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In letzter Instanz

Lehrer der Demokratie: Reinhard Kühnl wird 75

Von Georg Fülberth *

Wird irgendwo wieder einmal die NPD in einen Landtag gewählt, ist das Entsetzen groß. Die Mainstream-Medien und alle nichtfaschistischen Parteien betonen, für Rechtsextremisten dürfe in der Gesellschaft kein Platz sein.

Es ist sinnvoll, dafür einzutreten, daß im Kapitalismus nicht die schlimmste Art bürgerlicher Herrschaft, nämlich die faschistische, ausgeübt wird. Ein solcher Kampf ist nicht aussichtslos.

Aber: Es sollte nicht verdrängt werden, daß die herrschende Klasse des Kapitalismus, so lange er bestehen wird, in letzter Instanz immer diese faschistische Option haben wird. Wer sie ausschließen will, muß über die bürgerliche Gesellschaft hinausgehen.

Dies ist die Hauptthese der wissenschaftlichen und politischen Arbeit von Reinhard Kühnl, der am heutigen Mittwoch fünfundsiebzig Jahre alt wird.

Bei Wolfgang Abendroth hat er mit einer Arbeit über die sogenannte »Nationalsozialistische Linke« – den angeblich sozialrevolutionären Flügel der Nazis – promoviert: eine quellensatte Untersuchung, mit der er sofort in die erste Reihe der damals noch jungen deutschen Faschismus-Forschung aufrückte. Er war Oberassistent am Institut für Politikwissenschaft in Marburg, eine glatte akademische Laufbahn schien sich vor ihm zu öffnen. Aber im selben Jahr, als seine Doktorarbeit gedruckt wurde, 1966, begann die NPD in mehrere Landtage einzuziehen, und dieses Ereignis warf ihn – wie er später einmal ohne Larmoyanz, sondern mit Genugtuung von sich sagte – in einer gewissen Weise aus der Bahn. Jetzt war nämlich nicht nur akademischer Diskurs an der Tagesordnung, sondern auch Kritik im Handgemenge. 1967 kam sein Buch »Die NPD. Programm und Ideologie einer neofaschistischen Partei« heraus. Nachdem der kleine Voltaire Verlag, in dem es erschienen war, seinen Betrieb hatte einstellen müssen, folgte 1969 bei Suhrkamp die zweite Auflage, jetzt in einer umfangreicheren Fassung, für die Kühnl auch mehrere Studierende als Mitautor (in­n)en gewonnen hatte.

Zu der Zeit lehrte an der Marburger Universität der Geschichtsprofessor Ernst Nolte. In seinem Buch über den »Faschismus in seiner Epoche« definierte er diesen als die – wenngleich selbstmörderische – Notwehr des »liberalen Systems« gegen den Sozialismus. Auf den ersten Blick war das gar nicht so weit entfernt von Kühnl. Daß dieser sich aber nicht mit der Beschreibung begnügte, sondern Partei ergriff, alarmierte Nolte, denn er spürte heraus, wohin die Reise führte: Notfalls über das von ihm so sehr geschätzte »liberale System« (= den Kapitalismus) hinaus, und das ging zu weit. Nolte versuchte, mit einem gewaltigen Aufwand die Habilitation des jungen Konkurrenten zu verhindern, aber er scheiterte an der Standfestigkeit Abendroths und einiger liberaler Kollegen. 1971 wurde Reinhard Kühnl Professor in Marburg und machte in den folgenden Jahren das Institut für Politikwissenschaft zu einem Mittelpunkt der Faschismusforschung mit radikaldemokratischem Anspruch.

Die nationale und internationale Resonanz war groß. Kühnls in rascher Folge erscheinende Bücher wurden in vierzehn Sprachen übersetzt. 1973 lehrte er als Gastprofessor in Tel Aviv. Über Jahrzehnte hin entfaltete er eine rastlose Publikations- und Vortragstätigkeit mit breiter Medienpräsenz. Besonders tief ist sein Einfluß auf die politische Bildung in den Schulen. Wer sein Buch »Formen politischer Herrschaft. Liberalismus und Faschismus« (vierzehn Auflagen) gelesen hatte, fand nach dem Abitur häufig den Weg nach Marburg. Die von Reinhard Kühnl in seinen stets überfüllten Vorlesungen und Seminaren ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer tragen das, was er ihnen beibrachte, heute noch landauf, landab weiter. Dabei war er immer mehr als ausschließlich ein Faschismusforscher. Sein zentrales Thema sind die gesellschaftlichen Voraussetzungen von Demokratie und Gewaltfreiheit – u.a. paradigmatisch herausgearbeitet in seinem vielgelesenen Rowohlt-Band zur Geschichte der Weimarer Republik. Früh suchte er die wissenschaftliche Kooperation mit den marxistischen Faschismusforschern in der DDR, in einer ertrag­reichen Kontinuität, für die das Jahr 1989 keinen Einschnitt bedeutete.

Wissenschaft, Publizistik und politisches Handeln greifen bei ihm ineinander. Zusammen mit Walter Jens und Helmut Ridder rief er 1972 den seit 1968 bestehenden, kurz danach aber wieder erloschenen »Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler« (BdWi) neu ins Leben und kämpfte jahrzehntelang an seiner Spitze gegen Kurzzeitstudiengänge, Berufsverbote und die Indienstnahme von Forschung und Lehre durch das große Geld. Die Vitalisierung dieser Anstrengungen tut dringend not.

Reinhard Kühnl aber wird nicht mehr wie früher dabei sein können. Vor fünf Jahren traf ihn die Krankheit, die wir Intellektuellen am meisten fürchten. Diejenigen, die jahrzehntelang bei ihm lernten, mit ihm zusammenarbeiteten und manchen Kampf mit ihm gemeinsam durchgefochten haben, grüßen ihn an diesem Tag in Verbundenheit

* Aus: junge Welt, 25. Mai 2011


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