Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Lehren aus dem Kosovo-Krieg

Von Ulrich Albrecht

Der Krieg im Frühjahr 1999 im Kosovo beschäftigt anhaltend die Gemüter. Er spaltet: politische Gruppierungen, von links bis rechts, die Kirchen, die Friedensbewegung, die community der Friedensforscher. Das ist schlecht, denn eine erste Rückfrage lautet: Befinden wir uns in einer Zwischenkriegszeit, welche neuen Kriege stehen an, war der Kosovo-Krieg dafür das Muster? Mit den folgenden Überlegungen möchte ich schrittweise eine Antwort geben. Ich werde den Kosovo-Krieg in Bezug auf drei Dimensionen thematisieren.

1. Die rechtliche Dimension

Zum ersten Male in ihrer Geschichte hat sich sich die Bundesrepublik militärisch an einem Krieg beteiligt. Deutsche Soldaten wurden in diesem Jahrhundert stets losgeschickt, indem es keine Rechtsgrundlage gab, ja internationale Verträge gebrochen wurden, und dies war im Jugoslawien-Krieg nicht anders.

An erster Stelle ist das Grundgesetz zu nennen. Selbst konservative Kommentatoren heben die Friedensbindung des Grundgesetzes hervor, einsetzend mit der Präambel (in der "das Deutsche Volk" sich verpflichtet, "dem Frieden in der Welt zu dienen"). Mit dem BeSchluss, die Bundeswehr gegen Jugoslawien einzusetzen, wurde nicht lediglich ein einzelner Artikel verletzt, sondern es wurde gegen den Geist des Grundgesetzes verstoßen.

Vor zehn Jahren wurde diese Friedensbindung deutscher Politik in dem für die Wiedervereinigung bedeutsamen 2+4-Vertrag "Über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" vom 12. September 1990 erneut betont. Das Dokument enthält in Artikel 2 die Klausel, "dass das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen." Bemerkenswerterweise hat die Signatarmacht Rußland in der Auseiandersetzung über den Kriegseinsatz auf dem Balkan nicht auf diesem Artikel bestanden.

Festzuhalten bleibt: Das Grundgesetz sieht eine solche Militäroperation nicht vor, und der Sicherheitsrat der UNO hat kein Mandat erteilt. In anderen Staaten wird das Legalitätsprinzip nicht für vorrangig erachtet (besonders die USA haben die meisten ihrer Kriege ohne Kriegserklärung begonnen). Aufgrund der deutschen Geschichte wäre aber auf Rechtsklarheit zu bestehen gewesen.

Ein drittes Rechtsdokument ist anzuführen, ein Jahr alt, der Koalitionsvertrag der rot-günen Bundesregierung. Im Auftakt des außenpolitischen Teils des Vertrages wird eindeutig die "Beachtung des Völkerrechts" zur "Grundlage" der künftigen deutschen Außenpolitik erklärt, die neue Regierung betont "Gewaltverzicht" und hält weiter fest:
"Die Beteiligung deutscher Streitkräfte an Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ist an die Beachtung des Völkerrechts und des deutschen Verfassungsrechts gebunden. Die neue Bundesregierung wird sich aktiv dafür einsetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu wahren."

Die Koalition hat ihren eigenen Vertrag gebrochen - in eben dem Augenblick, als sie ihn abschloß.

Nun wird entgegen gehalten, es habe sich um eine Notsituation gehandelt, und angesichts der gewiß unbestreitbaren grausamen Verletzungen von Menschenrechten im Kosovo, der gewaltsamen Vertreibungen, willkürlichen Tötungen und Vergewaltigungen sei aus humanitären Gründen Nothilfe von außen geboten gewesen. Dies soll für die Kriegsentscheidung gegen Jugoslawien nicht in Zweifel gezogen werden. Nur: will die Bundesregierung in den sich abzeichnenden erneuten Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr sich fortwährend auf den außergesetzlichen Notstand berufen? Will sie tatsächlich diese an die Weimarer Zeit erinnernde Formel veralltäglichen?

