Der Islam: Eine neue Herausforderung für die Sicherheit des Westens?
Von Werner Ruf*
*Ringvorlesung Haydauer Hochschulgespräche, 15.05.00
Vorbemerkung: Begriffe und Paradigmen.
Ohne Zweifel ist die islamische Religion in den letzten zwei Jahrzehnten für die Menschen in diesem Kulturraum verstärkt zu einem Kristallisationspunkt ihres kulturellen und z.T. auch politischen Selbstverständnisses geworden. Damit geht notwendigerweise einher der Rückgriff auf die Quellen der Religion und die Auseinandersetzung mit diesen. Problematisch erscheint jedoch die Etikettierung dieses Prozesses als "Fundamentalismus". Dieser gängige Begriff soll hier allerdings nicht verwendet werden, und zwar aus folgenden Gründen: Zum ersten ist er begrenzt auf den anglophonen (und germanophonen) Raum; in der frankophonen Welt wird stattdessen (wie für die puristisch-dogmatischen Tendenzen im Katholizismus) der Begriff "Integrismus" verwendet. Zum zweiten handelt es sich um einen im Westen geprägten Begriff, der auf ultrakonservative, "bibeltreue" protestantische Bewegungen in den USA um die Jahrhundertwende verweist, der also bereits ideologisch besetzt ist und nur schwer auf den islamischen Raum übertragbar erscheint. Schließlich sind beide Begriffe aus dem westlichen Sprachgebrauch entlehnt; sie werden pauschal auf sehr unterschiedliche ideologische Strömungen im islamischen Raum der Gegenwart angewendet und - dies erscheint mir besonders wichtig - für die Muslime selbst hat der Begriff abwertenden Charakter.
Der unbestreitbare Tatbestand eines in vielen muslimischen Gesellschaften zu beobachtenden Re-Islamisierungsprozesses wurde, vielleicht nicht zufälligerweise, unmittelbar nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zum Erklärungsmodell zu-künftiger Weltkonflikte erhoben, das seinen popularisierten Höhepunkt in den Arbeiten des amerikanischen Politologen Samuel P. Huntington fand. Wohl nur selten hat ein sozialwissenschaftliches Paradigma solche Publizität und Akzeptanz gefunden wie die grobschlächtigen Visionen Huntingtons, die nicht nur in allen Kanzleien und wissenschaftlichen Beratungsgremien der westlichen Regierungen höchste Beachtung fanden, sondern auch eine zentrale Rolle spielen in der Auseinandersetzung um die Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens mit muslimischen oder muslimischstämmigen Minderheiten in Europa. Ist der Aufmerksamkeitsgrad, den Huntingtons Entwurf im Westen gefunden hat - so die hier vertretene These - sicherlich auch einer spezifischen Konjunktur der internationalen Beziehungen zu verdanken, so ist die Rezeption seines Modells sicherlich auch auf die extreme Vereinfachung hochkomplexer Zusammenhänge zurückzuführen, die der Autor bewußt betreibt:
>"Es ist notwendig, ein simples Paradigma zu haben, mit dem über die Welt nachgedacht wird. (...) Wenn wir uns weigern, die Notwendigkeit einfacher Landkarten anzuerkennen, werden wir Gefangene von Vorurteilen, von denen wir nicht wissen, daß wir sie haben."
Ein solcher Appell eines Sozialwissenschaftlers zur Vereinfachung, ja Banalisierung hochkomplexer Zusammenhänge erscheint, gelinde gesagt, erschreckend.
