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"Ich werde springen"

Nach Selbstmorden und Protesten verabschiedet Spanien ein Räumungsmoratorium

Von Ralf Streck, San Sebastian *

In Spanien können immer mehr Wohnungseigentümer ihre Hypothek nicht mehr bedienen. 350 000 Zwangsräumungen wurden seit 2008 angeordnet. Drei Betroffene brachten sich binnen eines Monats vor Verzweiflung um. Erst am Freitagmorgen war in Cordoba im Süden des Landes ein 50- Jähriger in den Tod gesprungen.

Rafa Sánchez kann aufatmen. Im letzten Moment wurde die »Räumung « des Basken am vergangenen Donnerstag gestoppt. Während der 44-Jährige in seiner Wohnung in Lasarte bleiben kann, sprang schon am Tag darauf im südspanischen Cordoba ein 50- Jähriger, als die Polizei kam, aus Verzweiflung in den Tod. »Ich werde springen«, hatte er noch gewarnt. Er stürzte sich an dem Tag aus dem Fenster, als ein Dekret der konservativen Regierung wirksam wurde, das die schlimmsten Folgen der Immobilienkrise lindern soll.Täglich gibt es in Spanien etwa 530 Zwangsräumungen.

Sánchez erzählt den Mitstreitern im baskischen Donostia-San Sebastian von der unerwarteten Wendung. Die Ortsgruppe von »Stopp Desahucios« (Stopp Zwangsräumungen) trifft sich stets im Kulturzentrum »Craj« am Fußballstadion. Der Vater zweier Mädchen im Alter von neun und zwölf Jahren kommt zu spät zum Treffen, auf dem gerade über die Beteiligung am Generalstreik gesprochen wird. Seine frohe Botschaft zeichnet sich in hochgezogenen Winkeln um seinen von grauen Bartstoppeln umrahmten Mund ab. Er hatte sich mit Frau und Kindern schon auf der Straße gesehen. Nun hat er Zeit gewonnen. Die Sparkasse »Caja Rural« war plötzlich bereit, die Familie zur Miete in der Wohnung zu lassen, die der Bank per Zwangsversteigerung zugefallen war. »Der Druck von Stopp Desahucios und das Eingreifen des Bürgermeisters haben die Wende gebracht «, sagt der blonde Mann. Doch er sitzt weiter auf einem Schuldenberg. Die Bank übernahm seine Wohnung nur zur Hälfte des einstigen Schätzwerts. Die Restschuld fordert sie weiter ein. »Sie hat auch die Wohnung meiner Eltern kassiert, die für unseren Kredit gebürgt haben.« Auch ihnen droht Räumung. Zum Glück lebt Sánchez in einer Stadt, die nun von Bildu regiert wird. Die Partei der linken Unabhängigkeitsbewegung ist in der Provinz Gipuzkoa nach langen Jahren des Verbots stärkste politische Kraft und unterstützt die Betroffenen.

Im Baskenland wurden in vier Krisenjahren fast 400 000 Familien aus ihren Wohnungen geworfen. Über weiteren 400 000 schwebt das Damoklesschwert. Viele Spanier können bei einer Arbeitslosigkeit von 26 Prozent ihre Kredite nicht mehr abzahlen. Erst der Fall der ehemaligen sozialistischen Stadträtin Amaia Egaña, die kürzlich bei Bilbao während der Räumung aus dem Fenster sprang, brachte die rechte Volkspartei (PP) dazu, sich mit den oppositionellen Sozialisten (PSOE) zusammenzusetzen, weil beiden eine Welle der Empörung entgegenschlug.

Mikel Sánchez befürchtet, dies sei nicht der erste und werde wohl auch nicht der letzte Selbstmord sein. Im Baskenland habe es bisher wenige Räumungen gegeben, kaum eine Immobilienblase, und die Arbeitslosigkeit sei so niedrig wie sonst nirgends im Staat, sagt der Sprecher von Stopp Desahucios. Doch auch hier wurden Ortsgruppen zur Unterstützung von Betroffenen gegründet. Die Wohnungsfrage sei ein zentrales Arbeitsfeld der Bewegung der Empörten geworden. Aber auch hier werde das Thema zunehmend virulent. Täglich werden 18 Räumungsbefehle ausgestellt, drei davon in Gipuzkoa. »Bisher konnte hier noch keine Zwangsräumung umgesetzt werden«, erklärte Sánchez. Das sei auch der Tatsache geschuldet, dass sich Betroffene organisierten. Darin ist er sich mit Lorena Benitez, Igone Aldarreria, Aima Txukarru und den übrigen einig, die mit ihm am Tisch sitzen.

