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"Wir können nicht zurück"

Immer mehr junge Spanier müssen ihre Heimat verlassen, um im Ausland zu arbeiten. Jetzt beginnen sie, sich zu organisieren. Ein Gespräch mit Lara Hernández *


Lara Hernández ist Spanierin, 28 Jahre jung und lebt in Berlin, weil sie in ihrer Heimat trotz guter Ausbildung keine Arbeit finden konnte. Für Spaniens ­Vereinigte Linke (IU) kandidiert sie am 25. Mai auf dem zehnten Listenplatz für das ­Europaparlament.


Bis zum Beginn des EU-Wahlkampfs waren Sie »nur« eine weitere der »neuen Emigranten« in Deutschland. Was haben Sie hier erlebt?

Bevor ich nach Deutschland gekommen bin, habe ich in Madrid zwei Jahre lang beim Kaufhaus El Corte Inglés gearbeitet. Zunächst während meines Masterstudiums an den Wochenenden, um etwas dazuzuverdienen. Anschließend wurde der Job dann das einzige, was ich machen konnte. So sah ich in Madrid keine berufliche Zukunft mehr für mich. Im Mai vor zwei Jahren kam ich dann mit einem Stipendium der spanischen Regierung nach Deutschland, um ein Praktikum bei einer Sprachenschule zu machen. Ich habe voll gearbeitet, 40 Stunden in der Woche – dafür bekam ich monatlich 500 Euro. Das ging sieben Monate lang so. In der Sprachenschule wurde zudem im Sommer an den Wochenenden ein Kulturprogramm veranstaltet, deshalb mußte ich auch an den freien Tagen arbeiten. Anschließend war ich eine Zeitlang erwerbslos, ohne zu wissen, was ich tun könnte. Schließlich fand ich in derselben Sprachschule eine Anstellung als Verwaltungskraft. Ich beantwortete E-Mails und nahm Telefonanrufe entgegen, machte also etwas, was nicht meiner Ausbildung entspricht. Nebenbei übernahm ich einige Forschungsaufträge der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Was haben Sie erforscht?

Es waren Arbeiten im Zusammenhang mit den sozialen Bewegungen Spaniens. Das Institut für Gesellschaftsanalyse der Stiftung hat die Aktionen auf dem Syntagma-Platz in Griechenland mit der Occupy-Bewegung und der 15-M in Spanien verglichen. Die Untersuchung der 15-M habe ich übernommen, weil ich direkt an der Puerta del Sol in Madrid dabeigewesen bin.

Wie sind Sie zur »Bewegung 15-M« gekommen?

Ich habe in Spanien Philosophie studiert und zwei Master gemacht. Einen, um als Lehrerin an einem Institut arbeiten zu können, und einen zweiten als Sozialforscherin. Was mich über Nacht politisiert hat, war die Studentenbewegung an unserer Fakultät gegen die Bologna-Reform ab 2007. Wir leisteten Widerstand gegen das Organisationsmodell, das heute an den Universitäten in Spanien angewendet wird, mit Bachelor und Master. Der Protest konzentrierte sich vor allem auf die Philosophische und die Politikwissenschaftliche Fakultät. Wir haben mehrfach die Institute besetzt und die Räume genutzt. Das Motto war: Wir schließen uns ein, um die Gesetzestexte zu studieren. Wir wollten gut über die neuen Gesetze Bescheid wissen und haben dann begonnen, Reden zu halten. Ich bin in dieser Dynamik mitgeschwommen und habe begonnen, an Demonstrationen teilzunehmen.

Der zweite Meilenstein für mich war dann die Bewegung der Empörten, 15-M. Diese begann zu einem Zeitpunkt, an dem ich bereits politisiert war. In der Folge bin ich in die Vereinigte Linke (IU) eingetreten, habe mich dem Kommunistischen Jugendverband, UJCE, angeschlossen und begonnen, in dessen Studentengruppe mitzuarbeiten. Ich habe mich dessen Vorschlägen ideologisch nahe gefühlt, und meine Compañeros im Unterricht waren auch in dieser Organisation aktiv. Das wichtigste Ziel der UJCE in Spanien ist derzeit, daß eine Jugendwiderstandsfront als Antwort auf die Krise entsteht, und das ist auch mein Ziel.

In welchen Bereichen sind Sie in der IU aktiv?

