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"Man muss für Hoffnung kämpfen, solange noch der Schatten der Möglichkeit eines Erfolges bleibt"

Am 2. Mai wäre der Politologe und Jurist Wolfgang Abendroth 100 Jahre alt geworden

Von Gert Meyer*

Wolfgang Abendroth wurde am 2. Mai 1906 in Elberfeld geboren und verbrachte seit 1911 seine Kindheit, Jugend und die frühen Erwachsenenjahre in Frankfurt (Main). Seine Eltern waren sozialdemokratisch organisiert und an politischen Fragen sehr interessiert. Die in großer zeitlicher Dichte folgenden Umbrüche von Kriegs- und Nachkriegszeit förderten bereits die politische Entwicklung des ganz jungen Schülers, der in Frankfurt an den großen Demonstrationen jener Jahre teilnahm, als Vierzehnjähriger in die Freie Sozialistische Jugend eintrat und bald auch Mitglied der Roten Hilfe, des Freidenkerverbandes und später der KPD-Opposition (KPO) wurde. Während seines Jurastudiums setzte er seine intensive politische Arbeit fort, ab 1926 erschienen seine ersten Artikel in der »Freien Sozialistischen Jugend«. Großen Einfluss hatten damals auf ihn die Diskussionen am neugegründeten Frankfurter Institut für Sozialforschung unter seinem ersten Direktor, dem Austromarxisten Carl Grünberg. Nach dessen Tod und der Übernahme der Leitung durch Marx Horkheimer verringerten sich Abendroths Kontakte zu diesem Institut, in dessen philosophischen Köpfen Arbeiterbewegung und Gesellschaftsveränderung eine immer geringere Rolle spielten.

Rückkehr nach Nazi-Deutschland

1930 bestand er die erste juristische Staatsprüfung, nach dem 30. Januar 1933 konnte er seine Ausbildung in Deutschland ebenso wie sein begonnenes Dissertationsprojekt über das Betriebsrätegesetz nicht fortsetzen. Er studierte in der Schweiz, kehrte aber zwischenzeitlich immer wieder in das Reich zurück, um hier politische Verbindungen zu halten. 1935 promovierte er in Bern mit einer Arbeit über »Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate« des Völkerbunds. Aber er wollte nicht emigrieren, sondern die illegale Arbeit im Reich fortsetzen. 1936 gelang es ihm, in einer kleinen Berliner Bank Arbeit zu finden.

Am 22. Februar 1937 wurde er, gleichzeitig mit einer Gruppe führender KPO-Mitglieder, von der Gestapo verhaftet. Die folgenden Monate der Verhöre, Misshandlungen und Folterungen in Berlin, Düsseldorf und Frankfurt (Main) wurden die schlimmsten in seinem Leben. Über diese Traumatisierungen hat er in späteren Gesprächen wenig berichtet. Der Gestapo ist es nicht gelungen, ihn zum Reden zu bringen. Am 30. November 1937 wurde er wegen »Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens« zu einer Zuchthausstrafe von vier Jahren und fünf Jahren Ehrverlust verurteilt.

Wolfgang Abendroth wurde in das Zuchthaus Luckau (Niederlausitz) gebracht. Die meisten Mitgefangenen dort waren »Politische«, mehrheitlich KPD-Genossen, mit denen er Kontakt aufnehmen konnte. Die alten Parteigrenzen spielten kaum mehr eine Rolle. Es gelang, nach der täglichen Arbeit und Schinderei Schulungskurse und politische Diskussionen zu organisieren. Themen waren Arbeiterbewegung und Marxismus, die Notwendigkeit einer Einheits- und Volksfront, die Moskauer Prozesse, die schwere politische Erschütterungen hervorriefen, der Nichtangriffsvertrag zwischen Hitler und Stalin, der von Abendroth scharf abgelehnt wurde. (Später hat er ihn teilweise anders bewertet.)

Im Sommer 1941 wurde Wolfgang Abendroth aus der Haft entlassen, 1943 als »bedingt wehrwürdiger Soldat« zur Strafdivision 999 eingezogen und, nach einer militärischen Schleif- und Drillausbildung, auf der griechischen Insel Lemnos eingesetzt. Den sich illegal organisierenden »Politischen« gelang es, Verbindungen zur griechischen Widerstandsbewegung anzuknüpfen und sie vor deutschen Aktionen zu warnen. Schließlich ging er auf die Seite der Partisanen über. Auf der Insel Lesbos gab er Flugblätter heraus, in denen deutsche Soldaten zur Beendigung des Krieges und zum Überlaufen aufgefordert wurden.

Im Oktober 1944 musste Abendroth in britische Gefangenschaft. Mit anderen »Politischen« organisierte er in verschiedenen ägyptischen Lagern systematische antifaschistische Schulungen unter deutschen kriegsgefangenen Soldaten zur »Vorbereitung auf eine demokratische Verwaltungsarbeit in einem künftigen befreiten Deutschland«.

Unterstützung für SDS – Rausschmiss aus SPD

Im September 1946 kam er in das Reeducation-Camp Wilton Park in England. Hier trat er in die SPD ein – »weil ich der Meinung war, dass es einer vierzonalen Lösung des Problems der Wiedervereinigung der beiden Arbeiterparteien bedürfe und es ein Fehler sei, sie, wie es in der Sowjetischen Besatzungszone geschehen war, nur im zonalen Umfang durchzuführen«.

