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"Wir schlagen kein festes Datum vor"

Spanisches Parlament verbietet Referendum in Katalonien. Nationalversammlung hält an Unabhängigkeit fest. Gespräch mit Ricard Gené *


Ricard Gené ist internationaler Koordinator der Katalanischen Nationalversammlung (ANC). Dieses überparteiliche Bündnis kämpft für die Unabhängigkeit der bislang zu Spanien gehörenden Region.

Am Dienstag hat das spanische Parlament die Durchführung eines Referendums über die Unabhängigkeit Kataloniens untersagt. Was bedeutet das für Sie?

Absolute Priorität hat für uns ein Volksentscheid. Andere Szenarien sind für uns nicht wünschenswert, wir halten sie aber für zunehmend realistisch, wenn der spanische Staat eine Abstimmung verhindert. Dann könnten plebiszitäre Neuwahlen die Alternative sein. Eine Extremsituation wäre die Intervention des spanischen Staates in Katalonien, bei der Madrid mit undemokratischen Mitteln die Legitimität der Autonomieregierung außer Kraft setzten würde. In diesem Fall würde die ANC dafür eintreten, eine Versammlung mit von der Bevölkerung gewählten Repräsentanten zu bilden, die einseitig die Unabhängigkeit erklären würde. Aber nur, wenn sonst alle demokratischen und legalen Mittel ausgeschöpft wären.

Wenn es zu plebiszitären Neuwahlen käme, will die ANC die Bildung einer Einheitskandidatur der Parteien und sozialen Kräfte, die eine Unabhängigkeitserklärung des neuen Parlaments befürworten würden ...

Wir hatten schon für die Europawahlen eine Einheitskandidatur vorgeschlagen, die aber von den Parteien verworfen wurde. Die Einheit ist für uns aber weiterhin ein wichtiges Element zur Erlangung der Unabhängigkeit. Falls sich bei Neuwahlen in Katalonien eine solche Einheitskandidatur nicht herstellen ließe, müßten wir einen Minimalkonsens finden, unter dem Parteien und soziale Bewegungen kandidieren.

Die ANC hat den katalanischen Feiertag Sant Jordi am 23. April 2015 vorgeschlagen, um die Unabhängigkeit Katalo­niens auszurufen. Was hat es mit diesem Datum auf sich?

Wir schlagen kein festes Datum vor. Noch weniger sehen wir uns als die Kraft, die am 23. April die Unabhängigkeit ausrufen wird, wie es in einem Teil der spanischen Presse zu lesen war. Der 23. April 2015 taucht in unserem Programm auf, weil wir glauben, daß bis dahin die politischen und sozialen Voraussetzungen für eine einseitige Unabhängigkeitserklärung geschaffen werden können.

Glauben Sie, daß ein solcher Schritt international anerkannt werden würde?

Wir sind uns bewußt, daß uns die Welt nicht mit offenen Armen empfangen wird. Prinzipiell sehen wir aber nicht, warum sie sich gegen einen friedlichen und demokratischen Prozeß stellen sollte. Von daher sollte auch eine Unabhängigkeit Kataloniens respektiert werden. Dafür bemühen wir uns bereits jetzt um internationale Unterstützung.

Was denkt die ANC über eine Zugehörigkeit des neuen katalanischen Staates zur EU?

Wir sind eine sehr breite Organisation, in der es ganz unterschiedliche Haltungen zu dieser Frage gibt. Ich würde sagen, daß eine Mehrheit für eine EU-Mitgliedschaft ist. Zugleich ändern einige wegen der Haltung der EU zum Prozeß in Katalonien ihre Meinung. Die EU verliert für an Bedeutung, und es werden Alternativen in Betracht gezogen. Aber als ANC beziehen wir dazu keine Stellung.

In den letzten Wochen gab es Verbotsdrohungen gegen die ANC und die Forderung nach Verfolgung Ihrer Präsidentin Carme Forcadell wegen »aufständischer Betätigung« ...

Die Antwort der Bevölkerung bestand aus der Stärkung der ANC. In nur zwei Wochen konnten wir die Mitgliederzahlen um 10000 erhöhen. Wir betrachten die Vorwürfe gegen uns ebenso wie die Stimmungsmache in einem bestimmten Teil der spanischen Presse als juristisch absolut unhaltbar. Falls aber aus politischen Gründen tatsächlich eine Illegalisierung der ANC erfolgen sollte, wäre die Antwort der katalanischen Bevölkerung meiner Meinung nach klar. Eine Volksbewegung läßt sich nicht illegalisieren. Und wir alle in der ANC sind ganz gewöhnliche Leute, Lehrer, Hausfrauen, Rentner, Studenten, Kleinunternehmer, Arbeiter. In der ANC findet man einen Querschnitt der Bevölkerung. Würde die ANC verboten, ginge daraus eine neue, noch stärkere und entschiedenere Organisation hervor.

