Madrid unmenschlich
Zwangsräumungen verletzen Bürgerrechte: Europäischer Gerichtshof erklärt spanische Gesetze für unzulässig
Von Carmela Negrete *
Ist das der Anfang vom Ende des Dramas in Spanien? Ein am Donnerstag veröffentlichtes Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gibt den Richtern in Spanien künftig mehr Macht gegenüber den Gesetzestexten, um Zwangsräumungen von Wohnungen zu stoppen. Nach Ansicht der Richter in Strasbourg verstoßen die spanischen Gesetze gegen eine EU-Direktive zum Schutz der Verbraucher gegen mißbräuchliche Vertragsklauseln. Die Juristen hatten einen Fall behandelt, in dem ein Schuldner auf Betreiben der Bank aus seinem Haus vertrieben worden war, jedoch zugleich auf seinen Schulden sitzenblieb. Der Fall war von einem Gericht in Barcelona nach Strasbourg weitergeleitet worden. Die Richter dort hatten festgestellt, daß es ihnen gemäß der spanischen Gesetzgebung nicht möglich war, eine Zwangsräumung vorsorglich auszusetzen, obwohl es Indizien für betrügerische Klauseln in dem zugrunde liegenden Vertrag gab. Zudem können die Banken Räumungsklagen ab dem ersten Monat betreiben, in dem ein Schuldner seine Hypothekenzinsen nicht bezahlt. Diese »Expreßräumungen« sowie die Tatsache, daß die betroffenen Familien trotz des Verlusts ihrer Wohnungen weiter auf oft mehreren hunderttausend Euro Schulden sitzenbleiben, haben die Richter nun für unvereinbar mit den EU-Normen erklärt.
Die Zahl der Zwangsräumungen in Spanien wird seit Beginn der Krise 2008 auf 400000 geschätzt. Der Staat bietet den davon betroffenen Familien keine Alternativen an, so daß sich viele gezwungen sehen, leerstehende Immobilien zu besetzen, um nicht auf der Straße zu stehen. Zugleich stehen geschätzt sechs Millionen Wohnungen in Spanien leer. Bei diesen handelt es sich zumeist um Neubauten, für die Spekulanten und Bauherren zu ihren Konditionen keine Abnehmer finden.
Doch es gibt Widerstand. Seit 2008 hat die Plattform der Hypothekenopfer (PAH) mehr als 500 Räumungen durch Protestaktionen verhindern können. Die Aktivisten des Bündnisses sammelten mehr als 1,5 Millionen Unterschriften für eine Volksinitiative, die nun im Parlament behandelt werden muß. Darin fordert die PAH eine Gesetzesänderung, durch die Schuldner, die ihre belastete Wohnung der Bank übergeben, von der Schuldenlast befreit sind. Zudem sollen den Betroffenen Unterkünfte zu bezahlbaren Sozialmieten angeboten werden. Abgeordnete, die sich einer solchen Regelung widersetzen, haben in den vergangenen Tagen zu Hause wiederholt Besuch von Aktivisten bekommen, die ihnen in den eigenen vier Wänden von ihren persönlichen Geschichten berichteten.
Die Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy bereitet zwar ein neues Gesetz über die Räumungen vor, will darin jedoch keine generelle Schuldenstreichung bei Verlust der Wohnung aufnehmen. Wie der rechte Regierungschef am Donnerstag sagte, könnte eine solche Regelung für Unsicherheit bei den Finanzinstituten sorgen, die daraufhin ihre Kreditbedingungen verschärfen könnten. Justizminister Alberto Ruiz Gallardón fügte eilig hinzu, daß die vom Europäischen Gerichtshof beanstandeten Punkte aber natürlich berücksichtigt würden.
Unterstützung für die Opfer von Banken und Regierung kommt hingegen zunehmend von den Feuerwehrleuten Spaniens. Angesichts der offensichtlichen Ungerechtigkeit haben sich zuletzt unter anderem in Galicien, Madrid, Katalonien, Asturien oder dem Baskenland Feuerwehrleute geweigert, Häuser, die geräumt werden sollten, aufzubrechen.
* Aus: junge Welt, Freitag, 15. März 2013
Zwangsräumungen illegal
EuGH: Spanische Verbraucher dürfen Banken nicht mehr schutzlos ausgeliefert sein
Von Ralf Streck, San Sebastian **
Fast pünktlich zum heutigen Weltverbrauchertag hat der Europäische Gerichtshof spanischen Bankkunden ein Geschenk gemacht. Er erklärte die Gesetze, auf deren Grundlage es rund 400 000 Zwangsräumungen von überschuldeten Kreditnehmern seit dem Krisenbeginn 2008 gegeben hat, für nicht mit EU-Recht vereinbar.
