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Den Frieden verfehlt

Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien: ein Debakel

Von Reinhard Mutz

Unter die Überschrift "Den Krieg gewonnen, den Frieden verfehlt" stellte der Hamburger Friedensforscher Reinhard Mutz seine Analyse des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien im diesjährigen "Friedensgutachten 2000". Das Friedensgutachten wird jährlich von den drei deutschen Friedensforschungsinstituten (Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt) veröffentlicht. Es erscheint im LIT-Verlag (Münster und Hamburg) und ist eine Fundgrube für die Friedensbewegung. Das heißt nicht, dass die dort vertretenen Auffassungen immer auch auf 100-prozentige Zustimmung in der Friedensbewegung stoßen. Wir dokumentieren den Beitrag von Reinhard Mutz zum Kosovo-Krieg, weil er besonders prägnant und sachkundig die NATO-Intervention - auch im Lichte der realen Ergebnisse, wie sie sich heute im Kosovo zeigen - kritisch analysiert.

"Lektion eins ist kristallklar", so pflegt Nato-Generalsekretär George Robertson das Ergebnis des Kosovo-Krieges zu resümieren: "wir haben gesiegt". Unbestreitbar trifft die Feststellung zu. Sonderlich originell ist sie gleichwohl nicht. Hält die Nato doch fast halb so viele Soldaten unter Waffen wie überhaupt Serben in Serbien leben. Die mächtigste Militärallianz der Geschichte bezwang einen Kleinstaat. Bei einem so ungleichen Kräfteverhältnis hätte jeder andere Kriegsausgang überrascht. Die Vermutung liegt nahe, dass die Betonung des Unbezweifelbaren Zweifel anderer Art überdecken soll. Denn mit dem Ertrag ihrer elfwöchigen Luftangriffe kann die Nato kaum zufrieden sein. Zu offensichtlich war der Sieg der Waffen kein Triumph der Politik.

Für den Zweck einer Zwischenbilanz genügt es, die eingetretenen Ergebnisse mit den ursprünglichen Zielen zu vergleichen. Am Grad der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung bemisst sich Erfolg oder Misserfolg der Operation. Allerdings hatte die Nato am 24. März 1999 zum Ziel des militärischen Losschlagens gegen die Bundesrepublik Jugoslawien nicht noch einmal offiziell Stellung genommen. Sie überließ es den Regierungen, ihren Gesellschaften die Kriegsgründe zu vermitteln, und die Erklärungen variieren sowohl von Land zu Land als auch im zeitlichen Verlauf der Kampfhandlungen. Erst einen Monat später, auf dem Gipfeltreffen in Washington, verständigten sich die Bündnispartner auf drei Forderungen für das Nachkriegs-Kosovo. Von deren Annahme durch Belgrad machten sie die Einstellung der Luftangriffe abhängig. Die drei Forderungen sind in die UN-Resolution 1244 vom 10. Juni 1999 eingegangen. Sie stellten die verspätet, aber amtlich erklärten politischen Kriegsziele der Nato dar: erstens die sichere und ungehinderte Rückkehr aller Flüchtlinge und Vertriebenen in das Kosovo, zweitens friedliche und normale Lebensbedingungen für alle Einwohner des Kosovo, drittens eine substanzielle Autonomie des Kosovo innerhalb der Bundesrepublik Jugoslawien.

Sichere Rückkehr

Das Ziel wurde erreicht. Zeitgleich mit dem Einmarsch der ersten Kfor-Verbände in das Kosovo begann der Rückstrom der vertriebenen Albaner. Viele fanden in den Heimatorten nur noch die Ruinen ihrer Häuser vor. Mit Unterstützung der internationalen Sicherheitstruppe und ziviler Hilfsdienste konnte ihnen ein zumindest provisorisches Unterkommen bereitet werden. Wo nötig, übernahmen die internationalen Organisationen auch die Versorgung. Da die serbischen Streitkräfte und die Sonderpolizei zuvor das Land verlassen hatten, waren die Rückkehrer vor neuer Verfolgung sicher. Ohne diesen Umstand und ohne Aussicht auf Schutz durch eine Nato-Streitmacht wäre die Rückführung vermutlich schleppender verlaufen. So mussten die Auffanglager an den Außengrenzen des Kosovo nicht, wie geplant, winterfest gemacht werden. Bereits im Juli 1999 konnte das letzte von ihnen geschlossen werden. Angesichts der Tatsache, dass noch im Vormonat die Balkanprovinz zur Hälfte entvölkert war und eine dreiviertel Million Menschen notdürftig außer Landes kampierten, ist das kein geringer Erfolg.