In der IU und in der UJCE arbeite ich vor allem zum Thema der Migration und zu der aus ökonomischen Gründen ins Exil gehenden Jugend. Wenn sie uns sagen, die Arbeitslosigkeit sei zurückgegangen, ist das Betrug. Wenn du dir die Daten der Umfragen über die wirtschaftlich aktive Bevölkerung anguckst, siehst du ganz klar, daß die absolute Zahl der Erwerbslosen sinkt, aber die Arbeitslosenquote steigt. Letztere ist wichtig, denn die wirtschaftlich aktive Bevölkerung wird kleiner. Es gibt immer weniger Menschen in Spanien, die arbeiten können. Nur alternative Medien wie Diagonal oder eldiario.es berichten, daß in Spanien wieder das Phänomen der Emigration existiert. Es ist noch kein Massenexodus wie in den 50er Jahren, aber es passiert etwas. Die Regierung aber stellt sich taub. Es gibt Erklärungen von Arbeitsministerin Fátima Báñez, daß es sich nicht um Emigration, sondern um »internationale Mobilität« handele. Sie wollen die Emigration als etwas »Schönes« darstellen, durch die sich das Weltbild der spanischen Jugend erweitert.

Aber es stimmt doch, daß Erfahrungen in einem anderen Land das Leben eines Menschen bereichern …

Das bestreitet niemand. Aber wir können nicht einfach nach Hause zurückkehren, wenn wir nicht mehr hier in Deutschland sein wollen. Wir müssen deshalb versuchen, Netze zu spannen und Organisationsräume zu entwickeln, damit die Menschen sich treffen und kennenlernen können. Nicht, um von einer Revolution lieber heute als morgen zu reden, sondern um über die eigenen Probleme sprechen und gemeinsam nach Lösungen suchen zu können.

Viele Menschen kommen aufgrund von Arbeitsangeboten hierher, sind dann aber vollkommen ungeschützt, weil es für sie keine Tarifverträge gibt. Wenn sie dasselbe Gehalt verlangen, das ihre deutschen Kollegen erhalten, sind sie völlig der Willkür ihrer Vorgesetzten ausgeliefert. Zweitens lehnen die Behörden bei immer mehr Menschen, die aus den Ländern Südeuropas kommen, die Anträge auf Hilfen wie Hartz IV ab. Auf dem Papier steht davon nichts, aber real werden sie durch die komplizierten bürokratischen Verfahren von den Hilfen ausgeschlossen. Das haben wir in Spanien umgekehrt mit den Immigranten aus Lateinamerika erlebt, denen vorgeworfen wurde, alle Übel nach Spanien eingeschleppt zu haben.

Die Emigration aus Spanien ist so groß, daß sogar eine Föderation der IU im Ausland gegründet worden ist …

Die Gruppe der IU in Berlin ist Teil der IU Deutschland als Auslandsföderation. Hier sind wir momentan rund ein Dutzend Leute, die vor vier Monaten eine Basisgruppe gegründet haben. Wir versuchen, mit den Initiativen zusammenzuarbeiten, die es hier bereits gibt, denn wir glauben nicht, daß man alles doppelt machen muß. Es geht nicht darum, irgendwo unser Logo drunterzusetzen, sondern darum, etwas zu bewegen. Als einzelne arbeiten wir bei der Versammlung der 15-M in Berlin mit. Darin gibt es die Arbeitsgruppe »Marea Granate«, »Weinrote Flut«, die ihren Namen aus der Farbe des spanischen Passes abgeleitet hat, der bei den Protesten immer hochgehalten wird. Die letzte dieser Aktionen in Berlin fand am 22. März statt. Daran beteiligten sich mehrere hundert Spanier, die sich als aus ökonomischen Gründen Exilierte verstehen. Weiter gibt es die Feminismus-Gruppe, die sich vor allem um das Abtreibungsverbot kümmert, das uns die PP aufzwingen will. An den Versammlungen der 15-M haben in letzter Zeit zwischen 20 und 30 Personen teilgenommen.

Setzen Sie sich auch damit auseinander, daß es den Spaniern zwar schlecht geht, andere Immigranten aber noch schlechter dran sind?