Das vernichtende Urteil gegen Spanien war absehbar. Schon im vergangenen November hatte Generalanwältin Juliane Kokott bei der Verhandlung am Europäischen Gerichtshof (EuGH) erklärt, dass die spanischen Hypothekengesetze gegen den im EU-Recht verankerten Verbraucherschutz verstoßen. Am Donnerstag folgten die EuGH-Richter in Luxemburg dieser Auffassung und erklärten diese Gesetze für illegal.
Der Kläger Mohammed Aziz war mit seiner Familie 2011 auf Antrag der Sparkasse CatalunyaCaixa aus seiner Wohnung in Martorell bei Barcelona vertrieben worden, weil er wegen Arbeitslosigkeit die Raten für ein Darlehen über 138 000 Euro nicht mehr gezahlt hatte. Er versuchte vor Gericht vergeblich, die Zwangsräumung anzufechten, weil er bestimmte Klauseln im Vertrag mit der Bank für missbräuchlich hielt. Aziz hilft das EuGH-Urteil aber nicht. Auch die Richter bedauern, dass der »irreversible Verlust der Wohnung« nicht vermieden werde. Hunderttausende Familien, denen eine Räumung droht, dürften nun aber Hoffnung schöpfen. Zuletzt wurden pro Tag durchschnittlich 500 Wohnungen, Garagen, Werkstätten oder Grundstücke geräumt.
Das Urteil ist ein harter Schlag ins Gesicht der konservativen Regierung, stellt aber auch den zuvor regierenden Sozialisten ein miserables Zeugnis aus. Auch sie hatten nichts gegen das soziale Drama unternommen, das etliche Menschen sogar in den Selbstmord trieb. »Es reicht«, heißt es im Urteil, dass Verbrauchern ein Schutz verwehrt wird, den die geltende EU-Richtlinie von 1993 garantieren soll. In Spanien sei es »unmöglich oder praktisch unmöglich«, eine Zwangsräumung zu stoppen, schreibt der EuGH. Selbst wenn der Kläger später Recht bekomme, ist eine Rückkehr in die Wohnung nahezu unmöglich. Betroffene Bürger hätten allenfalls die Möglichkeit, nachträglich eine Entschädigung zu verlangen, was als Schutz aber nicht ausreiche.
Nach Angaben der Vereinigung »Richter für Demokratie« muss nun das Verfahrensrecht komplett geändert werden. Justizminister Alberto Ruiz Gallardón kündigte an, die Regierung werde das Urteil »in allen Aspekten« umsetzen.
Eigentlich hätte sie das längst tun müssen. Viele fragen sich, ob Spanien noch ein Rechtsstaat ist, wenn selbst Gerichte eine von der Bank beantragte Räumung auch dann nicht bis zum Urteil aussetzen können, wenn begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verträge bestehen. Viele Spanier bringt es zudem auf die Palme, dass besonders oft Kreditinstitute räumen lassen, die gerade mit Steuermilliarden gerettet wurden.
Die Plattform der Hypothekengeschädigten (PAH) kritisiert auch, dass Banken die Wohnungen, die sich nicht versteigern lassen, nur für 50 Prozent des ursprünglichen Schätzwerts übernehmen. Der Schuldner bleibt, auch wenn er viele Jahre seinen Kredit abbezahlt hat, auf der Restschuld sitzen, die oft höher ist als der einst gewährte Kredit. Neben den Kosten der Zwangsversteigerung kommen hohe Verzugszinsen von bis zu 30 Prozent hinzu, die die Schulden extrem ansteigen lassen. Da es in Spanien keine gesetzlich geregelte Privatinsolvenz gibt, ist für Betroffene bis zum Lebensende jeder Neuanfang praktisch unmöglich.
Nachdem im Januar 1,5 Millionen Unterschriften für eine »Volksinitiative« übergeben wurden, berät das Parlament in Madrid derzeit über ein Gesetz, laut dem die Hypothek mit der Schlüsselübergabe an die Bank beglichen wird: so ist es etwa in den USA üblich. Die regierende Volkspartei (PP) will dies aber mit ihrer absoluten Mehrheit verhindern.
** Aus: neues deutschland, Freitag, 15. März 2013
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