Die Frage stellt sich, warum zu Beginn des Nato-Bombardements die ausufernde Gewalt und die systematische Verletzung der Menschenrechte im Kosovo als die Verbrechen gebrandmarkt wurden, die es durch eine humanitäre Intervention zu stoppen gelte, aber kein Vertreter der Krieg führenden Staaten auch die Rückkehr der Vertriebenen unter die zu erreichenden Ziele reihte. Die Antwort lautet: weil das Problem noch nicht existierte.

Von sich reden machten zunächst die so genannten "Binnenflüchtlinge", d. h. Menschen, die vor den Schrecken des Bürgerkrieges außerhalb ihrer Wohnorte, meist in deren Nähe, jedoch innerhalb der Provinz und teils nur kurzzeitig Zuflucht gesucht hatten. Ihre Zahl schwoll an, wenn die Kampfhandlungen zunahmen, sie ging zurück, wenn die Kämpfe abflauten. Die Gipfelwerte wurden im Oktober 1998 und im März 1999 mit 200 000 bzw. 230 000 internen Flüchtlingen erreicht. Außerdem hatten zwischen März 1998, dem Ausbruch des Bürgerkrieges, und März 1999, als die Nato militärisch eingriff, rund 170 000 Kosovaren ihr Land verlassen, teils in Nachbarstaaten, teils nach Westeuropa. Von einer Massenvertreibung der Bevölkerung zur gezielten Veränderung der demographischen Verhältnisse sprach damals noch kein westlicher Politiker.

Zwischen Flucht und Vertreibung mag oft nur ein abstrakter Unterschied bestehen. Ohne Not verlassen kaum ganze Familien und Dorfgemeinschaften Haus und Hof. Aus freien Stücken fliehen auch keine Menschen auf schrottreifen Schiffen über das offene Meer. Der zeitweilige Staatszerfall der Nachbarrepublik Albanien im Frühjahr 1997 und der Bürgerkrieg im Kosovo lösten Fluchtwellen in einer Größenordnung aus, wie sie für vergleichbare Unruheregionen charakteristisch sind. Beide Szenarien hatten jedoch nichts gemein mit der Entwicklung, die im Kosovo explosionsartig am Wochenende vom 27. zum 28. März 1999 einsetzte, nachdem in Belgrad die ersten Nato-Raketen eingeschlagen waren.

Der Massenexodus über die albanische und mazedonische Grenze erfasste schon im ersten Monat über 600 000 Menschen, vierzigmal mehr als die 14 000 Kosovaren, die während des einjährigen Kampfes zwischen den serbischen Machthabern und den albanischen Aufständischen ohne Nato-Beteiligung im Monatsdurchschnitt aus der Provinz geflohen waren. Bis zum Ende der Militärintervention im Juni stieg die Zahl der Vertriebenen auf mehr als 800 000 an.

Es wäre zynisch, diese Gewaltopfer als Flüchtlinge zu bezeichnen und ihrem Aufbruch damit den Anschein von Freiwilligkeit anzuheften. Sie wurden bedroht, misshandelt, zum Verlassen ihrer Häuser und zur Aufgabe ihrer Lebensgrundlagen gezwungen - nicht weil sie einen bewaffneten Kampf führten, sondern weil sie einer missliebigen ethnischen Gruppe angehörten.

Ab Ende März 1999 wurde die internationale Medienöffentlichkeit Zeuge der Kriegsbilder zweier benachbarter Schauplätze: An den Grenzen zu Mazedonien und Albanien stauten sich die Elendstrecks entkräfteter Menschen, im jugoslawischen Luftraum entledigten sich Wellen von Kampfflugzeugen ihrer Bombenlast. Das Urteil über den Krieg stand und fiel mit der Frage, was die beiden Schreckensszenarien miteinander verband.