Nein, und das ist ein echter Mangel. Diesen Schritt müssen wir gehen. Angefangen bei der Nachricht, daß 300 Spanier aus Belgien ausgewiesen wurden, über die Ereignisse in Ceuta bis zum Referendum in der Schweiz – wir sehen, daß es notwendig ist, die Kämpfe zusammenzuführen. Wir können nicht nur von den Spaniern in Deutschland reden und darüber die Tausenden anderen Geflüchteten vergessen, die ebenfalls hier in Deutschland sind. Aber der Tag hat nur 24 Stunden. Die Leute stecken ihre Zeit, ihre Kraft und oft auch ihr Geld zum Beispiel in Plakate und Forderungen vor allem an den spanischen Staat. Man kann nicht noch mehr verlangen, aber das Zusammenführen der Proteste ist etwas, was wir am Horizont im Blick haben müssen.

Sie kandidieren für das Euro­päische Parlament. Was wollen Sie dort erreichen?

Ich trete auf Vorschlag der Auslandsföderationen der IU bei der Wahl an. Das erste, was ich gern täte, wäre, sehr viel Öffentlichkeitsarbeit zu leisten, denn das Europaparlament ist ähnlich wie der spanische Senat – niemand weiß, wofür es gut ist. Wir müssen es näher an die Menschen bringen, damit diese sehen, wie die Entscheidungen der EU ihr Leben beeinflussen. Das Schengen-Abkommen etwa legt fest, daß das Kapital Bewegungsfreiheit hat, die Menschen aber nicht. Während die einen Konten in der Schweiz haben, wird die Bewegungsfreiheit der anderen immer mehr eingeschränkt. Das muß sich ändern.

Interview: Carmela Negrete

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 21. Mai 2014


EU-Wahl: Empörte Spanier **

In Spanien wächst die Wut über das politische System und die beiden hegemonialen Parteien, die rechte PP und die sozialdemokratische PSOE. Das wurde schon vor drei Jahren deutlich, als am 15. Mai 2011 die Bewegung der »Empörten« an das Licht der Öffentlichkeit trat, die seither in Anlehnung an das Datum als »15-M« bekannt ist. Ihre Aktivisten hatten damals über Monate öffentliche Plätze besetzt und Protestcamps errichtet. Erstes und bekanntestes dieser Zeltlager war die »Acampada Sol« an der Puerta del Sol im Zentrum der Hauptstadt Madrid.

Die damalige Bewegung war zunächst als Protest gegen das undemokratische Wahlrecht in Spanien entstanden. Dieses bevorzugt die großen nationalen und regionalen Parteien, während etwa die landesweit drittstärkste Kraft, die Vereinigte Linke (IU), unverhältnismäßig wenige Abgeordnete entsenden kann. Den Umfragen zufolge wird sie bei der Europawahl am Sonntag von der Unzufriedenheit profitieren können. Nachdem 2009 zwei Abgeordnete der IU nach Strasbourg geschickt wurden, könnten es diesmal sechs oder sieben sein.

Konkurrenz von links gibt es von mehreren Listen, die sich mehr oder weniger direkt auf die Bewegung »15-M« beziehen. So haben sich in der Wählervereinigung »Null Kürzungen« (Recortes Cero) maoistische und linksgrüne Gruppierungen zusammengefunden. Auch die Liste »Podemos« (»Wir können«) sieht sich als Erbin der »Empörten« und will den Kandidaten der Europäischen Linkspartei (EL), Alexis Tsipras, unterstützen – obwohl sie zugleich in Konkurrenz zur spanischen Sektion der EL, der IU, antritt. In den Prognosen wird unter den neuen Gruppierungen nur »Podemos« eine geringe Chance eingeräumt, Abgeordnete »nach Europa« schicken zu können. Die anderen Bündnisse, ebenso wie kleinere Gruppierungen, zum Beispiel die Kommunistische Partei der Völker Spaniens (PCPE) oder die Liste »Für die Republik – Für den Bruch mit der EU«, gelten als praktisch aussichtslos.

Stärkste Partei dürfte den Meinungsforschungsinstituten zufolge erneut die Volkspartei PP werden, allerdings nur relativ knapp vor der PSOE. In Katalonien haben sich mehrere Parteien, die für eine Volksabstimmung zur Unabhängigkeit eintreten, unter dem Namen »L’Esquerra pel Dret a Decidir« (Die Linke für das Recht zu entscheiden) zusammengeschlossen. Eine Einheitsliste gemeinsam mit baskischen und galicischen Regionalparteien kam nicht zustande, diese kandidieren nun als »Los Pueblos Deciden« (Die Völker entscheiden).

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 21. Mai 2014


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