Der Zweck des NATO-Krieges, Verhinderung weiteren Leidens der albanischen Bevölkerung im Kosovo, die mit dem Nothilfeargument einzig mögliche Rechtfertigung, ist allerdings wenig erreicht worden. Gleich zu Beginn des Luftkrieges fragten Analytiker - zu Recht - wie denn mit Angriffen auf Kasernen und Infrastrukturen Übergriffen von serbischen Sondereinheiten und Militärs auf bedrängte Kosowaren abgeholfen werden soll. Das war wenn überhaupt allenfalls mittelfristig eine wirksame Strategie.

Für die Friedensbewegung ergibt sich mithin eine zweite Aufgabe: darauf zu beharren, dass die Herrschaft des Rechts an erster Stelle Beachtung findet, dass gegen Grundgesetz, 2+4-Vertrag, Völkerrecht nicht weiter verstoßen werde, dass der Schutz des Rechts auch in der internationalen Politik weiter ausgebaut wird.

2. Die Kriegsmittel: Das Konzept des Luftkrieges

Die Wahl des Mittels, Luftschläge, mag manchem als Fehler, als Ausreißer, erscheinen. Die Friedensbewegung sollte engagiert bleiben, die barbarischen Folgen der Luftkriegsintervention zu geißeln.

Besonders im US-amerikanischen Kriegsdenken spielen Luftschläge seit jeher eine entscheidende Rolle, seit 1921 General William Mitchell zum Nachweis seiner Konzeption der Überlegenheit des Bombers über das Schlachtschiff probeweise eroberte Schiffe mit scherem Gerät aus der Luft angreifen ließ. Besonders die Vernichtung der als unsenkbar geltenden Ostfriesland, einer Art militärischer Titanic, förderte in amerikanischen Militärakademien seither die Vorstellung, dass mit massiven Luftangriffen militärisch eine Wende im Kriegsgeschehen bewerkstelligt werden könne. Im Zweiten Weltkrieg gesellte sich zu dieser Auffassung die Konzeption des britischen Bomber Command, es gelte mit Luftangriffen die "Zivilmoral" von Bevölkerungen zu zerschlagen - diese würde aufgrund der Wirkungen schwerer Attacken selbst Diktatoren die Gefolgschaft verweigern.
Beide Elemente, der Glaube an das überlegene Zerstörungsvermögen aus der Luft sowie die Auffassung, man könne über die Terrorisierung der Bevölkerung Wirkung bei Diktatoren erreichen, ließen sich im Luftkrieg gegen Serbien ausmachen.

So bildet denn auch nach amerikanischer Ansicht der Luftkrieg das bevorzugte Muster auch für künftige Interventionen. Mitten im Krieg, am 11. April 1999, in der Sonntagsausgabe, veröffentlichte die New York Times einen nicht namentlich gekennzeichneten Leitartikel (was im allgemeinen auf einen hochrangigen Autor verweist, der nicht identifiziert werden möchte) mit der Aussage:
"Luftmacht ist die für bewaffnete Interventionen Amerikas im Ausland bevorzugte Form."
Schlussfolgerung des Anonymus:
"Das Pentagon muß versuchen, Luftkriegsmittel und Erkundungssysteme zu entwickeln, die in solchen Umständen funktionieren, wie sie im Kosovo vorherrschen, einem Schlachtfeld ethnischer Konflikte, das in den kommenden Jahren mit Sicherheit allgemeine Bedeutung bekommen wird."

Es ist allerdings noch nie ein Krieg aus der Luft gewonnen worden. Das war auch in Jugoslawien so. Ein Befehlshaber des US Strategic Air Command, General Curtis LeMay, wollte einst die Vietnamesen in die Steinzeit zurückbomben, wenn sie partout nicht einlenken würden. Im Jugoslawien-Krieg hat ein Kompromiß dazu geführt, den Luftkrieg einzustellen.