1. Das Ende des Ost-West-Konflikts und die Wiederbelebung des Feindbildes Islam
Zunächst darf nicht übersehen werden, daß während des Ost-West-Konflikts sowohl innerhalb "des Westens" wie vor allem auch in den islamischen Ländern die Religion instrumentalisiert wurde als wichtige ideologische Gegenkraft gegen den "atheistischen Kommunismus". Dies geschah im Westen durch beständige Verweise auf die christlich-abendländische Tradition, verstanden als Gegenkraft gegen den sozialistischen Materialismus. Noch mehr war dies der Fall im islamischen Raum, wo islamische und islamistische Bewegungen gestützt und gefördert wurden als Gegenkraft gegen die Sowjetunion, oder aber als innenpolitische Gegenbewegungen gegen Regime, die gute Beziehungen zur Sowjetunion pflegten und einen mehr oder weniger an sozialistischen Modellen orientierten Umgestaltungsprozeß ihrer eigenen Gesellschaften betrieben, wie dies beispielsweise im nasseristischen Ägypten der Fall war. Nur so ist die massive Unterstützung der USA (und vor allem Saudi-Arabiens) sowohl für die Muslimbrüder im Nahen Osten, für die algerische Islamische Heilsfront wie für die gegen die sowjetische Präsenz in Afghanistan kämpfende islamistische Guerilla erklärlich. Eine der kleinen Ironien der Weltgeschichte ist es, daß die Mitglieder dieser ehemaligen man ist versucht zu sagen " internationalen islamistischen" Brigaden, heute als hochqualifizierte Berufsterroristen in vielen islamischen Ländern - von Bosnien bis Algerien und selbst Saudi-Arabien - für terroristische Anschläge verantwortlich gemacht werden.
Diese "Nebenerscheinungen" der Verwerfungen in der internationalen Politik finden jedoch in der Medienberichterstattung kaum Beachtung. Pauschalisierende Klischees erscheinen hier handbbarer. Eine erste, "den Islam" zum Feindbild erhebende Interpretation eines zwischenstaatlichen Konflikts folgte der Iranischen Revolution und der Geiselnahme US-amerikanischer Diplomaten in Teheran. Sie blieb jedoch zunächst auf den schiitischen und die geradezu feindlichen Beziehungen zwischen Washington und Teheran beschränkt. Die neue Dichotomisierung der Weltsicht erfolgte jedoch, und dies erscheint keineswegs zufällig, im Augenblick der Krise um Kuwait und des darauf folgenden Zweiten Golfkrieges, der zusammenfällt mit dem Austritt der Sowjetunion aus der Weltgeschichte, sah sich diese doch nicht mehr in der Lage, die Anti-Irak-Resolution des UN-Sicherheitsrates zu verhindern. Reinhard Schulze hat die im Entstehen begriffene neue Weltsituation, lange bevor der diese These voll bestätigende Aufsatz von Huntington erschien, treffend auf den Begriff gebracht:
"Folglich bedeutete der Zusammenbruch des Ost-West-Systems 1989/90 einen tiefen Einschnitt in die Selbstlegitimation. Fehlte nun das 'Andere' als Projektionsfläche für die faktische Antithese in der eigenen Gesellschaft, drohte ein Defizit, ja eine Lücke in der Beschreibung des 'Wir'. Der Kuwait-Krieg, der propagandistisch schon seit Ende August 1990 geführt wurde, konnte innerhalb kürzester Zeit diese Lücke wieder schließen. Aus dem Osten wurde der Orient, aus dem Kommunismus der Islam, aus Stalin Saddam Hussein. Die Antithetik, die für den Westen bestimmend ist, wirkte nur noch radikaler. (...) Der Islam wurde als Prinzip des Orients ausgemacht, als Bewahrheitung des Irrationalen, gegenaufklärerischen Fundamentalismus, als Universalie, die nicht nur Ideologie ist, sondern allumfassend Gesellschaft, Kultur, Staat und Politik beherrschen will. Der Islam wird nun nicht nur als ideologische Antithese begriffen, sondern als gesamtkulturelle Antithese zum Westen und seiner universalistischen Identität. Der Islam gerät so zur Begründung des Gegen-Westens, zur Gegen-Moderne, ja zur Gegen-Zivilisation."
Hier kann nicht auf die sozialpsychologischen Mechanismen und Instrumente eingegangen werden, die offenkundig unverzichtbar sind, wenn es darum geht, eine kollektive Identität herzustellen, die zu ihrer Definition des "negativen" (Gegenbildes) des "Anderen" bedarf. Wie schnell, ja beinahe nahtlos dieser Wechsel im Feindbild vom verschwundenen Kommunismus zum neuen Feindbild Islam vor sich ging, zeigen beispielsweise die einschlägigen Formulierungen im französischen Verteidigungsweißbuch von 1994, wo festgestellt wird:
"Der islamistische Extremismus stellt ohne Frage die beunruhigendste Bedrohung dar. (...) Er nimmt oft den Platz ein, den der Kommunismus innehatte als Widerstandsform gegen die westliche Welt."