Sollte es glaubhaft erscheinen, dass die Luftoffensive geführt wurde, um dem Vertreibungsexzess Einhalt zu gebieten, so musste eine vom tatsächlichen Hergang abweichende Abfolge der Ereignisse suggeriert werden. Dies unternahm Bundeskanzler Schröder vor dem Bundestag mit der Behauptung: "Vertreibung und Mord waren längst im Gange, als die Nato ihre Militäraktion begann."

Die in Politik und Medien breit aufgegriffene Version berief sich auf einen von Verteidigungsminister Scharping kolportierten "Geheimplan Hufeisen", aus dem angeblich hervorgehe, dass die Vertreibung der zivilen Bewohner des Kosovo von der Belgrader Führung langfristig geplant und bereits um die Jahreswende 1998/99 in die Praxis umgesetzt worden sei. Bis heute ist die Existenz eines solchen Planes ungeklärt. Aber schon zum Zeitpunkt der Verlautbarungen war ersichtlich, dass sich Inhalt und Interpretation nicht deckten. Nach der vom Verteidigungsministerium veröffentlichten Zusammenfassung bezweckte der Operationsplan die "Neutralisierung der UCK". In Scharpings Zuspitzung wurde daraus "die systematische Vorbereitung und Durchführung von Mord und Vertreibung der Bevölkerung im Kosovo".

Von einer Massenvertreibung aus dem Kosovo hinaus, wie sie nach Eröffnung des Luftkrieges massiv einsetzte, kann für die Zeit davor keine Rede sein. Weder den OSZE-Beobachtern vor Ort noch den Grenzbehörden der Nachbarstaaten wäre sie verborgen geblieben. Näher liegt die Vermutung eines nicht nur zeitlichen, sondern auch ursächlichen Zusammenhangs zwischen den beiden Gewaltaktionen. Unmittelbar vorausgegangen war der Abzug der Verifikationsmission der OSZE und der zivilen Hilfsorganisationen. Eine internationale Präsenz, die zur Mäßigung anhalten konnte, gab es nun nicht mehr. Die Albaner wurden zu schutzlosen Opfern einer ungehemmten Vergeltungswut ihrer Peiniger.

Ob befohlen oder geduldet, jedenfalls unbeobachtet von lästigen Zeugen, konnte sich kollektiver Hass austoben an einer wehrlosen Bevölkerung, die ihrerseits haftbar gemacht wurde für den Krieg aus der Luft, dem man selbst wehrlos ausgesetzt war. Waren sie es doch, die Albaner, so die serbische Sicht, die das Nato-Bombardement herbeigerufen hatten, ihre Bestrafung sei verdient gewesen.

Vier von fünf der Vertriebenen, die mit den einrückenden Truppen der internationalen Streitmacht in das Kosovo zurückkehren konnten, hatten die Provinz erst während und im Gefolge des alliierten Luftkrieges verlassen müssen. Das relativiert den Erfolg der Nato. Ein Übel zu beheben, das man zum ganz überwiegenden Teil selbst ausgelöst hat, ist ein eingeschränktes Verdienst. Nicht die Nato verjagte die Albaner des Kosovo, sondern die militärischen und paramilitärischen Formationen unter Belgrader Kommando. Aber von Mitverantwortung für Untaten lässt sich nicht freisprechen, wer ihre Ausführung begünstigt.

Normale Lebensbedingungen

Dieses Ziel wurde vorerst verfehlt. Den gegenwärtigen Zustand als Frieden zu bezeichnen, wäre euphemistisch. Die Gewalt hat nicht geendet. Sie bestimmt als Mittel politischer Einschüchterung und in Form gewöhnlicher Kriminalität weiterhin die Lebenswirklichkeit der Bewohner. Von einer rechtsstaatlichen, demokratisch legitimierten Ordnung ist das Kosovo noch weit entfernt. Formal liegt die oberste Autorität in den Händen von Unmik (UN Mission in Kosovo) und Kfor (Kosovo Force), der internationalen Zivil- bzw. Sicherheitspräsenz, die durch die UN-Resolution 1244 eingesetzt wurden. De facto ist das Kosovo ein westliches Protektorat.

Unterhalb der Besatzungsstruktur hat sich ein informelles Herrschaftsgeflecht ausgebildet, in dem die Partei des Demokratischen Fortschritts (PPDK), die aus der UCK hervorging, den maßgeblichen Einfluß ausübt. Sie dominiert die provisorischen Lokalverwaltungen. Eine multiethnische Gesellschaft existiert nicht, sie ist, was schwerer wiegt, auch nicht im Entstehen begriffen.

