. Betroffene erhalten für sechs Monate noch 400 Euro monatlich, danach bleibt Betteln, Schwarzarbeit oder Diebstahl. Das gilt schon für etwa eine Million Menschen, die oft auch ihre Wohnung verloren haben, weil sie die Hypotheken nicht mehr bezahlen konnten.

Dass die Protestierenden in Madrid, Barcelona, Valencia, Bilbao, Santiago de Compostela und anderen Städten »ohne Job, ohne Wohnung, ohne Pension und ohne Angst« auf die Straße gehen, zeigt die Enttäuschung über die Sozialisten. Die haben in der Krise versagt und den einfachen Leuten durch das Streichen von Sozialleistungen, durch Lohnkürzungen für den öffentlichen Dienst und das Einfrieren der Renten die Kosten der Bankenrettungen aufgeladen.

In einer weitgehend entpolitisierten Gesellschaft verfängt die Propaganda der konservativen Volkspartei PP durchaus. Die spielt sich plötzlich als Verfechter sozialer Rechte auf und führt an, dass unter ihrer Regierung bis 2004 die Arbeitslosigkeit abgebaut worden sei. Das stimmt sogar, war aber auf den Bauboom zurückzuführen, der eine Immobilienblase verursachte und damit zur Grundlage für die jetzige Misere wurde. Die PP unter ihrem damaligen Chef José Maria Aznar hatte nie mit Sozialpolitik geglänzt.

Trotz allem wird ihr in den Umfragen ein grandioser Sieg prophezeit. Sie könnte nicht nur ihre alten Bastionen halten, sondern auch in die angestammten Hochburgen der PSOE einbrechen. Erwartet wird, dass sie das Gebiet des Don Quijote – Castilla-La Mancha – übernimmt und auch die Extremadura gewinnen könnte, wo die PSOE seit 1982 ununterbrochen regiert. In Metropolen wie Barcelona oder Sevilla drohen die Sozialisten ebenfalls ihre Mehrheit zu verlieren.

Dass die neue starke Demokratiebewegung PSOE und PP gleichsetzt, hat nicht nur damit zu tun, dass sich beide Parteien in ihrer Politik kaum noch unterscheiden. Dazu kommt, dass sie im Baskenland seit zwei Jahren gemeinsam als spanische Front regieren, weil die Parteien der linken Unabhängigkeitsbewegung verboten wurden. Das ist nun anders, denn die baskische Linke tritt vereint in der Koalition Bildu an. Die durch Aussperrung der Linken bislang verzerrte Zusammensetzung der Gemeinde- und Provinzparlamente könnte dadurch bereinigt werden.

Die junge Protestbewegung jedenfalls zeigt sich unbeugsam. Trotz des Verbots der Wahlbehörde will sie die Kundgebungen gegen die Wirtschaftskrise und die hohe Arbeitslosigkeit auch am Wochenende fortsetzen, wie die Aktivisten auf Versammlungen in verschiedenen Städten beschlossen haben. Sollte die Polizei die rund 60 Protestcamps im ganzen Land räumen wollen, werde »passiver Widerstand« geleistet, so ein Sprecher der Bewegung »Echte Demokratie Jetzt!« am Freitag in Madrid. Gewalt lehnte er entschieden ab.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Mai 2011


Aufstand der Empörten

Trotz Versammlungsverbot: Überall in Spanien besetzen Zehntausende Menschen die zentralen Plätze der Städte

Von Florian Osuch, Barcelona **


Dem spanischen Staat steht ein heißes Wochenende bevor. Neben zahlreichen Kommunal- und Regionalwahlen wird für Samstag der vorläufige Höhepunkt einer inzwischen weltweit beachteten Protestbewegung erwartet. Diese hat längst das ganze Land erfaßt. Trotz verhängter Versammlungsverbote wurden in rund 80 Städten Protestcamps errichtet. Im Fokus stehen insbesondere die seit mehreren Tagen bestehenden Zeltlager an der Puerta del Sol in Madrid und auf der Plaça Catalunya in Barcelona. Demonstriert wird jedoch in allen Regionen des spanischen Staatsgebietes, vom Baskenland bis nach Andalusien, von Galizien bis ins abgelegene Extremadura, und auch auf den Ferieninseln Mallorca, Ibiza und den Kanaren.