Ähnlich formulierte der damalige NATO-Generalsekretär Willi Claes, als er feststellte, daß der islamische Fundamentalismus möglicherweise eine größere Bedrohung darstellt als dies der Kommunismus war. Daß eine derart schnelle (Wieder)Belebung des Feindbildes Islam möglich war, dürfte im wesentlichen zwei Gründe haben:
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Die Latenz eines lange vorhandenen Feindbildes, das sich mehr oder minder um den Islam rankt.
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Die mit der Globalisierung einhergehenden Prozesse, in deren Folge nicht nur staatliche Handlungsspielräume schrumpfen, sondern auch durch die Transnationalisierung der Ökonomie und durch Prozesse der Migration und multikulturelle Lebensformen und gesellschaftlich Herausforderungen (bei weitem nicht nur in Westeuropa!)entstehen. Diese Herausforderungen für überkommen identiäre Vorstellungen von (nationalen) Kollektiven können auch als Sicherheitsgefährdungen interpretiert und wahrgenommen werden.
Zum ersten:
Zur historisch-literarischen Figur der identitären Sinnstiftung wurden sowohl auf seiten des Orients wie des Okzidents schon sehr früh die Kreuzzüge instrumentalisiert und "der Orientale" wurde im "Abendland" zu einem Feind-bild transformiert, das sich - von den Kreuzzügen über die antijüdischen und antitürkischen Tiraden eines Martin Luther bis zu den Konflikten mit dem Osmanischen Reich - bis ins 19. Jahrhundert hinzog, als Kolonialismus und Imperialismus ihre technische, ökonomische und militärische Überlegenheit auch dadurch kulturell-ideologisch absicherten, daß sie den "Anderen", nämlich den Orientalen, zum kulturologisch, ja rassisch minderwertigen Menschen erklärten. Entsprechend den rassistischen Klischees des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wurde nun die Überlegenheit des Okzidents genetisch-kulturologisch erklärt und begründet; so etwa, wenn der "Vater" des Orientalismus, Ernest Renan, den Orientalen die Unfähigkeit zu wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen bescheinigte wegen
"(...) der schrecklichen Schlichtheit des semitischen Geistes, die den menschlichen Verstand jeder subtilen Vorstellung, jedem feinsinnigen Gefühl, jedem rationalen Forschen unzugänglich macht, um ihm die immer gleiche Tautologie 'Gott ist Gott' entgegenzuhalten".
So wird der Orient einerseits zum Reich der Untermenschen herabgewürdigt, andererseits ist er aber auch Projektionsort von Sinnlichkeit und Lüsten, die im strengen Moralkodex des Christentums keinen Platz haben. Diesen beiden Charakteristika ist gemeinsam, daß der Orient zum Gegenteil von Vernunft, Freiheit und Veränderbarkeit hochstilisiert werden kann, wie es Aziz el Azmeh treffend auf den Punkt bringt:
"Der Vernunft entsprach enthusiastische Unvernunft, politisch übersetzt als Fanatismus, eines der Hauptanliegen der Wissenschaftler und Kolonialisten des 19. Jahrhunderts wie der zeitgenössischen Fernsehkommentatoren. Dieser Begriff liefert eine Erklärung für den politischen und sozialen Antagonismus zu kolonialer und nachkolonialer Herrschaft, indem politische und soziale Bewegungen auf Beweggründe reduziert werden, die Menschen mit Tieren gemeinsam haben. (...) Die Zivilgesellschaft, der Ort, an dem individuelle Bedürfnisse rational koordiniert werden, und welche den Staat hervorbringt, ist undenkbar. (...) Islam, als Anomalie (...) wird als Anachronismus betrachtet, seine Charakteristika - Despotismus, Un-Vernunft, Glauben, Stagnation, Mittelaltertum - gehören zu Stadien der Geschichte, deren Inferiorität eine zeitliche Dimension erhält. (...) Niedergang wird so nicht zu einem Tatbestand historischer Prozesse, sondern ein vorhersehbares Ereignis der metaphysischen Ordnung."