Bei der Zustimmung zum Luftkrieg sind die Verantwortlichen in Regierung und Parlament augenscheinlich gravierenden politischen und militärischen Fehleinschätzungen erlegen, in Bonn und in anderen Hauptstädten. Dieses kollektive Versagen bedarf gewiß der intensiven Reflexion. Die amerikanische Strategie, mit einem Luftkrieg gegen Milosevic anzugehen, ist den Alliierten nicht einfach oktroyiert worden. Diese haben vielmehr unter Streß, aufgrund ungesicherter Informationen und in Zeitnot ein Konzept akzeptiert, von dem sie sehr bald insgeheim wieder loszukommen suchten.

Zu diesen Vorgängen bleibt erhebliche Nacharbeit nötig - politisch, analytisch, konzeptionell, will das deutsche Gemeinwesen nicht erneut blindlings in folgende ethnisch-politische Konflikte schliddern. Es sind Rückfragen an den Prozeß der Politikgestaltung besonders durch die neue Bundesregierung und ihre Rolle im ersten Halbjahr 1999 zu stellen. So etwas darf sich einfach nicht wiederholen, hier muß die Friedensbewegung auf den Plan.

3. Die politischen Prozesse bei der Kriegsentscheidung

Den politisch Verantwortlichen sind bei ihren Entscheidungen augenscheinlich gravierende Fehler unterlaufen. Das gilt nicht nur für Bonn, sondern für die NATO-Hauptstädte insgesamt. Ich zähle vier solcher Fehler:

(1 ) Im Kosovo ist der "worst case", der schlimmstmögliche Fall, den die Szenarios der Politikstäbe womöglich vorab gar nicht erfaßt haben (was zu klären wäre), eingetreten. Das Milosevic-Regime hat augenscheinlich seit längerem das Vorhaben vorbereitet, den albanischen Teil der Bevölkerung aus dem nördlichen Kosovo zu vertreiben. Die Luftangriffe der NATO haben Präsident Milosevic - entgegen der von der Westallianz bekundeten Absicht - bei diesem Projekt wenig behindert. Im Gegenteil hat der Luftkrieg in der Folge es diesem ermöglicht, sein Vorhaben mit größter Brutalität und zügiger als womöglich vorausgesehen umzusetzen. Die NATO wiederum, wollte sie ihren Anspruch nicht aufgeben, hatte die Bombardements fortsetzen, auch nachdem deren beschränkte Wirkung bezüglich des humanitären Anlasses überaus sichtbar geworden war. Die NATO, so ein hoher Offizier in Brüssel, habe bei ihren Vorbereitungen die "exit"-Option vernachlässigt.

Bei der Zustimmung zum Luftkrieg ist hingegen, wie Abgeordnete des Bundestages übereinstimmend darstellen, der "best case" zugrunde gelegt worden - nach ein paar demonstrativen Luftschlägen würde der jugoslawische Präsident schon unterschreiben. Das sei schon beim Dayton-Frieden so gewesen.

Die Verantwortlichen sind zu befragen, ob sie die möglichen Folgen ihrer Entscheidung, eben auch den "worst case" eines länger anhaltenden Krieges, mit der erforderlichen Ernsthaftigkeit bedacht haben. Zu befürchten bleibt, dass zugunsten einer deutschen Demonstration von Loyalität zur NATO und von Handlungsfähigkeit die Luftkriegsoption zu wenig durchgeprüft worden ist.

