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Keine Romantik

Venceremos, nachhaltig: Dieter Boris wird 70 Jahre alt

Von Joachim Becker und Frank Deppe *

Dieter Boris – marxistischer Soziologieprofessor an der Universität Marburg – hatte schon früh den Schwerpunkt seines Forschungsinteresses gefunden. Um die Mitte der 60er Jahre von Frankfurt nach Marburg, von der Geographie zur Soziologie gewechselt, Mitglied des Marburger SDS geworden, wandte sich der junge Student dem Thema der »Dritten Welt« (wie es damals noch hieß) zu. Aus der Zusammenarbeit mit Kai Tjaden, Kurt Steinhaus und Frank Deppe entstanden erste Arbeiten zur »Soziologie der Entwicklungsländer«, die von Anfang an im Zusammenhang mit der Rezeption von marxistischen Imperialismusanalysen (von Lenin bis Paul A. Baran) und der praktischen Solidarität mit den antiimperialistischen Befreiungsbewegungen (von Kuba, über Algerien und die letzten portugiesischen Kolonien in Afrika bis nach Vietnam) standen. In der Zeitschrift Das Argument erschienen 1965 erste Analysen. Das heftig umstrittene Marburger »Schulungsprogramm des SDS« aus dem Jahre 1966 (gegen das Rudi Dutschke polemisierte) enthielt Abschnitte über »nachholende ursprüngliche Akkumulation« und »Kolonialrevolution«, an denen Dieter Boris maßgebend mitgewirkt hatte.

Zur Unterentwicklung

Boris war von dem Marburger »Dreigestirn Wolfgang Abendroth – Heinz Maus – Werner Hofmann« (G. Schäfer) geprägt – als Student, Doktorand, als Mitarbeiter und zeitweilig als Mitglied der Familie Abendroth. So entstanden Arbeiten zur Geschichte und zur Theorie der Soziologie (von Karl Mannheim bis Immanuel Wallerstein), aber auch Studien zur Entwicklung der Klassenstruktur entwickelter kapitalistischer Gesellschaften. Immer wieder hat er sich mit den herrschenden »Theorien der Unterentwicklung« kritisch auseinandergesetzt.

Früh kristallisierte sich dabei allerdings der Schwerpunkt seiner Arbeiten heraus: Analysen der (ökonomischen und politischen) Entwicklung der »Dritten Welt« innerhalb des »kapitalistischen Weltsystems« – mit einer Konzentration auf Lateinamerika (zunächst Länderstudien über ­Argentinien, Chile, Mexiko). Dieter Boris war führender Kopf der zunächst in Marburg erscheinenden Zeitschrift Antiimperialistisches Informationsbulletin (AIB), zugleich Mitarbeiter bei zahlreichen Projekten des Frankfurter »Instituts für marxistische Studien und Forschungen« (IMSF). Bis heute ist er Mitglied des Redaktionsbeirates von Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, in der er regelmäßig publiziert.

Er war an der Universität – vor allem auch für Studierende aus der »Dritten Welt« – der orientierende Fixpunkt für alle, die sich für die »Dritte Welt« und die »antiimperialistischen Befreiungsbewegungen« interessierten. Die große Zahl seiner Schülerinnen und Schüler (die ihm 2008 zur Emeritierung eine Festschrift mit dem Titel »Jenseits von Subcomandante Marcos und Hugo Chavez« gewidmet haben) sowie die große Zahl der Dissertationen, die er betreut hat, zeugen von der Bedeutung seines Wirkens.

Der lange Zyklus von Revolution und Konterrevolution (in Gestalt der Militärdiktaturen im Dienste der einheimischen herrschenden Klassen und des US-Imperialismus), von Siegen und Niederlagen der antiimperialistischen Bewegungen, der Schuldenkrise und der neoliberalen Knebelung durch die »Reformpolitik« des IWF, schließlich die Kämpfe um die Erneuerung der Demokratie und die Linkswende in Lateinamerika seit den späten 90er Jahren – das Werk von Dieter Boris reflektiert diesen Zyklus und die darin eingeschriebenen Veränderungen der Weltpolitik und des Weltmarktes, des Wandels der internen Klassenverhältnisse, der neuen Formen sozialer Spaltungen sowie der alten wie neuen Themen der sozialen Bewegungen.