Es ist genau dieses Bild genetisch-kulturologisch bedingter Unfähigkeit, das von Samuel Huntington wieder aufgegriffen wird, wenn er in seinem flammenden Appell "The West unique, not universal" mit großem Nachdruck darzulegen versucht, daß Werte wie Menschenrechte und Demokratie oder Eigenschaften wie Rationalität ausschließlich Spezifika des Westens seien und daher gar nicht universell sein könnten, woraus er dann die Folgerung ableitet, der Westen müsse endlich aufhören, diese nur innerhalb seines Kulturkreises möglichen Prinzipien auf andere Kulturkreise ausdehnen zu wollen - ein aufgrund von deren Eigenart ohnehin nutzloses Unterfangen.
An diesem Punkt schließt sich der Kreis, der die Wiederbelebung alter und in unterschiedlichen historischen Epochen verschieden gedeuteter identitärer Differenzen wiederbelebt und sie für heutige praktische Politik verwendbar macht, wenn etwa Huntington am Ende seines Aufsatzes "The Clash of Civilizations?" dringend den Ausbau der militärischen Überlegenheit des Westens gegenüber den anderen Kulturkreisen anmahnt, oder wenn - in relativer intellektueller Dürftigkeit - der (damalige) deutsche Inspekteur des Heeres, Helge Hansen, Huntingtons kulturologische Ergüsse in militärisch-politische Denkmuster zu kleiden versucht:
"Abschreckung war bisher bestimmt von rationaler abendländischer Logik, wenn auch im Osten ideologisch geprägt. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Wegtreten einer Welt- und Ordnungsmacht ist dies jetzt anders. Ausgangspunkte künftiger Konflikte sind Irrationalität, nicht vorhandenes Risikobewußtsein und nahezu unbegrenzte Risikobereitschaft. Abschreckung in der klassischen Form kann und wird daher schlicht nicht mehr funktionieren, zumindest nicht, um vom Einsatz konventioneller Waffen abzuhalten. (...) Sicherheit bedeutet dann nicht nur die territoriale Integrität und den Schutz vor direkten militärischen Angriffen, sondern beinhaltet - weiter gespannt - den Erhalt unserer Werteordnung und des politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Systems."
Zum zweiten:
Wie bereits aus den vorangestellten Zitaten hervorging, zeichnet sich die westliche "Wir"-Sicht der orientalisch-islamischen "Anderen" aus durch ein Begriffsgemenge, das alte, aus den rassistischen Paradigmen des 19. Jahrhun-derts stammende Vorstellungen von Irrationalität und daraus folgender Unberechenbarkeit verquirlt mit neuen Bedrohungsvorstellungen, die nun nicht mehr in den Formen klassischer militärischer Bedrohungen erscheinen, also nicht mehr als Konflikte zwischen territorial verfaßten Nationalstaaten gedacht werden, sondern die auch "den Erhalt unserer Werteordnung und des politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Systems" beinhalten. Diese Erweiterung des Sicherheitsbegriffs um die in der Militärsprache immer wieder beschworenen sogenannten "neuen Risiken" ist gleichfalls das Resultat des Endes der Bipolarität, war doch der Ost-West-Konflikt der vorläufig letzte ideologisch wie territorial definierbare Systemgegensatz. Über ihn legitimierten sich die westliche (und östliche) Hochrüstung ebenso wie die Existenz der Armeen und Militärbündnisse.