(2) Der Friedensvorschlag, der die Katastrophe im Kosovo und in Serbien verhindern sollte, ist in Washington konzipiert worden. Das Dokument umfaßt 82 Seiten und ist (für solche Verträge) ungewöhnlich komplex. Der nichtmilitärische Teil ist nach verschiedenen Berichten rundum mehr oder minder annehmbar gewesen (trotz für einen Friedensvertrag so ungewöhnlicher Festlegungen wie der - Kapitel 4, Artikel I, 1 - dass "die Wirtschaft des Kosovo in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Freien Marktwirtschaft funktionieren solle"). Anders der militärische Teil, bes. Kapitel 7, benannt "Implementation II", der Regelung der Rechte einer NATO-Truppe zur Überwachung des Friedensabkommens. Das Argument, es handele sich um einen eher rechtstechnischen Anhang, der üblichen Verträgen zur Stationierung ausländischer Truppen entspräche, gilt nur zum Teil. Besonders mit der Vorgabe, eine NATO-Friedenstruppe dürfe sich im gesamten Jugoslawien bewegen und dort militärische Infrastrukturen nutzen, bleibt ungewöhnlich.

Von Seiten der NATO wird nun vorgetragen, es habe sich um Maximalforderungen gehandelt, mit denen man ja in Verhandlungen hätte gehen wollen. In Rambouillet und Paris haben die Serben stets diesen Implementationsteil von vornherein als nicht akzeptabel bezeichnet, weswegen darüber auch nie verhandelt worden ist. Ist nun die Situation eingetreten, dass zwischen Maximalforderungen einer Seite und dem, was die andere Seite maximal für erörterbar hielt, ein Brückenschlag nicht möglich war (und es deswegen zum Krieg kam), oder ist gar, wie nunmehr vielfach gefragt wird, die Maximalforderung so konzipiert worden, dass ein Kompromiß unwahrscheinlich, der Krieg aber sehr möglich war?

Selbst sachlich berufene Abgeordnete wie die Grüne verteidigungspolitische Sprecherin Angelika Beer betonen nach wie vor, sie hätten bei der Abstimmung im März im Bundestag den Vertragsentwurf nicht gekannt, der sei geheim gewesen. Hätte sie den Text, besonders den Implementationsteil, lesen können, so Angelika Beer, so hätte sie anders abgestimmt.

Die Kosovo-Albaner, welche sich zunächst besonders hartnäckig weigerten, den Rambouillet-Vertrag zu akzeptieren, haben andererseits im Protest den Text des Dokuments am 23. Februar 1999 veröffentlicht. Augenscheinlich war es nicht möglich, diese Lücke zwischen kosovarischem Informationsangebot und Informationsmangel im Deutschen Bundestag rechtzeitig zu überbrücken.

Die Verantwortlichen sind zu befragen, ob sie den Vertragsentwurf, dessen Ablehnung durch die Jugoslawische Föderation zum EntSchluss für militärische Schritte führte, ihrerseits gebührend geprüft haben. Auf Nichtinformation beruhende Kriegsentscheidungen wir die Friedensbewegung nicht hinnehmen.

(3) Die möglichen Reaktionen des Präsidenten der Jugoslawischen Förderation wurden augenscheinlich fehl eingeschätzt. Dieser wurde zwar militärisch fortwährend durch die Wirkungen der Luftangriffe der NATO geschwächt, politisch in seinem Handlungsvermögen aber wenig beeinträchtigt. Innenpolitisch erscheint das Regime Milosevic im Kriege kaum angefochten. Nennenswerte Proteste gegen den jugoslawischen Präsidenten gab es erst, nachdem die Kampfhandlungen eingestellt worden waren.

Die politische Konzeption der jugoslawischen Regierung scheint wenig verstanden worden zu sein. Besonders die Medien personalisierten das Problem, anstatt die Politik Serbiens näher in den Blick zu nehmen.
Vor allem: Die Brutalität, mit der von Seiten der jugoslawischen Staatsführung gegen eine Minderheit des Staatsvolkes vorgegangen wird, ist kaum vorausgesehen worden. Auch die Bereitschaft der diversen jugoslawischen Militärverbände, mit inhumanen Mitteln und größter Brutalität gegen Landsleute vorzugehen, wurde hierzulande trotz vergleichbarer Erfahrungen im Bosnienkrieg so nicht gesehen.