Zunächst vollzog sich ein weiterer Akt der Tragödie. Die Bühne war dieselbe, nur die Rollen hatten gewechselt. Jetzt gaben die Albaner den Ton an, und Serben wie Roma hatten um ihr Leben zu fürchten. Wer konnte, brachte sich in Sicherheit. Im August teilte die Flüchtlingskommissarin der UN, Ogata, mit, von den 200 000 serbischen Bewohnern seien 170 000 aus Furcht vor den Albanern geflohen. Nach einer Untersuchung der "Gesellschaft für bedrohte Völker" hatten von den vormals 150.000 Roma und Aschkali 120.000 das Kosovo verlassen. Treffen die Angaben zu, sind die nichtalbanischen Minderheiten mit 80 bzw. 85 Prozent noch stärker dezimiert worden als zuvor die Albaner durch die serbische Vertreibungswut. Es kursieren jedoch auch weniger dramatische Zahlen. General Reinhardt, der vormalige Kommandeur der Kfor, bezifferte unter Berufung auf UN-Administrator Kouchner die Anzahl der noch im Kosovo lebenden Serben auf 97 000, die der Angehörigen anderer Minderheiten auf 73 000 Personen. Sie führen eine Art Getto-Existenz: "Die verbliebene serbische Bevölkerung lebt im Wesentlichen zusammengedrängt in einigen Enklaven. Die größte dieser serbischen Zonen ist die Nordecke Kosovos bei Mitrovica; sie hat Anschluss an Serbien. Größere Enklaven im Innern Kosovos gibt es noch bei Gracanica südlich von Pristina und im Bergtal von Brezovica östlich von Prizren. Bei Kamenica in Ostkosovo und auch andernorts hat sich in vereinzelten Dörfern die serbische Bevölkerung gehalten. Die Roma leben zum Teil in Lagern, etwa in der Nähe von Djakovica. . . . Die Enklaven werden von der Kfor bewacht; Panzer stehen an den Durchfahrtsstraßen und bei Kirchen. Das verhindert nicht, dass es immer wieder Anschläge gibt." (NZZ v. 27. 3. 2000).

Mord, Brandschatzung, Plünderung - auch für die Verfolgung der Serben durch die Albaner gibt es keine Entschuldigung, aber es gibt Erklärungen. Was Anfang 1998 als bewaffneter Kampf der albanischen Widerstandsbewegung gegen das jugoslawische Regime begann, steigerte sich zum internationalen Krieg einerseits und zum blindwütigen Exzess gegen wehrlose Zivilisten andererseits. Als im Kosovo die Machtverhältnisse umschlugen und die Vertreibungsopfer zurückkehrten, rief jedes neu entdeckte Grab das erlittene Leid frisch in Erinnerung.

Hass und Fanatismus haben sich schon aus geringerem Anlass gewalttätig entladen als dem Wunsch nach Rache. Darin wird man weniger eine Rechtfertigung erkennen als die Eigendynamik einmal entfesselter Gewalt. Der Unterschied zwischen den beiden Verfolgungen vor und nach Beendigung des Nato-Krieges liegt in den äußeren Umständen. Der Überfall der serbischen Staatsmacht auf die albanische Bevölkerung geschah gleichsam unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Heute jedoch steht eine stattliche Eingreiftruppe vor Ort, mit allen Befugnissen versehen und bis an die Zähne bewaffnet. Sie soll für Sicherheit sorgen, die sich gleichwohl nicht einstellt.

Daraus ist den Soldaten am wenigsten ein Vorwurf zu machen. Ihre Rolle hat kaum etwas gemein mit dem Auftrag, für den sie ursprünglich vorgesehen waren. Das verdeutlicht der Fristenplan zur Demilitarisierung des Kosovo im Abkommen von Rambouillet, das nicht in Kraft trat: sechs Monate für den (Teil-)Rückzug der jugoslawischen Streitkräfte, zwölf, erforderlichenfalls 24 Monate für die Rückführung der Sonderpolizei, aber nur vier Monate für die Entwaffnung und Auflösung der UCK. Parallel dazu sollte der Neubau der politischen Ordnung erfolgen, schrittweise in Form eines Überleitungskonzepts von unten nach oben aus den bestehenden Institutionen heraus und auf der Grundlage demokratischer Wahlen. Die Bomben auf Belgrad haben den schönen Plan vom Tisch gefegt. Nach der Eskalation der Gewalt - auch im Kosovo selbst - war es mit den Rambouillet-Bedingungen nicht mehr getan. Die neue Forderung der Alliierten verlangte den unverzüglichen und vollständigen Abzug aller militärischen und polizeilichen Kräfte binnen sieben Tagen.