Mit der Implosion der Sowjetunion und der Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation schwanden dem Westen nicht nur Feind und Feindbild, sondern auch die Legitimationsbasis für die eigene Hochrüstung. Gleichzeitig wurden Herausforderungen immer sichtbarer, die transnationaler Natur sind, sich auf den verschiedensten Politikfeldern zeigen und die zugleich nicht mehr durch national-staatliche Politik regulierbar sind. Dies gilt für die Internationalisierung und Deregulierung der Ökonomie und der Finanzmärkte ebenso wie für die Arbeitsmärkte, für ökologische Gefahren, aber auch für die Internationalisierung von Kriminalität oder Terrorismus. Diese Gefahren, in der militärischen Sprache zu "neuen Risiken" transformiert, werden nun z.T. zur Legitimation der Aufrüstung herangezogen, z.T. aber auch in der innenpolitischen Diskussion zur Pflege des hier behandelten Feindbildes genutzt. Wie Bevölkerungswachstum und die - in Europa in den 60er Jahren gezielt eingeleitete - Migration zu einem solchen "neuen Risiko" hochstilisiert werden, demonstrierte der damalige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, der Aachener CDU-Abgeordnete Hans Stercken:
"Niemand kann eine schlüssige Antwort auf die Frage geben, was denn die steigende Überbevölkerung dieser Welt für die Stabilität innerhalb und zwischen den Kontinenten künftig nach sich ziehen könnte. Was bedeuten die Bevölkerungsexplosion im Norden Afrikas und die neue hedschra , die schon Millionen Menschen aus diesem Lebensraum nach Italien, Spanien und Frankreich in Bewegung gesetzt hat. (...)
Glauben wir etwa, daß durch den derzeitigen Umfang der Entwicklungshilfe die Bevölkerungsexplosion in diesem Teil der Welt, aber auch in Asien und Lateinamerika, unter Kontrolle gebracht werden könnte und was sind dann am Ende die Konsequenzen (...)?
Da liegt doch der Gedanke nahe, die Entwicklung und den Fortschritt gleich bei uns abzuholen."
Deutlich wird an diesem Beispiel, daß die Problematik der Identitätssuche und -findung nicht mehr deckungsgleich ist mit national-territorialstaatlich verfaßten Räumen, sondern zunehmend zu einem transnationalen und damit zugleich innergesellschaftlichen Phänomen wird. Inwieweit diese Prozesse zu Konflikthaftigkeiten führen oder aber die positive Entwicklung pluraler und multikultureller Gesellschaften, einschließlich damit verbundener Toleranz, fördern, kann hier nicht diskutiert werden, hängen sie doch eng zusammen mit allgemeinen ökonomischen und sozialen Entwicklungen, aber auch mit kurzfristigen politischen Interessen, wie dies die jüngsten Wahlkämpfe in der Bundesrepublik und insbesondere die in Verbindung mit der Wahl in Hessen von der CDU betriebene "Volksabstimmung" gezeigt haben. Keineswegs sind sie Resultat eines (genetisch)-kulturologischen Determinismus, wie er beispielsweise in der Flut von Literatur über "Muslime in Deutschland" oder "Muslime in Europa" aufscheint.
2. Re-Islamisierung als politischer Prozeß
Der orientalistische Diskurs über die Inferiorität der Muslime war jedoch nicht nur Ideologie, er hatte auch harte materielle Bestandteile: So wurde er genutzt zur Diskriminierung und zum Ausschluß vor allem vom Bildungswesen, was den Kolonisierten oft den Zugang zu freien Berufen und hohen Ämtern in der Verwaltung erschwerte. Besonders kraß war diese Instrumentalisierung der Religion zwecks Diskriminierung von Muslimen in Algerien, wo zwar die Kolonisierten die französische Staatsangehörigkeit mit all ihren Pflichten hatten, jedoch von der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen Rechte ausgeschlossen wurden, indem sie einem besonderen "muslimischen Rechtsstatut" unterstellt wurden. Die Diskriminierung mittels der Religionszugehörigkeit bewirkte so die Identitifizierung der Muslime mit dem Spezifikum, das sie von den Europäern abgrenzte, nämlich der Religion. Bereits die islamische Reformbewegung (die heute vermutlich Funda-mentalismus genannt würde) unter der geistigen Führung von Jamal Eddine al Afghani und Mohamed Abduh ist zu verstehen als eine solche identitätsstiftende Gegenreaktion. So stellt Peters bezüglich dieser Bewegung, der Salafiya, fest:
"Auf diese Weise wurde aus dem Islam für viele Muslime etwas, was in ihrem Bewußtsein überwiegend - und bei manchen von ihnen sogar ausschließlich - ein Wesenselement ihrer kulturellen Identität darstellt, das gegen äußere Angriffe verteidigt werden muß, und nicht so sehr eine Art des Gottesglaubens, der Entdeckung von Ziel und Sinn des Lebens und eine ideale Gesellschaftsordnung. Diese neue Aufgabe erfüllen zu können, mußte der Islam zu etwas werden, auf das man stolz sein konnte."