Solche Bekundungen müssen Erstaunen hervorrufen. Hatte doch der Krieg in Bosnien-Herzegowina wenige Jahre gezeigt, dass alle Beteiligten, auch die Serben, besonders die paramilitärischen Verbände, zu unglaublichen Grausamkeiten fähig waren. Das Massaker von Srebrenica, bei dem holländische Blauhelme untätig serbischen Gewaltmaßnahmen zusehen mußten, wird sich in die kollektive Erinnerung an humanitäre Katastrophen eingraben.

Die Verantwortlichen sind zu befragen, welche Expertise sie bei ihrer Anstrengung, zu einer angemessenen Entscheidung gegen diese Exekutoren zu gelangen, bemüht haben. Sind die wissenschaftlichen Ressourcen, welche der Bundesregierung zur Verfügung stehen, das vorhandene regonalwissenschaftliche Potential zur Beurteilung des Milosevic-Regimes oder auch nur der Möglichkeiten, die Brutalisierung der Auseinandersetzung mit den Albanern auszuschließen, genutzt oder gar erschöpft worden? Auf Anfrage erklären die Mitarbeiter solcher Institute, sie seien nicht beigezogen worden.

(4) Der militärische Einsatz wird besonders mit der Aussage begründet, alle - wirklich alle - Alternativen seien erschöpft gewesen, der Einsatz von Zwang sei tatsächlich die ultima ratio. Diese Aussage bleibt erheblich strittig.- Von dritter Warte aus scheint es, dass die europäische Politik die politische Entwicklung im Kosovo nach der einseitigen Aufhebung der Autonomie 1989 schlicht vernachlässigt hat. Die EU hat andere Prioritäten gesetzt als etwa mit ihren Nachbarn in Südosteuropa Perspektiven für deren sozio-ökonomische und politische Entwicklung zu klären. Moderate politische Kräfte in Serbien und im Kosovo wurden nicht gefördert. Sehenden Auges wurde offenbar, eben weil man Anderes für wichtiger hielt, in Kauf genommen, dass der Autonomiekonflikt in Süd-Jugoslawien eskalierte und dass auf beiden Seiten Extremisten in die Vorhand gerieten. Gerade weil dieser Konflikt als Musterbeispiel für voraussehbare Eskalation gilt, verstärkt sich die Rückfrage, warum die europäische Reaktion so unangemessen ausgefallen ist.

Die Verantwortlichen sind aus verständlichen Gründen derzeit nicht befragbar, ob wirklich alle Alternativen zum Krieg ausgeschöpft worden sind. Ein öffentlicher Diskurs zu dieser Frage bleibt aber unumgänglich.

Was heißt nun das alles grundsätzlich? Zwei allgemeine Schlussfolgerungen, die für die Friedensbewegung allgemeine Bedeutung haben, drängen sich auf:
  • Die Exekutive reduziert auch gegenüber der Legislative den Diskurs über Themen wie den Jugoslawien-Einsatz in nicht hinnehmbarer Weise. Die Abgeordneten werden gröblich in ihren Mitwirkungsmöglichkeiten beschnitten, wie die mangelnde Information über den Text des Rambouillet-Vertrages ausweist. Die rot-grüne Regierung hat bei dieser schmerzhaften Entscheidung nicht den politischen Diskurs gesucht, nicht einmal im Parlament. Sie hat diesen im Gegenteil abzubinden getrachtet.
  • Die Multilateralisierung, das Nebenher der verschiedenen Entscheidungsebenen macht die Kriegs-Friedens-Entscheidung zunehmend intransparent, schließt mehr und mehr und mehr Öffentlichkeit aus. Im Beharren auf Öffentlichkeit wird die europaweite Friedensbewegung europaweite Debatten über Kriegsentscheidungen zu befördern haben.

Beides Gründe für die Friedensbewegung, aktiv zu werden.

