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Bis sich etwas ändert

Die spanische Protestbewegung will weitermachen, bis Ergebnisse sichtbar werden

Von Elli Rötzer, Málaga *

Die Protestbewegung »15 de Mayo« wird weiter die Plätze in Spanien besetzen. Das haben Versammlungen in mehreren Städten am Wochenende beschlossen. Am Freitag (27. Mai) hatte die Polizei mit Schlagstöcken versucht, die Plaza de Cataluña in Barcelona zu räumen. Bei der sechsstündigen Aktion wurden 121 Menschen verletzt, darunter 37 Polizisten. Doch die Protestler ließen sich nicht vertreiben. Und anschließend strömten Tausende von Sympathisanten auf den Platz, um gegen die Polizeiaktion zu demonstrieren.

Die Vertreter einiger katalanischer Parteien forderten am Samstag (28. Mai) den katalanischen Regierungschef Felip Puig zum Rücktritt auf. »Der Einsatz der Polizei war nicht angemessen, absurd, schlecht geplant und bedauerlich«, sagte ein Vertreter der kommunistischen Partei Esquerra Unida. Auch auf den spanischen Plätzen wurde in Sprechchören immer wieder der Rücktritt von Puig gefordert. Dieser erklärte, die Räumung wegen des Champions-League-Finales FC Barcelona–Manchester United am Samstag angeordnet zu haben. »Falls Barça gewinnt, könnte die Situation eskalieren«, rechtfertigte sich Puig.

Am Wochenende diskutierten die Protestler über ein Manifest, in dem sie ihre Forderungen formulieren wollen. Erstens will die Bewegung die Reform des spanischen Wahlsystems. Kleinere Parteien sollen einfacher ins Parlament einziehen können. Zweitens soll die Politik transparenter werden, um Korruption zu verhindern. Drittens soll die Gewaltenteilung streng eingehalten werden. Und viertens sollen Instanzen geschaffen werden, mit denen die Bürger die Politiker kontrollieren können.

»Wir wollen solange bleiben, bis wir ein Zeichen sehen, daß sich etwas ändert«, sagt ein junger Mann in Madrid, wo am Sonntag (29. Mai) erneut Tausende Menschen auf der zentralen Plaza de Sol demonstrierten. Nicht nur in der Hauptstadt, auch in der Provinz geht es weiter. In Málaga campt die 32jährige Leo Jiménez seit zwei Wochen mit rund hundert Leuten. Auch hier wollen die Protestler so lange bleiben, »bis sich abzeichnet, daß wir ernst genommen werden«.

Die Proteste begannen vor zwei Wochen in Valencia, Anlaß waren die Kommunal- und Regionalwahlen. Die jungen Leute fühlen sich von den Parteien nicht repräsentiert. »Sie machen nichts, um die Probleme unseres Landes zu lösen«, sagt Leo Jiménez. »Die Politiker wälzen alle Verantwortung auf uns ab: wir müssen mehr Steuern zahlen, weniger Kündigungsschutz akzeptieren und ohne Job leben«.

Trotz abgeschlossenen Studiums finden viele junge Spanier keine Arbeit. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei fast 40 Prozent. Wer doch einen Job findet, schafft es mit dem Gehalt meist nicht, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen. Die Dokumentarfilmerin Leo Jiménez zum Beispiel schloß ihr Studium vor acht Jahren ab und verdiente nie mehr als tausend Euro im Monat – obwohl sie eine Vollzeitstelle hatte. Derzeit ist sie arbeitslos.

* Aus: junge Welt, 30. Mai 2011


Spanien sagt "Basta!"

Seit zwei Wochen protestieren Jung und Alt im ganzen Land gegen die Herrschenden

Von André Scheer/Florian Osuch **


Spaniens Jugend rebelliert, und mit ihr Rentner, Erwerbslose und viele andere. Auf den Plätzen der spanischen Großstädte versammeln sich seit zwei Wochen Tausende, haben Zeltlager errichtet und machen keine Anstalten, wieder nach Hause zu gehen. Mindestens bis Sonntag, so der Konsens der Demonstranten, sollen die Camps aufrechterhalten werden. Ob es danach weitergeht oder sich die Formen des Protestes ändern, soll gemeinsam entschieden werden.

Auf vier Forderungen haben sich die an der Puerta del Sol im Zentrum Madrids ausharrenden Menschen geeinigt. Dazu gehört eine Wahlrechtsreform, die eine tatsächlich repräsentative Demokratie ermöglichen soll. Bislang bevorzugt das spanische Wahlrecht die großen Parteien, während kleinere Formationen benachteiligt werden. Weiter fordert das Protestcamp in Madrid einen wirksamen Kampf gegen die Korruption und für politische Transparenz sowie eine tatsächliche Gewaltenteilung. Schließlich sollen Möglichkeiten für die Bürger geschaffen werden, das Handeln der Politiker tatsächlich überprüfen und diese an ihre Verantwortung erinnern zu können.