Verbot ab Mitternacht

Das von den Richtern der Junta Electoral Central, der zentralen Wahlbehörde in Madrid, verhängte allgemeine Versammlungsverbot hat zumindest in Barcelona am Freitag die Proteste weiter verstärkt. »Das Verbot gilt ab Samstag morgen um null Uhr. Deshalb ist es wichtig, daß wir am Abend ganz viele sind«, äußerte eine junge Frau am Freitag gegenüber junge Welt. Erneut fanden am Abend wieder landesweit Caceroladas statt, das gemeinsame lautstarke Krachmachen mit Kochlöffeln und Topfdeckeln. Das mit Verzögerung einsetzende weltweite Medienecho sorgte für weitere Motivation der Protestierenden, die sich insbesondere gegen die nach ihrer Ansicht korrupte politische Klasse richten. »Ihr vertretet uns nicht«, ist der allgegenwärtige Slogan. Gemeint sind vor allem die beiden Großparteien, die sozialdemokratische PSOE, die mit José Luis Zapatero seit mehreren Jahren den Ministerpräsidenten stellt, und die rechte PP. Dieses durch das Wahlrecht zementierte faktische Zweiparteiensystem wird von den Demonstranten als undemokratisch empfunden. Ohnehin wird die etablierte Politik allgemein als korrupt empfunden. »Egal was du wählst, sie verarschen dich genauso«, stand etwa am Freitag auf einem Transparent in Madrid. Doch längst sind auf Plakaten und Transparenten auch Slogans gegen die großen Gewerkschaftsverbände CC.OO und UGT aufgetaucht, die als Anhängsel der herrschenden Klasse wahrgenommen werden. Kritisiert und verulkt werden auch die Medienanstalten, die meist am Tropf multinationaler Konzerne hängen, sowie Banker und Spekulanten.

Die Empörung richtet sich auch gegen die undurchsichtigen Verfilzungen von Politik, Banken, Finanz- und Immobilienwirtschaft sowie der Bauindustrie. Es ist nicht ungewöhnlich, daß Politiker auch Inhaber oder Teilhaber von Banken, Immobilien- oder Baukonzernen sind und sich den Zuschlag für lukrative Bau- und Prestigeprojekte selbst geben. Daher lautet eine der Hauptforderungen der Protestierenden, bei der Wahl am Sonntag keine Liste zu unterstützen, auf denen Kandidaten zu finden sind, gegen die wegen Korruption ermittelt wird. Dies ist Medienberichten zufolge jedoch bei über 260 Kandidaten der PP, der PSOE sowie kleinerer Parteien der Fall.

Von zahlreichen bürgerlichen Medien zunächst als »Antisistemas«, als radikale Systemgegner, diskreditiert, wurde im Lauf der Woche deutlich, daß sich auf den Plätzen Personen allen Alters und aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten treffen. Entgegen der Berichterstattung einiger auch deutscher Medien sind es nicht vor allem »exzellent ausgebildete Kinder des Bürgertums«, wie etwa die Süddeutsche Zeitung schrieb. Die Bewegung besteht vielmehr aus Erwerbslosen, Rentnern Studierenden, Schülern sowie Männern und Frauen, die um ihre Jobs fürchten. »Es kommen auch auffällig viele Ruheständler gemeinsam mit ihren Söhnen und Töchtern oder Enkeln«, stellte ein junger Mann auf dem Plaça Catalunya in Barcelona fest, der gerade ein Plakat aufhängte.

Euphorische Stimmung

Unter den Aktiven herrscht eine euphorische Stimmung. Die Unterstützung ist groß. Die großen Camps sind inzwischen auch recht gut in basisdemokratischen Strukturen organisiert. Es gibt Arbeitsgruppen, die sich um die Organisation, Verpflegung oder Kultur kümmern. Mitmachen kann jeder. In Barcelona wurden Grundsatzfragen zuletzt in nächtlichen Großplena mit bis zu 2000 Beteiligten diskutiert. Eine langjährige Aktivistin der autonomen Szene in der katalanischen Hauptstadt sagte gegenüber jW, es seien viele Leute dabei, die bisher noch keine Berührungspunkte mit Politik gehabt hätten, sich nun jedoch engagieren.