Welche Bedeutung hat die Arbeit im Ausland für die ANC?

Die internationale Komponente ist sehr wichtig für uns, um unseren Prozeß transparent zu machen. Die ANC ist in 24 Ländern organisiert, auch im Baskenland, in Québec und in Schottland, die ja keinen eigenen Staat haben. Weitere Assembleas Exteriors (Ausslandsversammlungen) sind im Aufbau.

Interview: Carles Solà/ Mela Theurer, Barcelona

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 10. April 2014


Francos Erbe

Madrid gegen Katalonien

Von André Scheer **


In Spanien rasen zwei Züge aufeinander zu, und zumindest in einem von beiden wird die Geschwindigkeit erhöht, statt auf die Bremse zu treten. Am Dienstag hat der spanische Kongreß mit den Stimmen der einst von Eliten des Franco-Regimes gegründeten Volkspartei (PP), der sozialdemokratischen PSOE und kleinerer Rechtsparteien einen Antrag des katalanischen Parlaments abgelehnt, per Volksbefragung über die Unabhängigkeit der autonomen Region entscheiden zu dürfen.

Mit dieser Entscheidung bleibt Madrid der Linie einer ständigen Zuspitzung der Beziehungen zu Katalonien treu. Doch diese hat die jetzige Lage erst verursacht. Jahrzehntelang waren die »Independentistes«, die Befürworter der Unabhängigkeit, eine zwar laute, aber doch nur von einer Minderheit unterstützte Bewegung. Das hat sich in den vergangenen Jahren mit dem brutalen Sozialkahlschlag in Spanien geändert. Inzwischen sprechen sich in Umfragen mehr als 60 Prozent der Katalanen für einen eigenen Staat aus. Das liegt aber auch daran, daß Madrid alle bisherigen Versuche, ein bißchen mehr Eigenständigkeit zu bekommen, abgeblockt hat.

2006 war nach langen Verhandlungen sowohl vom katalanischen als auch vom spanischen Parlament und in einer Volksabstimmung ein neues Autonomiestatut verabschiedet worden. Die damals oppositionelle PP klagte dagegen beim spanischen Verfassungsgericht. Dieses kassierte 2010 wesentliche Bestimmungen – was in der autonomen Region als Demütigung empfunden wurde. 2012 ließ Ministerpräsident Mariano Rajoy auch Verhandlungen über einen Fiskalpakt platzen, durch den eine gerechtere Verteilung der Steuerlast erreicht werden sollte.

Auf Dialogforderungen Kataloniens antwortet Madrid immer mit dem Hinweis auf die Buchstaben der Verfassung, in der die »unauflösbare Einheit der spanischen Nation, dem gemeinsamen und unteilbaren Vaterland aller Spanier« beschworen wird. Diese Verfassung stammt aus dem Jahr 1978, als die Erben des drei Jahre zuvor verstorbenen Diktators Francisco Franco die Übernahme solcher ideologischen Säulen des spanischen Faschismus zur Bedingung für einen Übergang zur parlamentarischen Demokratie machten. Seither ist zwar mit der Verfassung vereinbar, daß Millionen Menschen durch Sozialabbau die Lebensgrundlage entzogen wird, daß ein König auf Staatskosten Elefanten jagt und daß Faschisten mit Aufmärschen den Diktator ehren. Ein Referendum darüber, ob die Katalanen in diesem Staatsverband bleiben wollen, soll mit ihr hingegen unvereinbar sein.

Die Position der katalanischen und spanischen Linken – auch derjenigen, die eine Abtrennung Kataloniens ablehnen – ist eindeutig: Die Katalanen haben das Recht, selbst zu entscheiden. Sollte dieses Referendum durch Madrid jedoch wie angekündigt »mit allen Mitteln« verhindert werden, droht Spanien, das den faktischen Bürgerkrieg im Baskenland noch gar nicht überwunden hat, ein Rückfall in vergangen geglaubte Zeiten.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 10. April 2014 (Kommentar)


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