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Finanzkrise gefährdet den Frieden

Konfliktforscher fordern globale kooperative Sicherheitspolitik

Von Olaf Standke *

Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sicherheitspolitik nach den offensichtlichen globalen Machtverschiebungen steht im Mittelpunkt des »Friedensgutachtens 2012«, das am Dienstag in Berlin vorgelegt wurde.

Eine weltweite Verschiebung von Machtverhältnissen durch aufstrebende Länder, aber auch nichtstaatliche Akteure wie Banken und Ratingagenturen konstatieren die Wissenschaftler der vier Einrichtungen, die am Dienstag in Berlin das alljährliche Friedensgutachten vorgestellt haben. Mit ihrem atemberaubenden Boom werde vor allem die Volksrepublik China auf der internationalen Bühne ein zusehends gewichtiger Akteur - Gegenspieler und Partner der USA zugleich. »Vorbei sind die Zeiten unangefochtener Dominanz des Westens«, heißt es in der Stellungnahme des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (ISFH), der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), des Bonn International Center for Conversion (BICC) und der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg (FEST).

Diese strategische Entwicklung sei für die Zukunft des Weltfriedens nicht weniger von Belang als die akuten Konflikte und Kriege in aller Welt. »Wir halten es für falsch, einem neuen Antagonismus das Wort zu reden und China nach dem alten Strickmuster eindämmen zu wollen.« Vielmehr müsse es gelingen, aufsteigende Mächte wie die BRICS-Staaten (neben China sind das Russland, Brasilien, Indien und Südafrika) in die Weltordnung und internationale Verantwortung einzubinden. »Sicherheit ist nicht mehr gegen, sondern nur noch miteinander zu erreichen.«

Deshalb sei es auch Besorgnis erregend, dass sich die EU, beschäftigt mit ihrer Krise, nicht auf der Höhe der Zeit befinde. Die Wissenschaftler werfen ihr vor, die Banken »ungeschoren« zu lassen, obwohl eine Regulierung des gesamten Finanzmarktes dringend geboten sei. Stattdessen werde ganz Europa auf Druck der Bundesregierung »einem drastischen Spardiktat unterworfen, das die schwächeren Volkswirtschaften in die Rezession treibt und den Sozialstaat weiter abbaut«. Zudem herrsche ein »eklatanter Mangel an Solidarität« vor allem zwischen den wirtschaftlich erfolgreichen Staaten des Nordens und jenen im Süden, wie die Hamburger Friedensforscherin Margret Johannsen bei der Vorstellung des Gutachtens beklagte. So drohten die EU und der Sozialstaat vollends unter die Räder zu geraten: »Die Krise ist eine Gefahr für den Frieden in Europa.«

Die Euro-Krise dränge Deutschland zudem in eine europäische Führungsverantwortung, was aber etwas anderes sein müsse als Herrschaftsausübung. In diesem Zusammenhang kritisieren die Institute das Panzergeschäft mit Saudi-Arabien als falsches Signal. Geboten seien vielmehr Rüstungskontrolle, Abrüstung und weniger Rüstungsexporte. Kritisch betrachten sie auch die EU-Einwanderungspolitik. Die Abschottung widerspreche dem Angebot, mit den Ländern des »Arabischen Frühlings« enger zusammenzuarbeiten. Mit Blick auf die Gewalt in Syrien und libanesische Erfahrungen fragen sie, ob nicht auch dort ein »schmutziger Frieden« besser wäre als ein endloser Bürgerkrieg. Eine Militärintervention und Waffenlieferungen an die Opposition lehnen sie ab. Allerdings zeigte sich HSFK-Projektleiter Bruno Schoch gestern hinsichtlich des Annan-Friedensplans wenig optimistisch. Unabhängig davon müsse die Staatengemeinschaft humanitäre Hilfe leisten und die Nachbarstaaten bei der Flüchtlingshilfe unterstützen.

Die Drohung Israels, Irans Nuklearprogramm mit Luftangriffen zu stoppen, bezeichnen die Friedensforscher als völkerrechtswidrig. Zur Diplomatie gebe es keine Alternative. Israel und Iran benötigen Sicherheitsgarantien, die mit der Perspektive einer atomwaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten zu verbinden sind. Die Welt brauche keine Kernwaffen, sondern glaubwürdige Schritte zur vollständigen nuklearen Abrüstung.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 23. Mai 2012


Neue Zeiten

Von Olaf Standke **

Es ist kein erfreuliches Bild, das führende deutsche Friedensforschungsinstitute in ihrem neuesten Gutachten vom Zustand unserer Welt zeichnen. Verantwortung dafür trägt an vorderster Front jenes Militärbündnis, das sich jetzt in Chicago auf dem größten Gipfel seiner Geschichte ausgiebig selbst feierte. Der Nordatlantik-Pakt und allen voran die USA geben Jahr für Jahr mehr Geld für Rüstung und Krieg aus als der Rest der Staaten. Doch dass ihre Lage durch diese gigantische militärische Überlegenheit sicherer geworden sei, bezweifeln die Wissenschaftler. Mehr noch, eine Verschiebung der Wirtschafts- und Machtverhältnisse hin zu aufstrebenden Ländern wie China oder Indien, zumal unter dem Druck einer selbstverschuldeten Finanzkrise, ist unübersehbar. Die Zeiten einer unangefochtenen Dominanz des Westens sind global gesehen endgültig passé.

Das alles verlangt nach Analyse der Friedensforscher dringend ein neues Denken. Doch davon ist die NATO weit entfernt, und zu Recht warnt das »Friedensgutachten 2012« davor, etwa China nach altem Strickmuster »eindämmen« zu wollen und sehenden Auges in eine angeblich unvermeidliche Konfrontation zu schlittern. Sicherheit ist heute und morgen nicht mehr gegen-, sondern nur noch miteinander zu erreichen. Das gilt auch mit Blick auf Russland und den vom NATO-Gipfel auf den Weg gebrachten Raketenabwehrschild. Wer andere vom Wettrüsten abhalten will, muss selbst durch Abrüstung und Vertrauensbildung in Vorleistung gehen. Das hat der Pakt in Chicago nicht getan.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 23. Mai 2012 (Kommentar)

Die Stellungnahme der Institute kann hier heruntergeladen werden:

Stellungnahme [externer Link].




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