Der Erfolg der Bewegung kam für alle Seiten überraschend. An ihrem Beginn standen am 15. Mai Demonstrationen in einem halben hundert spanischer Städte, an denen sich insgesamt über 165000 Menschen beteiligten – spontan und über das Internet mobilisiert. In Madrid weigerte sich eine zunächst kleine Gruppe von Teilnehmern, nach Abschluß der Demonstration nach Hause zu gehen und beschloß, im Stadtzentrum zu übernachten. Am 17. Mai räumte die Polizei in den frühen Morgenstunden den Platz. Doch schon wenige Stunden später strömten über 17000 Menschen an die Puerta del Sol, um gegen die Polizeigewalt zu protestieren. Die Staatsmacht hatte den Tropfen geliefert, der das Faß endgültig zum Überlaufen brachte. Auch ein landesweites Demonstrationsverbot am vergangenen Wochenende konnte die Bewegung nicht mehr aufhalten. Die Welle dehnte sich aus – auf die Plaça Catalunya in Barcelona, die Plaza de la Constitución in Málaga, die Plaza de España in Palma de Mallorca oder die Plaza de la Encarnación in Sevilla und in Dutzende weitere Städte des Landes. Kommuniziert und koordiniert wird über das Internet, per Video werden die Ereignisse live in alle Welt übertragen, und Europa schaut hin: In Berlin und anderen deutschen Städten gingen Hunderte aus Solidarität auf die Straße, in Italien wird bereits für die »Italian Revolution« mobilisiert, und selbst die demonstrationserfahrenen Griechen lassen sich von den Spaniern noch einmal anfeuern.

Andre Scheer


Überfall am frühen Morgen

Polizei räumt Protestcamp in Barcelona. Besetzer erobern Platz zurück

In Barcelona hat die katalanische Polizei am Freitag vorübergehend die seit fast zwei Wochen von der Demokratiebewegung besetzte Plaça Catalunya geräumt. Auch ein Camp in der katalanischen Stadt Lleida wurde gewaltsam aufgelöst.

Wieder hatten rund 400 Menschen die Nacht auf dem Platz im Zentrum der katalanischen Hauptstadt verbracht, wo sie ihr Protestcamp errichtet hatten. Die Besetzer des Platzes wehrten sich nicht gewaltsam, als die Beamten mit der Räumung begannen, sondern setzten sich auf den Boden und hoben die Hände. Trotzdem wurden nach Angaben der katalanischen Behörden mindestens 87 Personen verletzt, darunter auch zwei Polizisten.

Die Behörden erklärten, es habe sich nicht um eine Räumung, sondern um eine »Säuberung aus hygienischen Gründen« im Vorfeld des Endspiels der Champions League am Samstag gehandelt. Mehrere zehntausend Fußballanhänger werden in der Innenstadt erwartet, falls der FC Barcelona am Samstag in London das Endspiel gegen Manchester United gewinnt. Nachdem die Polizei den Platz unter Einsatz von Knüppeln und Gummigeschossen geräumt hatte, folgte ein Trupp der Stadtreinigung. Zelte, Infrastruktur des Camps und persönliche Gegenstände der Protestierenden wurde zerstört oder von der Polizei beschlagnahmt.

Die Nachricht von der Räumung verbreitete sich umgehend im Internet. Über Twitter verfolgten Protestierende in anderen Camps die Geschehnisse. Gegen Mittag jedoch gelang es den »Empörten«, wie die Unterstützer der Demokratiebewegung in Spanien genannt werden, den Platz zurückzuerobern. Während sich die Polizisten zurückzogen, strömten Tausende Menschen auf den Platz. Aus der ganzen Stadt waren sie spontan in das Zentrum geeilt, um gegen das Vorgehen der Polizei zu protestieren. Für 19 Uhr war eine Großkundgebung auf der Plaça Catalunya angekündigt. Beobachter erwarten, daß die zeitweilige Räumung der Bewegung einen neuen Schub gibt und am Wochenende noch mehr Leute zu den Protestcamps in allen Teilen des spanischen Staates treibt.

Nachdem der Platz wieder in der Hand der Besetzer war, wurde umgehend mit dem Wiederaufbau des Camps begonnen. Da die Polizisten Computer, Mikrofone und Einrichtungsgegenstände beschlagnahmt hatten, riefen die Sprecher über Internet auf: »Jetzt brauchen wir wieder offene Zelte, Tische und Verpflegung«. Zugleich freuten sie sich über den Erfolg: »Sie fürchten sich vor uns«.

In Madrid forderte unterdessen die rechte Volkspartei (PP) vom spanischen Innenministerium, auch das Protestcamp an der Puerta del Sol in der spanischen Hauptstadt aufzulösen. Francisco Granados, der in der Stadtregierung für Inneres und Justiz zuständig ist, sieht dabei den Verband der Gewerbetreibenden auf seiner Seite. Die Geschäfte in der Innenstadt würden Umsatzeinbußen erleiden, so der PP-Politiker.

Florian Osuch

*** Aus: junge Welt, 28. Mai 2011


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