Chiles Weg

Boris hatte sich früh mit Chiles Weg zum Sozialismus während der Regierung Salvador Allendes von 1970 bis 1973 beschäftigt. Dies war ein originelles Experiment, auf parlamentarischem Weg einen sozialistischen Kurs einzuschlagen. Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der damals regierenden Unidad Popular waren radikal: Verstaatlichung der Kupferindustrie, eine umfassende Landreform, schrittweise Nationalisierung von Schlüsselbetrieben, Ausbau der Sozialstaatlichkeit. Mit diesem Experiment der Unidad Popular setzte sich Dieter Boris zusammen mit Elisabeth Boris und Wolfgang Ehrhard in einem 1971 erschienen Buch auseinander. Dies wurde mit Worten eingeleitet, die das politisch geleitete wissenschaftliche Erkenntnisinteresse von Dieter Boris bis heute charakterisieren: »Es mag für viele, die gewohnt sind, bei der Abhandlung lateinamerikanischer Probleme neue und erregende Revolutionstheorien zu konsumieren, enttäuschend sein, keinerlei Guerillaromantik und kontinentale Verheißungen vorgesetzt zu bekommen.« Auch offizielle Parteiresolutionen seien kein Ausgangspunkt der Analyse. Vielmehr ging es ihm in dem Buch – und auch späteren zu gesellschaftlichen und politischen Veränderungsprozessen in Argentinien, Zentralamerika und Mexiko – darum, die gesellschaftlichen Triebkräfte der progressiver Veränderung, deren Möglichkeiten und Grenzen auszuloten.

Das hoffnungsvolle Experiment der Unidad Popular beendete am 11. September 1973 ein von den USA unterstützter Militärputsch, der eine massive Repression gegen die Linke und eine neoliberale Wende in der Wirtschafts- und Sozialpolitik einleitete. Auch Argentinien und Uruguay nahmen in den 1970er Jahren eine ähnliche neoliberal-diktatorische Wende. Damit mußte sich Dieter Boris auch mit den Gründen und Folgen neoliberaler, offen rechtsautoritärer Umschwünge auseinandersetzen.

In zahlreichen Arbeiten über die Veränderungen der politischen Ökonomie Lateinamerikas konstatierte er für viele Länder einen relativen Bedeutungsverlust der industriellen Arbeiterschaft, besonders dort, wo, wie in Argentinien, die neoliberale Wirtschaftspolitik eine starke De-Industrialisierung nach sich gezogen hat.

Die jüngeren Erfolge von (Mitte-)Links-Kräften bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen verortet Dieter Boris im Kontext der Krise neoliberaler Entwicklungsmodelle, eines Aufschwungs eines Teils der sozialen Bewegungen, aber auch veränderter Wahlstrategien von Mitte-Links-Parteien. Seine Einschätzung des Möglichen ist auch durch die verheerenden Niederlagen der lateinamerikanischen Linken in den 1970er und 1980er Jahren geprägt.

Brutale Lehrmeisterin v Heute wird Dieter Boris 70 Jahre alt. Sein Interesse und sein Schaffensdrang sind ungebrochen. Wie viele seiner Generation ist er skeptischer und sein soziologischer Blick für die Empirie schärfer geworden. Dabei bleibt für ihn der Satz des jungen Marx, daß es nicht genüge, »daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt«, sondern »daß die Wirklichkeit sich selbst zum Gedanken drängen muß«, maßgeblich.

Stets war ihm linksradikales Geschwätz, abstraktes Theoretisieren ebenso zuwider wie die wiederkehrenden modischen Trends, mit denen sich pseudolinke »Innovationen« in der Abgrenzung gegen vermeintlichen »traditionalistischen« Dogmatismus aufspreizen. Die Geschichte der linksradikalen Intellektuellen seit 1968 mit ihren zahlreichen opportunistischen Biographien ist hier eine geradezu brutale Lehrmeisterin. Daß sozialistische Veränderungen immer auch im Kontext von grundlegenden Fragen der Ökonomie (Vergesellschaftung / Planung), der politischen und ideologischen Machtverhältnisse und der Rolle des Staates, aber auch der internationalen Kräfteverhältnisse und der Strategien des Imperialismus (dessen Zentrum nach wie vor – zumal für Lateinamerika – die USA bilden) begriffen und bewertet werden müssen, gehört zu den Grunderkenntnissen nicht nur der Politik, sondern auch einer marxistischen Sozialwissenschaft.

Gleichzeitig ist vor dem Hintergrund dieser gesamten Periode der Marx’sche Hinweis aus dem »18. Brumaire« auf den Charakter der »proletarischen Revolutionen« nach wie vor hilfreich: diese »kritisieren beständig sich selbst, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichten«. Es ist die Kontinuität, mit der Dieter Boris diese Diskontinuitäten am Beispiel Lateinamerikas untersucht, die dem alten Ruf »Venceremos!« einen durchaus nachhaltigen Sinn verleihen.

* Aus: junge Welt, Montag, 27. Mai 2013


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