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Sozialistische Ex-Stadträtin springt in den Tod

Jetzt soll in Spanien die ausufernde Zahl der Zwangsräumungen eingedämmt werden

Von Ralf Streck, San Sebastian *

In Spanien hat die Zwangsräumung einer Wohnung am Wochenende einen Menschen in den Tod getrieben. In Barakaldo stürzte sich eine ehemalige sozialistische Stadträtin aus dem vierten Stock in die Tiefe. Daraufhin haben baskische Banken die Zwangsräumungen ausgesetzt. Regierung und Opposition wollen sich heute über ein Eilverfahren verständigen.

Madrid steht unter Druck. Auch Juliane Kokott, die Generalanwältin am Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), hält die spanische Gesetzgebung zu Zwangsräumungen für illegal, weil sie missbräuchliche Klauseln enthalte, die gegen Verbraucherrechte verstoßen, heißt es in ihrer Stellungnahme zu einer entsprechenden Klage. Und fast immer folgt der Gerichtshof im Urteil der Rechtsauffassung des Generalanwalts. Seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 wurden in Spanien mehr als 400 000 Räumungsverfahren eingeleitet, weil Familien wegen der extremen Arbeitslosigkeit von fast 26 Prozent ihre Hypotheken nicht mehr bedienen können. In etwa 350 000 Fällen kam es schon zu Zwangsräumungen. Derzeit werden täglich 532 Familien aus ihren Wohnungen geworfen. Unlängst hat sich in Granada ein Zeitungsverkäufer kurz vor der Räumung seiner Wohnung erhängt. In der Gegend von Valencia sprang ein Mann vom Balkon in die Tiefe, als das Räumkommando anrückte.

Der EuGH-Kläger aus Barcelona hatte 2007 bei der Sparkasse CatalunyaCaixa eine Hypothek in Höhe von 138 000 Euro aufgenommen und wurde im Vorjahr geräumt. Er sitzt nach der Zwangsversteigerung auf einer Restschuld von 40 000 Euro. Auch in seinem Fall übernahm das Kreditinstitut die Wohnung zu 50 Prozent des Ursprungswerts, weil niemand sie wollte. Die Bank hatte gefordert, den Wert der Wohnung taxieren zu lassen und auf Basis dieser Wertfeststellung den Kredit vergeben. Gegen diese Praxis läuft die Plattform der Hypothekenbetroffenen (PAH) seit vier Jahren Sturm, denn Finanzinstitute schieben so jede Verantwortung an die Verbraucher ab. Darin sieht auch Generalanwältin Kokott ein Problem. Die Verbraucher seien »schutzlos«, denn sie verfügten praktisch über keine »effizienten Rechtsmittel«, um gegen »missbräuchliche Klauseln« vorzugehen, »die zur Zwangsversteigerung, dem Verlust des Eigentums und der Räumung« führten.

Die Betroffenen sind zudem empört darüber, dass auch Institute, die wie die beklagte CatalunyaCaixa oder die große Bankia-Bank mit Steuermilliarden gerettet werden, viele Familien auf die Straße setzen. Während Banken weich fielen, gebe es für die Menschen keine Rettungsnetze, kritisierte der Madrider PAH- Sprecher Oscar Chavez. Folgt der EuGH der Auffassung der Generalanwältin, wären zahllose Familien illegal geräumt worden. Das könnte auch dazu führen, dass Banken auf ihre Restschuldforderungen verzichten müssen. Die Finanzlöcher in ihren Bilanzen würden größer. Schon jetzt brauchen sie mindestens 40 Milliarden Euro aus dem EU-Rettungsfonds, um nicht Pleite zu gehen.

Die PAH fühlt sich mit der Nachricht aus Luxemburg auch in ihrer Kritik an der Vereinbarung zwischen Regierung und Sozialisten bestätigt. Vizeministerpräsidentin Soraya Sáenz de Santamaría hat sich mit der Opposition darauf verständigt, gemeinsam im Eilverfahren die Zahl der Zwangsräumungen einzudämmen. Es soll eine Expertenkommission eingerichtet werden, die alle Vorschläge »schnellstens« prüft. Priorität müssten besonders schutzbedürftige Familien mit Kindern und alte Menschen haben.

Die Plattform wirft der PSOE, die als Regierungspartei bis Ende 2011 nichts gegen das soziale Drama unternahm, und der nun regierenden konservativen Volkspartei (PP) vor, »das Leben von unzähligen Familien zerstört« zu haben. Kritisiert wird auch, dass geräumte Wohnungen meist leer stünden. Weder PP noch PSOE hätten jemals Kontakt zu den Betroffenen gesucht, um über Lösungen zu reden, und grenzten alle übrigen Parteien aus.

Dass in Madrid überhaupt etwas in Bewegung gekommen ist, sehen die Betroffenen nicht zuletzt als Folge ihrer Proteste, mit denen Räumungen immer wieder verhindert werden. Doch befürchtet die PAH auch, dass ihre Volksinitiative unterlaufen werden soll. Bis Ende Januar werden 500 000 Unterschriften gesammelt, um einen Gesetzesentwurf erneut ins Parlament einzubringen. Er sieht unter anderem eine Sozialmiete vor, damit Familien in ihrer Wohnung bleiben können, selbst wenn sie die Kredite nicht mehr abzahlen können. Diese Miete dürfe 30 Prozent des Familieneinkommens nicht übersteigen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 12. November 2012


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