Als identitäre und gegen den Kolonialismus gerichtete politische Bewegung verwoben sich islamische Identitätskonzepte mit nationalistischen Vorstellungen. In geradezu paradigmatischer Weise gilt dies für die Identitätsformel des algerischen Nationalismus: "Der Islam ist meine Religion, Arabisch meine Sprache, Algerien mein Vaterland"; aber auch in vielen anderen arabischen Ländern verbanden sich religiöse Identitätsvorstellungen mit nationalistischen Ansprüchen. So ist es kein Zufall, daß - außer im multikonfessionellen Libanon und in der von Mustapha Kemal "Atatürk" reformierten Türkei - der Islam in sämtlichen Staaten des Nahen Ostens Staatsreligion ist. Und selbst in der Hochphase des säkularistischen arabischen Nationalismus wurden die damals verfolgten, an sozialistischen Modellen orientierten Entwicklunsstrategien mit den egalitären Forderungen des Kor'an legitimiert. Die einzige Ausnahme bildete die Baath-Partei, während in Marokko zeitweilig von "königlichem Sozialismus" die Rede war.
Weder die am kapitalistischen Modell orientierten modernisierungstheoretischen noch die sich auf sozialistische Konzepte berufenden Entwicklungsstrategien brachten den gewünschten wirtschaftlichen Erfolg. Im Gegenteil, beide verschärften die sozialen Gegensätze innerhalb der islamischen Länder. Hinzu kam, daß dieses Scheitern im Falle der eher sozialistisch orientierten Länder zeitlich weitgehend zusammenfiel mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des "Sozialistischen Lagers". Das Anwachsen von sozialer Ungerechtigkeit und die Verschärfung der Antagonismen innerhalb der Gesellschaften konnten so leicht interpretiert werden als Folge dieser Entwicklungsmodelle, die - "kapitalistisch" oder "sozialistisch" - beide aus dem Westen importiert waren und denen eines gemeinsam war: der Atheismus, der, aus islamischer Sicht, die Grundlage des westlichen Systems darstellt. Und auf der Erscheinungsebene war es nicht schwierig, die herrschenden "Eliten" als Handlanger des Westens zu brandmarken; profitierten sie selbst ja von der Entwicklung der Unterentwicklung, indem sie sich als Staatsbürokratien Pfründen und Privilegien aneigneten, während die breiten Massen zunehmend verarmten. So ist es sicherlich zutreffend, die sozio-ökonomische Entwicklung in diesen Ländern als einen Prozeß zu bezeichnen, der deren Gesellschaften in eine dünne Schicht von Modernisierungsgewinnern und eine breite Masse von Modernisierungsverlierern spaltete.
Ohne Zweifel hat die Iranische Revolution eine katalysatorische Wirkung auch auf die islamistischen Bewegungen in den sunnitischen Ländern gehabt, zeigte sie doch, daß ein Volksaufstand den Umsturz eines verhaßten Regimes bewirken kann, ebenso wie die Neuordnung einer Gesellschaft auf der Basis islamischer Prinzipien. Nur vor dem Hintergrund der wachsenden sozialen Unzufriedenheit und der Suche nach eigener Identität wurde sie zu einem politischen Signal, das das Anwachsen der Bewegungen in den einzelnen Staaten verstärkte und einige Gruppierungen auch zu gewaltsamen Maßnahmen greifen ließ.