Dem hektischen Aufbruch des Sicherheitsapparats schloss sich das Verwaltungspersonal des alten Regimes an. Was die Kfor im Kosovo vorfand, waren nicht nur geräumte Kasernen, sondern auch leere Amtsstuben. Die zivile Infrastruktur hatte sich aufgelöst.

Den Friedensprozess absichern, Widersetzlichkeit notfalls entgegentreten, dafür war die internationale Militärpräsenz vorgesehen. Aber Soldaten sind weder Richter noch Verwaltungsfachleute, weder Streifenpolizisten noch Gefängniswärter. Engagement und Improvisation allein ersetzen keine fehlende Qualifikation. Mag sie sich noch so sehr mühen - das administrative Vakuum kann die Sicherheitstruppe nicht füllen, und ebenso wenig kann sie den Hass beseitigen, der zwischen den verfeindeten Bevölkerungsgruppen herrscht. Sie muss nicht den Sündenbock spielen für Versäumnisse, die von der Politik zu verantworten sind. Den Frieden erst herstellen, den sie bewachen soll, ist ein aussichtsloses Unterfangen.

Substanzielle Autonomie

Das Ziel liegt inzwischen weitab jeder politischen Realität. Als neue Herren im Kosovo fühlen sich die Widerstandskämpfer der UCK. Ihr Führer Thaci hofft, auch im inneralbanischen Machtkampf die Früchte des Sieges einzustreichen, die gegen den äußeren Feind die Nato für ihn errungen hat. Dem widersetzt sich einstweilen noch sein Opponent Rugova. Aber beide Politiker eint die Überzeugung, dass eine Rückkehr der Provinz unter jugoslawische Oberhoheit nicht mehr in Frage kommt. So spricht vieles dafür, dass die unter dem humanitären Banner der Menschenrechte geführte Intervention letztendlich dasselbe Ergebnis zeitigen wird, wie hunderte ordinärer Kriege zuvor: Der Sieger bzw. der Schützling des Siegers erhält, was der Verlierer abtreten muss.

Was wird sich dann eine zukünftige Regierung in Pristina zum Ziel setzen? Nur die politische Unabhängigkeit? Oder den Zusammenschluss mit der Republik Albanien? Oder die Vereinigung aller Albaner in einen gemeinsamen Staat? Die stärkste Anhängerschaft scheint die Idee der nationalen Einheit in Tirana zu haben, aber auch die UCK denkt über die Grenzen des Kosovo hinaus. Mazedonien gilt im Sprachgebrauch ihrer Führung als "Operationsgebiet Nr. 2".

Seit dem Frühjahr macht ein UCK-Ableger mit Anschlägen im südlichen Serbien auf sich aufmerksam. Außer im Westen Mazedoniens und im Süden Serbiens leben albanische Bevölkerungsgruppen im Osten Montenegros und im Norden Griechenlands. Drei der vier Zielgebiete großalbanischer Ambitionen grenzen unmittelbar an das Kosovo. Der Kfor wird auf längere Sicht die Aufgabe zuwachsen, eine selbstbewusste Guerilla daran zu hindern, ihr erfolgreiches Befreiungswerk auf benachbartem Territorium fortzusetzen.

Eine weitere Unbekannte in der Rechnung ist die Haltung, die Belgrad einnehmen wird. Ob mit oder ohne Milosevic, der Anspruch auf das Kosovo stellt eine Konstante serbischer Politik dar. Auch die Opposition einschließlich der orthodoxen Kirche hält daran fest.

Nicht den Feldzug gegen die Kosovo-Albaner werfen manche innenpolitische Gegner dem jugoslawischen Präsidenten vor, sondern dass er ihn verloren hat. Darüber täuschen westliche Politiker hinweg, wenn sie den Eindruck erwecken, mit einer anderen Regierung leichteres Spiel zu haben.