Im November 1946 wurde er aus britischer Gefangenschaft entlassen. Da sich in den Westzonen zunächst keine beruflichen Möglichkeiten zeigten, siedelte Abendroth 1947 in die SBZ über. Er wurde nach der Assessorprüfung Richter beim Landgericht Potsdam und arbeitete im Justizministerium des Landes Brandenburg als Referent für Gesetzgebung, Staats- und Verwaltungsrecht sowie Presseangelegenheiten. Ab Sommer 1947 war er in der Deutschen Justizverwaltung in Berlin tätig. Die Habilitation erfolgte im Frühjahr 1947 an der Universität Halle-Wittenberg, die Berufung an die Universität Leipzig Ende 1947 und die Ernennung zum Professor für öffentliches Recht in Jena im Herbst 1948. Im Mai 1948 wurde Abendroth von Otto Grotewohl gebeten, im Verfassungsausschuss des Deutschen Volksrates am Entwurf einer Verfassung für Deutschland mitzuwirken. Er sagte zu.

Aber die Möglichkeiten politischen und wissenschaftlichen Wirkens wurden in der SBZ schnell enger. Im Dezember 1948 floh Abendroth mit Frau und Tochter nach dem Westen. Anlass war die Verhaftung eines Kuriers des Ostbüros der SPD, der zu ihm Kontakt aufnehmen wollte.

Wolfgang Abendroth wurde 1949 Professor für Öffentliches Recht und Politik an der Wilhelmshavener »Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft«, 1951 folgte er einem Ruf an die Universität Marburg, der 1950 an ihn ergangen war, und gründete dort das Institut für wissenschaftliche Politik. Dort hat er bis zu seiner Emeritierung 1972 gewirkt. Sein Gegenentwurf gegen das Godesberger Programm der SPD von 1959 blieb ohne große Resonanz. Im Dezember 1961 wurde Abendroth aus dieser Partei ausgeschlossen, weil er, mit einigen anderen Professoren, nicht der Aufforderung nachkam, die Unterstützung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) aufzugeben.

Aber er stand auch in der düsteren Adenauerzeit nicht alleine. Zahlreiche Verbindungen ergaben sich für ihn durch die außerparlamentarischen Massenbewegungen gegen die Wiederbewaffnung und die Atomrüstung, gegen die Notstandsgesetze, den Vietnamkrieg und gegen die Abendroth besonders erbitternden Berufsverbote. Seit Mitte der sechziger Jahre zeigten die Studierenden plötzlich ein großes Interesse gerade an den Fragen, die er sein Leben lang bearbeitet hatte. Mit dem antiautoritären Gestus, den erregten Diskussionen, mit aktionistischen Demonstrationen der Jungen hatte er weit weniger Probleme als andere linke Professoren.

Auch seine wissenschaftliche Resonanz wurde seit den sechziger Jahren größer. Abendroths Arbeiten über SPD und Gewerkschaften, zur Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung und zum Grundgesetz erreichten teilweise hohe Auflagen. Eine von Friedrich-Martin Balzer erarbeitete Bibliographie auf CD-ROM enthält über 1000 Titel. Über seine zahlreichen Doktoranden übte er auch außerhalb Deutschlands wissenschaftlichen und politischen Einfluss aus.

Nach seiner Emeritierung 1972 zog Wolfgang Abendroth nach Frankfurt (Main) und hielt dort an der gewerkschaftlichen »Akademie der Arbeit« Vorlesungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, die als Buch erschienen sind. Es folgten Interview-Bände, die einige Einblicke in seinen politischen Lebensweg geben. Soeben ist eine von Andreas Diers verfasste Teil-Biographie erschienen, die umfangreiches Quellenmaterial bis 1948 enthält.

Alle Hoffnung ist anachronistisch

Zwanzig Jahre nach seinem Tod 1985 hat sich die Welt in einer Weise verändert, die sich Wolfgang Abendroth vielleicht kaum hätte vorstellen können. Zentrale Bezugspunkte seines politischen Denkens haben an Wirkungskraft verloren – dies gilt sowohl für die europäische Arbeiterbewegung als auch für progressive Impulse aus den ehemaligen Kolonialländern – oder sind sogar ganz verschwunden, wie die europäischen sozialistischen Länder. Was er wollte, ist nicht eingetroffen, und vieles von dem, was er gerade nicht wünschte, ist Realität geworden. Aber Abendroth hat als historischer Denker immer wieder darauf hingewiesen, dass Geschichte nie zu Ende ist und immer neue Widersprüche – und damit mögliche Alternativen – produziert. Eine erneute Lektüre einiger seiner Schriften kann Impulse vermitteln zum kritischen Denken, zum politisch eingreifenden Handeln und nicht zuletzt zum Nachdenken über einen Satz aus einem späten Interview: »Man muss für Hoffnung kämpfen, solange noch der Schatten der Möglichkeit eines Erfolges bleibt.«

* Aus: Neues Deutschland, 29. April 2006


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