Die spanische Bevölkerung ist in besonderer Weise von der Wirtschafts- und Finanzkrise betroffen, insbesondere nachdem der Immobilienmarkt kollabierte. Die Arbeitslosigkeit hat offiziellen Angaben zufolge mit 21,3 Prozent den höchsten Stand seit 35 Jahren erreicht, rund fünf Millionen Menschen sind von ihr betroffen. Ein besonders dramatisches Ausmaß hat jedoch die Jugendarbeitslosigkeit angenommen, die nach Angaben des Nationalen Instituts für Statistik bei den bis 25 Jahre alten Menschen bei über 40 Prozent liegt. In zahlreichen Arbeitervororten von Madrid, Sevilla oder Barcelona liegen die Zahlen sogar noch darüber.

** Aus: junge Welt, 21. Mai 2011


¡No Pasarán!

Von André Scheer ***

Die spanische Demokratiebewegung will ein für das gesamte Wochenende verhängtes Demonstrationsverbot ignorieren und ihre Proteste fortsetzen. Am Donnerstag abend hatte die Junta Electoral Central, die oberste Wahlbehörde des Landes, verfügt, daß in der sogenannten Ruhezeit vor den am Sonntag stattfindenden Kommunal- und Regionalwahlen keine Demonstrationen und Kundgebungen stattfinden dürfen. Damit widersprach die Zentralbehörde anderslautenden Entscheidungen regionaler Behörden, die in den vergangenen Tagen teilweise Kundgebungen genehmigt hatten, während in Madrid und anderen Städten Verbote verhängt wurden. Bereits diese waren von Zehntausenden Menschen durchbrochen worden.

Die linke Opposition kritisierte die Behinderung der Proteste scharf. Der Europaparlamentarier der Vereinigten Linken (IU), Willy Meyer, sprach von einem »versteckten Ausnahmezustand«, den die Wahlbehörde mit ihrer Entscheidung verhängt habe. Bei den Protesten handele es sich nicht um Wahlveranstaltungen, sondern um die Demonstration von Unzufriedenheit und Empörung der spanischen Bevölkerung angesichts ihrer sozialen Situation und der undemokratischen Entwicklung im Land. IU-Chefkoordinator Cayo Lara schlug vor, am Sonntag auch die katholischen Messen zu verbieten, denn diese könnten ebenfalls auf die Wahlentscheidung der Gläubigen Einfluß nehmen. Seine Organisation reichte am Freitag beim Obersten Gerichtshof Klage gegen das Verbot ein. Eine Entscheidung lag bis jW-Redaktionsschluß nicht vor. Das spanische Verfassungsgericht hatte in der Vergangenheit mehrfach Demonstrationsverbote vor Wahlen für unrechtmäßig erklärt, dies jedoch immer erst im nachhinein getan.

Unter den Demonstranten wurde deshalb am Freitag eifrig diskutiert, wie das Verbot umgangen werden kann. In Madrid kündigten die an der Puerta del Sol im Zentrum der spanischen Hauptstadt ausharrenden Menschen an, kurz nach Mitternacht – dem Beginn des Verbotszeitraums – gegen die Entscheidung der Behörde zu protestieren. Die Teilnehmer sollten mit Mundbinden die Verletzung der Meinungsfreiheit symbolisieren. Auf ein Megaphonsignal um 0.05 Uhr hin sollten dann alle die Knebel abnehmen und einen »stummen Schrei in den Himmel« ausbringen.

Ein von Tausenden Menschen besuchtes Plenum der Protestierenden hatte am Freitag mittag beschlossen, trotz des Verbots am Sonnabend zu demonstrieren. Sprecher der Bewegung erklärten daraufhin, es gäbe zwar keinen offiziellen Demonstrationsaufruf, es werde aber schwer sein, »die Leute daran zu hindern, zur Puerta del Sol zu kommen«.

Die spanische Regierung ließ zunächst offen, ob sie das Demonstrationsverbot durchsetzen werde. Während Ministerpräsident Zapatero sich überzeugt zeigte, daß die Behörden »klug, gut und richtig handeln« würden, erklärte Innenminister Alfredo Pérez Rubalcaba, die Polizei werde »das Gesetz durchsetzen«. Er vermied jedoch eine konkrete Aussage, ob dies eine Räumung der Plätze bedeute. Die katalanische Regierung kündigte hingegen indirekt an, die Plaça Catalunya im Zentrum Barcelonas und andere Protestcamps in der autonomen Region nur dann zu räumen, wenn es dort zu Zwischenfälle kommen sollte.

*** Aus: junge Welt, 21. Mai 2011


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