»Als ich allein versuchte, mit der Bank zu verhandeln, passierte nichts«, sagt Txukarru. »Heute zittern sie regelrecht, wenn wir mit der Truppe kommen.« Auch sie dachte aus Verzweiflung an Selbstmord, bevor sie sich an die Gruppe wandte. Die blonde Ex-Unternehmerin gibt sich die Schuld daran, dass auch ihren Eltern Räumung droht. Für einen Kredit, mit dem sie ihre Firma startete, bürgen diese mit ihrer Wohnung. Die Firma ging pleite und die Bank wolle sich die Wohnung der alten Leute unter den Nagel reißen, sagt sie. »Ich könnte die Bank anzünden«, meint Benitez wütend. Sie hatte ebenfalls die Erfahrung gemacht, dass niemand dort mit ihr sprechen wollte. »Nach der Verzweiflung kommt die Wut«, nickt Txukarru.

Vom Dialog der Parteien, die für das Drama von Hunderttausenden verantwortlich sind, erwarten sie nichts. Sieben Jahre lang habe die PSOE bis vor einem Jahr regiert und alles für die Banken, aber nichts für die Betroffenen getan. Die PSOE hat sich nun zwar entschuldigt, dass unter ihrer Ägide gut 300 000 Räumungen stattfanden, doch die Zweifel sind groß. »Es ist leicht, das in der Opposition zu sagen«, meint Sánchez.

Am vergangenen Donnerstag verabschiedeten die Konservativen unter Premier Mariano Rajoy eilig ein Dekret, um vor den Wahlen am 25. November in dem nach Unabhängigkeit strebenden Katalonien Stimmen zu gewinnen. Es sieht Mietwohnungen für geräumte Familien vor, für wie viele und mit welchen Mieten, bleibt unklar. Verschont werden soll allerdings nur ein Teil derer, deren Räumungsverfahren noch nicht »gestartet « wurde; ausgesetzt werden soll es nur bei Haushalten mit einem Einkommen unter 1600 Euro monatlich, bei Großfamilien, Alleinerziehenden mit zwei Kindern, Behinderten und Arbeitslosen ohne Ansprüche auf Leistungen. Die Baskin Egaña, die noch einen sicheren Job hatte, wäre durch die Maschen gefallen.

Für die Plattform der Hypothekenbetroffenen (PAH) folgt Rajoy damit lediglich den Banken, mit denen er im Frühjahr eine freiwillige Selbstverpflichtung vereinbart hatte. Sprecherin Ada Colau erklärte, dass sich nichts ändern werde. Fast alle Betroffenen, die ihre Kredite nicht mehr zahlen könnten und sich einer Räumungsgefahr aussetzten, seien Extremfälle. »Für sie alle muss das Moratorium gelten«, fordert Colau.

Rechtlich einklagbar sind die Vorgaben des Dekrets nicht, wie die Baskin Benitez erfuhr. Ein Richter hatte ihr erklärt, ihr Räumungsverfahren nicht stoppen zu können, weil dafür keine Rechtsgrundlage geschaffen worden sei. Die PAH und die Volksinitiative (ILP) wollen nun eine Gesetzesinitiative ins Parlament einbringen. Die Hypothekenschuld soll mit der Rückgabe der Immobilie an die Bank beglichen werden, wie es in den USA üblich sei. Eine Sozialmiete soll Betroffenen ermöglichen, in ihren Wohnungen zu bleiben, so der Sprecher von Stopp Desahucios. Sie soll 30 Prozent des Familieneinkommens nicht übersteigen. Es sei unhaltbar, wenn Banken, die mit Steuermilliarden gerettet werden, Familien räumen und unverkäufliche Wohnungen leer stehen lassen. Es gibt bereits 600 000 Unterschriften unter dem Antrag.

* Aus: neues deutschland, Montag, 19. November 2012


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