Dabei ist es jedoch absurd, wie Huntingtons Modell vom "Kampf der Kulturen" suggeriert, das Aufbegehren in den islamischen Ländern und die zahlreichen sich auf islamische Prinzipien berufenden sozialen Bewegungen als ein geschlossenes Ganzes zu verstehen. Zu verschieden sind die jeweiligen nationalen geschichtlichen Prägungen, zu unterschiedlich die jeweiligen Interessen der einzelnen Gruppierungen, und - folgerichtig - die jeweiligen Interpretationen der islamischen Quellen für aktuelle politische Zielsetzungen. Denn es geht den islamistischen Bewegungen weniger um die Herstellung irgendwelcher "gottesstaatlicher" politischer Systeme als um die Eroberung der politischen Macht und die Vertreibung der autoritären und diktatorischen Regime, die seit Jahren die orientalischen Gesellschaften im polizeistaatlichen Griff halten, die politische Herrschaft zu ihrer privaten Bereicherung benutzen und jede Legitimität verloren haben. Eine Ironie dieser makropolitischen Entwicklung ist, daß eben diese Regime, um wenigstens Teile ihrer Legitimität zurückzugewinnen, selbst eine Islamisierung der Gesellschaft vorantreiben (Alkoholverbot, Abbau der Frauenrechte etc.), dadurch den Islamismus befördern, selbst aber die verlorene Legitimität in den Augen ihrer Bevölkerungen auch dadurch nicht zurückgewinnen können.
Somit ist festzustellen, daß die islamistischen Bewegungen ihren Nährboden finden in der Masse der Verarmten und Marginalisierten, die genug haben von den Versprechungen der Herrschenden, die der Perspektivlosigkeit, der Arbeitslosigkeit und dem Elend ein Ende setzen wollen. Die jahrzehntelangen Versprechungen eine beginnenden sozialen Aufstiegs, die rhetorisch immer wieder vorgetragenen Verweise auf den Islam und seine sozialen Prinzipien sind angesichts des Lebensstils derer, die sie predigen, verpufft. Während die Regierungen der arabischen Welt - ihre Herrscher sind mit Abstand die "dienstältesten" des Planeten - zunehmend ihre Legitimität verloren haben, können sich die islamistischen Bewegungen präsentieren als Erben und Bewahrer des alten nationalistischen, anti-imperialistischen, und darum: anti-westlichen Diskurses; und es fällt ihnen nicht schwer, auf der Erscheinungsebene den Nachweis zu führen, daß die Herrschenden letztlich nur im Interesse des verhaßten Westens agieren und sich dabei auf Kosten der Bevölkerung und der nationalen Ökonomie bereichern. Hinzu kommt die bedingungslose Unterstützung des Westens und vor allem seiner Vormacht, der USA, für das als imperialistisches Implantat empfundene Israel, dessen permanente Verstöße gegen elementare Prinzipien des Völkerrechts niemals sanktioniert wurden, ganz im Gegensatz beispielsweise zum Annexionsversuch Iraks gegenüber Kuwait.
Und hier gerät westliche Außenpolitik in ein Dilemma: Während einerseits verbal die Errichtung demokratischer Strukturen und die Respektierung der Menschenrechte gefordert werden, scheint es dem Westen in Wirklichkeit um die Erhaltung von Stabilität zu gehen, die auf die Absicherung der vorhandenen autoritären und repressiven Systeme hinausläuft. Die nahezu blinde Unterstützung der vorhandenen Regime, mit denen man umgehen zu wissen meint, führt auch dazu, daß jede politische Opposition sprachlos gemacht wird, daß die Regierungen im Maghreb und im Nahen Osten unter Verweis auf "den Terrorismus" einzelner kleiner islamistischer Gruppen sich als Vorfront westlicher Sicherheitspolitik gegen die sogenannte islamistische Bedrohung präsentieren können und daß diese Regierungen reale oder vermeintliche islamistische Bedrohungen nutzen, um westliche Hilfe zu erhalten. Ist aber nicht das Aufbegehren der Islamisten, ihr Wunsch nach Teilhabe an der Macht und nach Mitwirkung an der gesellschaftlichen Steuerung und Entwicklung, eine elementare demokratische Forderung? Und sind schließlich nicht "Begriffe wie 'Terrorismus' relativ und (lassen sie) sich (nicht) leicht für die Kriminalisierung politischer Gegner mißbrauchen?: So können in autoritären Regimen damit auch Oppositionsgruppen kriminalisiert werden, gerade weil sie demokratische Ziele verfolgen."
