Die USA: "Zu allmächtig, zu triumphal"
Eric Hobsbawm über die Protektorate eines neuen Kolonialismus
Die Wochenzeitung "Freitag" veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom 26. Oktober ein Interview mit dem großen britischen Sozialhistoriker und Philosophen Eric J. Hobsbawm. Es handelt sich dabei um eine Übersetzung aus dem Französischen; das Interview war zuvor in der Zeitung "L'Humanité" erschienen.
FRAGE: Sie haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die
kapitalistische Wirtschaft die Welt einer Implosion oder Explosion
entgegen treibe. Auch wenn Ihnen die Gefahr eines neuen Weltkrieges
nicht gegeben scheine, so sagen Sie weiter, sei die Menschheit mit
immensen Problemen konfrontiert - so auch dem Anwachsen des
Fanatismus und Irrationalismus. Veranlassen Sie die aktuellen Ereignisse,
diese Thesen zu ändern?
ERIC HOBSBAWN: Sie verändern nichts am Ansatz. Ein Weltkrieg, sagen
wir in der traditionellen Form, scheint mir undenkbar, außer
möglicherweise eines Tages zwischen den Vereinigten Staaten und China.
Aber das ist nicht von heutiger Aktualität. Soweit es um große
Territorialkriege geht, die man "mittlere" nennen könnte, so haben diese
niemals aufgehört. Das gilt für den Mittleren Osten wie für Südasien. Die
jetzt neu gestellte Frage ist die nach der Existenz unabhängiger und
souveräner Staaten - und zwar bis zu dem Punkt: Können sie
weiterbestehen angesichts großer Nachbarn? Es ist heute möglich
geworden, einen Staat wie Afghanistan ohne Weltkrieg zu eliminieren,
denn der Druck, den ein hegemonistischer Staat auf einen weniger
wichtigen ausüben kann, ist beträchtlich geworden. Es handelt sich dabei
um ein eher neues Phänomen, das zu Zeiten des Kalten Krieges durch
den Bi-Polarismus eingedämmt war, aber heute hat es sich verstärkt.
Ist das eine lineare Entwicklung?
Natürlich ist keine Hegemonialmacht in der Lage, die Welt zu beherrschen.
Das gilt auch für die USA, obwohl die inzwischen über eine größere
Bewegungsfreiheit verfügen als irgendein Staat in der Vergangenheit. Sie
sind aber auch mit der Tatsache konfrontiert, dass die Probleme des
Imperialismus oder eher des Kolonialismus neuerlich in Erscheinung
treten. Dabei handelt es sich möglicherweise um die entscheidende
Neuheit in der postsowjetischen Epoche. Wir sehen besetzte Staaten,
deren Innenpolitik durch die Präsenz auswärtiger Kräfte kontrolliert wird,
wie das auf dem Balkan der Fall ist. Man spricht jetzt über die Vertreibung
oder den Sturz des Regimes in Afghanistan, aber dessen Ersetzung durch
ein provisorisches Regime unter Kontrolle der UNO, wie ich es sagen höre,
erinnert mich an die Zeit nach 1918, wenn neue Kolonien als
Völkerbundmandate getarnt wurden.
Welche Risiken birgt eine solche Option?
Das allergrößte Risiko, das sich schon seit zehn Jahren zeigt, besteht
darin, dass koloniale Okkupation nichts verbessert. In Bosnien, im Kosovo,
in Mazedonien hat die neue fremde Okkupation keineswegs die gewünscht
interne Stabilität gebracht.
Aus welchen Gründen meinen Sie, dass die amerikanische Supermacht
nicht mehr fähig wäre, die Welt zu dominieren?
Die Welt ist zu groß und zu komplex.
Die Illusion, dass die USA in der Lage wären, den ganzen Planeten zu
regieren, existiert aber trotzdem, nicht zuletzt in Europa ...
Das ist eine weltweit verbreitete Illusion. Bis zum Anschlag auf das World
Trade Center waren die Führer der USA, wie ich glaube, zu triumphal. Sie
hielten sich für allmächtig, für außerhalb jeder Gefahr.
Sehen Sie, im 19. Jahrhundert, als das britische Empire eine weltweite
Hegemonie ausübte, waren dessen Führer realistisch und intelligent
genug, um der Ambition zu widerstehen, alles zu kontrollieren. Sie
wussten, das Maximum, was man tun konnte, bestand darin, die Situation
im Sinne des Erhalt angesammelter Macht zu manipulieren. Sie wussten,
dass man nicht vorgeben durfte, zu dominieren - weder in Europa, noch
sonst irgendwo. Ich fürchte, dass wir nicht mehr genügend Zeit haben - und
das ist keineswegs ein Werturteil - bis die neue Hegemonialmacht die
Grenzen ihrer Kapazitäten in der jetzigen komplexen, sich stetig
verändernden Welt erkennt.
Sie haben davon gesprochen, dass man Lösungen auf der Ebene der
Politik suchen muss. Wie sollte das geschehen?
Die USA müssen von Neuem überlegen, was sie tun können. Das Problem
besteht aber eben auch in den großen Strukturen, die hinter den Staaten
stehen und die Welt in den nächsten Jahrzehnten beherrschen werden. Ich
denke da vor allem an die Wirtschaft und die Dialektik zwischen der
Wirtschaft und den Regierungen.
Das andere Problem ist ideologischer Natur - es gab das Debakel der alten
Ideologien, die darauf zielten, die Völker zu mobilisieren und sich dabei auf
die Tradition der Aufklärung und der großen Revolutionen - der
französischen, der amerikanischen, der russischen - beriefen. Selbst
jenseits der Linken trifft die heutige Krise die gesamte Tradition, die auf
dem Rationalismus beruht. Das hat einen enormen Raum für andere Kräfte
hinterlassen. Ich denke nicht nur daran, was sich derzeit in der
moslemischen Welt abspielt, sondern auch daran, was man in einigen
westlichen Ländern beobachten kann, die Fremdenfeindlichkeit etwa.
Welche Möglichkeiten gibt es nach Ihrer Auffassung, dem entgegen zu
treten?
Sehen Sie, die Attentate vom 11. September haben auf tragische Weise
demonstriert, dass die totale Freiheit des Marktes und des Geldverkehrs,
es gerade nicht erlaubt hat, jene Gefahren, in denen sich die USA
befinden, zu kontrollieren. Ich habe den französischen Regierungschef
Lionel Jospin sagen hören: man darf dem Markt nicht eine unkontrollierte
Freizügigkeit überlassen. Und angesichts der enormen Risiken eines
Zusammenbruchs der Finanzplätze sind es gerade jetzt die Regierungen -
darunter auch die Administration in Washington -, die sich um Regulierung
genau dieser Prozesse zu kümmern beginnen. Sie tun, was alle Ideologen
der freien Märkte seit 20 Jahren verweigert haben. Ich beginne daher an die
Möglichkeit zu glauben, dass die Gewalt dieser puren und harten Ideologie
gebremst wird.
Interview: Humanité
Übersetzung: Walter Baier
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