4. Wie sieht das Luftkriegsmuster für die Zukunft näher aus?
Auf die Frage, ob der Jugoslawien-Krieg und die mit ihm verbundenen Entscheidungsabläufe das Muster für die Zukunft abgeben, hat die grüne Abgeordnete Angelika Beer heftig geantwortet: Nein, auf keinen Fall!

Die politische Linke sieht hingegen im Kosovo-Krieg der NATO ein Muster, welches die Zukunft bestimmen wird. Ignacio Ramonet hält in Le Monde diplomatique fest, dass "eine neue Phase in der Geschichte der internationalen Beziehungen eröffnet" worden sei, und dass man am Kosovo-Krieg "die allgemeinen Bedingungen der Weltpolitik im 21. Jahrhundert" studieren könne. Die beiden grundlegenden Konzepte der auswärtigen Beziehungen der Staaten, das der absoluten Souveränität sowie das der Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten eines Staates, seien nunmehr entscheidend geschwächt. Alain Joxe bringt die linke Position auf die Formel:
"Die Formierung eines (amerikanisch beherrschten) umfassenden Empire, von den Kräften des Marktes ins Leben gerufen, zerstört die autonome Kompetenz zur Regulierung und führt zu verstärkter Balkanisierung und Libanisierung."

Die NATO hat sich in sechs Aspekten bei der Handhabung des Kosovo-Einsatzes exponiert, die aus der Sicht der Friedensbewegung alarmierend bleiben:
  1. Sie hat das Ergebnis des Konfliktes vorgegeben, in Gestalt des Vertragstextes von Rambouillet. Nur 20 Prozent des Textes wurden für verhandelbar erklärt. Es bleibt ganz ungewöhnlich, dass ein Vermittler mit seiner Lösung eines Konfliktes so betreibt.
  2. Die NATO und die sie tragenden Regierungen haben die Entscheidungsprozesse intransparent gehalten, freidenswissenschaftlich wie auch politisch ein nicht hinnehmbarer Zustand. Selbst Abgeordnete des Bundestages kannten den Vertragstext nicht, für dessen Durchsetzung ihr Ja zum Einsatz der Bundeswehr eingefordert wurde.
  3. Die NATO bestimmt die Agende: welche Konflikte werden aufgegriffen, wie werden sie bearbeitet. Kritiker meinten, die Lösung des Kurden-Konfliktes stünde der Westallianz eher zu als eine Intervention auf dem Balkan.
  4. Die NATO setzt auf "power mediation", die Androhung und Ausübung militärischer Gewalt, wenn ihren Vorgaben nicht gefolgt wird.
  5. Die NATO verzichtet gemäß ihrer neuen Militärstrategie im Zweifelsfall auf eine eindeutige Rechtsgrundlage und sucht nicht unbedingt ein Mandat des Sicherheitsrates der UN nach.
  6. Die Handhabung der Medien, gemäß dem von Margaret Thatcher im Falkland/Malvinen-Krieg eingeführten "pool"-System, welches im Golfkrieg erfolgreich wiederholt und im Kosovo-Krieg von der NATO breit angewandt wurde, wirft vielfältige Fragen auf.


Die Organklage der PDS-Bundestagsprozeß, falls sie vom Bundesverfassungsgericht auch nur zu Teilen angenommen wird, dürfte für eine lebhafte Diskussion über einzelne diese Aspekte führen. Die Verfahren gegen die Aufrufer zur Desertion beim Einsatz im Kosovo wollen ihre Verfahren bis vor das höchste Bundesgericht treiben. Es steht eine breite öffentliche Debatte an - die die Regierung gerade zu vermeiden suchte. Das könnte eine Sternstunde des Friedensprojektes werden. Die Friedensbewegung bleibt aufgefordert, sich mit allem Elan in diesen anstehenden Disput einzumischen.

Hier geht es zu weiteren aktuellen Hintergrundberichten und interessanten Analysen zum NATO-Krieg:

Beiträge über Kosovo, Jugoslawien und NATO-Krieg

Zur Seite "Friedenswissenschaft"

Zurück zur Homepage