Ferner: Bestätigt nicht der Westen, indem er sich frontal gegen alle mehr oder weniger islamistischen Bewegungen stellt, das alte Klischee und Vorurteil, wo-nach es dem Westen nur um einen schon Jahrhunderte dauernden Kampf gegen die Völker dieser Region, ihre Kultur und Religion gehe? Daß durch solch konfrontative Politik nur die radikalen Kräfte gefördert werden, weil die gemäßigten in der Kompromißlosigkeit beider Seiten keine Chance der politischen Vermitt-lung erhalten, liegt auf der Hand.
Zutreffend ist an der Analyse Samuel Huntingtons sicherlich die Ausgangshypothese, daß an der Wende zum dritten Jahrtausend die Staaten nicht mehr die einzigen und exklusiven Akteure des internationalen Systems sind. Dies ist zwangsläufiges Resultat der Globalisierung. Falsch ist es jedoch, die Kulturen als die (einzigen) neuen Akteure politischen Handelns zu beschwören und diese als mehr oder weniger friedfertig zu bezeichnen, während dem Islam besondere Aggressivität bescheinigt wird: "Islam has bloody borders". Durch solcherart konfrontative Modelle werden Identitäten erst geschaffen, Konflikte mitproduziert. Eine auf dieser Art des konfrontativen Denkens basierende Politik produziert nicht nur Widerstand, sondern fördert die Legitimität gerade auch islamistischer Gewaltanwendung und stützt letztendlich die radikalsten Elemente, nur um selbst militärisch-repressive "antiterroristische" Antworten zu rechtfertigen, ob diese nun mit dem Völkerrecht vereinbar sind oder nicht, wie beispielsweise die jüngsten Angriffe der USA auf den Sudan und Afghanistan nach den Terroranschlägen gegen die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam.
Das Denken in den Modellen vom Kampf der Kulturen läuft so Gefahr, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden; zu einem Teufelskreis, in dem sich nicht nur Konflikthaftigkeit, sondern Terror und Gegenterror wechselseitig bedingen und schließlich rechtfertigen. Sollte es denn wirklich zutreffen, daß, wie Sam Huntington sagt, Rationalität eine der wesentlichen Eigenschaften der westlichen Kultur sei, dann wäre es höchste Zeit, daß eben dieser Westen, seine Politikberater und seine politisch Handelnden die sozialen und ökonomischen wie auch kulturellen Prozesse in den islamischen Ländern rational verfolgen, die dortigen sozialen und politischen Entwicklungen rational analysieren und im Sinne einer langfristigen, auf Frieden, Demokratie und Ausgleich orientierten Politik rationale Strategien entwickeln. Solche Politik impliziert notwendigerweise die Akzeptanz politischer Kräfte, die in den Augen großer Bevölkerungsteile der islamischen Welt als deren legitime Vertreter gelten. Und solche Akzeptanz als legitime politische Akteure und als Verhandlungspartner führt die islamistischen Bewegungen aus der Kriminalisierung heraus und zwingt sie in den Rahmen legaler politischer Betätigung - wenn denn dann eines Tages, wofür der Westen doch immer wieder plädiert, ein Minimum an Pluralismus und Demokratie möglich sein wird. Eine solche Entwicklung zu befördern, wäre konstruktive Sicherheitspolitik für Orient und Okzident zugleich.
Aus technischen Gründen enthält dieser Beitrag keine Fußnoten. Wer am wissenschaftlichen Apparat interessiert ist, kann den vollständigen Beitrag nachlesen in:
prisma (Zeitschrift der Universität Gesamthochschule Kassel), Juli 2000, S. 39-45.
Bestellung per Internet: presse@uni-kassel.de
Eine wissenschaftliche Konferenz unter dem Thema "Islam and the West" findet vom 15. bis 17. September im nordhessischen Kloster Haydau statt. Anmeldungen ebenfalls über die Internetadresse der UniGHK.
Konferenzsprache ist Englisch.
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