Gerade waren die Chancen auf ein multiethnisches Kosovo in einem multiethnischen Jugoslawien endgültig vertan, als sich der Westen, um Russland zu beschwichtigen, gehalten sah, den Grundsatz der territorialen Integrität Jugoslawiens neu zu bekräftigen. In der Resolution 1244 hat Belgrad einen international verbrieften Titel auf seine abtrünnige Provinz. Die Nato muss jeden Ehrgeiz einer militärischen Rückeroberung vorsorglich abschrecken. Das ist der zweite Grund, der ihr eine lange und kostspielige Präsenz in der Krisenregion aufbürden wird.

Gründe des Scheiterns

Hat eine militärische Operation ihre politischen Ziele so gründlich verfehlt, muss sie als gescheitert betrachtet werden. Einmal mehr erwies sich Waffenmacht als zu grobschlächtiges Werkzeug in einem komplexen Nationalitätenkonflikt. Unglücklicherweise beschränkte sich das Management der Kosovo-Krise ab Frühjahr 1998 auf das schlichte Mittel, über das eine Militärallianz verfügt: die Androhung von Gewalt. Für die politische Lösungssuche und die Detailarbeit der diplomatischen Umsetzung war die Zuständigkeit offen geblieben. Wer sollte die Kontrahenten an den Verhandlungstisch bringen, wer ihre Auffassungsunterschiede überbrücken? Weder die Balkan-Kontaktgruppe noch die OSZE besitzen Autorität und Handlungsspielraum für eigenständige Initiativen neben der omnipotenten Nato. Mit drei ausführlichen Resolutionen zum Kosovo hatte sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu Wort gemeldet. Sie sind ausgewogen in der Beurteilung und lassen an Eindeutigkeit der Empfehlungen nichts zu wünschen übrig. Was hätte die machtlose Weltorganisation mehr tun können?

Sie sei blockiert gewesen, warfen westliche Regierungen ihr vor, da Russland und China dem Ansinnen widerstanden, ein militärisches Vorgehen der Nato gutzuheißen. Der Weg führe nicht zum angestrebten Ziel, begründeten die Sprecher der östlichen Großmächte ihre Ablehnung. Darin sind sie nicht widerlegt worden. Was wäre gewonnen gewesen, hätte die Nato mit ihrer Zustimmung bomben können? Die Intervention trüge nicht den Makel des Völkerrechtsbruchs. Wäre sie deshalb erfolgreicher gewesen? Hätte sie weniger Opfer gekostet?

Ein Kurs des Diktats, der so konsequent auf die militärische Entscheidung zulief, macht die Frage unausweichlich: Ging es überhaupt um die proklamierten Ziele? Für die Vermutung, dass mehr Umsicht und Augenmaß, mehr kompetente Konfliktpolitik zu einem besseren Resultat sowohl für die Opfer des Krieges als auch für die Stabilität der Region geführt hätten, lässt sich der Beweis nicht antreten. Allen amtlichen Beteuerungen zum Trotz hat es an politischen Alternativen zum Waffengang nicht gefehlt. Gelegenheiten kamen und gingen, blieben ungenutzt oder wurden ausgeschlagen.

Es ist unerheblich, ob die Nato diesen Krieg wirklich wollte oder ob sie ihn nur der Gesichtswahrung wegen am Ende nicht mehr zu vermeiden wusste. Sie hat ihn geplant, vorbereitet, im Übermaß angedroht und schließlich geführt. Das ist es, was zählt. Ein neues Völkerrecht entsteht? Das Verständnis der Menschenrechte ist im Wandel begriffen? Die Zukunft wird es zeigen.

Fest steht: Der veränderte Auftrag an ein militärisches Bündnis hat sich durchgesetzt. Seit Verabschiedung des Strategiekonzepts der Allianz auf dem Jubiläumsgipfel in Washington ist der Waffengebrauch zur eigenen Interessenwahrung programmatisch verankert, also wiederholbar. Die für niemanden missverstehbare Botschaft besagt, wer in Europa die Ultimaten setzt und wessen Weisungen befolgt werden müssen. Der hehre Satz, dass Krieg kein Mittel der Politik mehr sein dürfe, liegt bei den Akten.

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