Anforderungen an eine antimilitaristisch engagierte unabhängige Friedenswissenschaft
10 Thesen von Prof. Dr. Wolfgang Nitsch
Die folgenden Thesen hat Wolfgang Nitsch auf der Abschlussveranstaltung der Marburger Tagung "Nach dem Krieg ist vor dem Krieg" am 3. März 2002 gehalten.
(1) Vorrangige Verpflichtung einer politisch engagierten
Friedenswissenschaft (FW) in Deutschland ist nach wie vor die
Auseinandersetzung mit den weiterwirkenden Folgen der Kriegs- und
Völkermord-Verbrechen von NS-Deutschland, aktuell insbes. die Mitarbeit
an Forschungen und Initiativen für die Entschädigung von und Aussöhnung
mit den vielen Opfergruppen und ihren Nachkommen in den von
NS-Deutschland angegriffenen und besetzten Ländern.
(2) Gerade die FW in Deutschland muß sich gegen nationale oder
multinationale Krisen und Kriegsgefahren fördernde machtpolitische
Strategien richten (wie z.Zt. den unbegrenzten "Krieg gegen den
Terrorismus" der USA), die durch das Schüren von rassistischem und
antisemitischem Hass die Sicherheit besonders von jüdischen Menschen
weltweit und die Existenz des Staates Israel bedrohen und gefährden.
Vorrangig ist daher die Mitarbeit an Analysen und Programmen zur Lösung
des Israel-Palästina-Konfliktes.
(3) Die FW in Deutschland muss vor diesem historischen Hintergrund dahin
wirken, dass sich die erforderliche Ausweitung von internationalen
Verpflichtungen und Kooperationsaufgaben der BRD strikt auf nicht
militärische ökonomische, wissenschaftlich-technologische und kulturelle
Kooperation und humanitäre Hilfe beschränkt
(4) Die FW in Deutschland sollte sich auch auf die Analyse von und
Auseinandersetzung mit heutigen friedensbedrohenden, dem NS und
Faschismus verwandten Ideologien, Mentalitäten und Bewegungen
konzenrieren, die in neuen, sehr unterschiedlichen Varianten in
Deutschland, in Ost- und Westeuropa, in Rußland, aber auch im Nahen und
Fernen Osten virulent sind.
(5) Die FW in der BRD muß sich auch gegen eine friedensgefährdende
euro-imperialistische Aufrüstung und Militarisierung von Politik in der
EU wenden, die z.T. als Alternative zur US-Machtpolitik ausgegeben wird
und die auch für eine erneuerte deutsche Militär- und Geopolitik
instrumentalisiert werden kann.
(6) Um dem von nationalistischen, neo-nazistischen und
euro-chauvinistischen Strömungen geschürten Anti-(Anglo)Amerikanismus
entgegenzuwirken, sollten FW und Friedensgruppen in Deutschland
verstärkt mit anti-militaristischen, anti-rassistischen und
anti-sexistischen Bewegungen und WissenschaftlerInnen in den USA
kooperieren
(7) Da die Aufrüstung und die Militarisierung von Politik immer stärker
auch im multi-nationalen Verbund von USA und G-8-Staaten und in enger
Verflechtung mit privatwirtschaftlichen Rüstungs- und
Kriegführungsinteressen und Gewaltunternehmen sich vollzieht, sollte
sich die FW in Deutschland stärker an internationalen Studien, Kampagnen
und Initiativen zur Analyse, Beobachtung, Kritik des multinationalen
militärisch-industriellen Komplexes beteiligen, einschließlich seiner
wissenschafts-,kultur- und medienindustriellen Zweige.
(8) Angesichts des sich verdichtenden Trends zum autoritären
Sicherheits- und Polizeistaat muß gerade die FW in der BRD sich an einer
breiten Bewegung zum Schutz und Ausbau politischer und
gesellschaftlicher Demokratie und Rechtssicherheit beteiligen und dabei
ihre Unabhängigkeit von Staats- und Wirtschaftsinteressen an den
Hochschulen und Forschungszentren verteidigen.
(9) Die Zukunft und Wirkungschancen der FW im weiteren Sinne (im Verbund
mit Rassismus- und Sexismus-Forschung) sind nicht nur durch die
polizeistaatlichen Einschüchterungs- und Diskriminierungspraktiken
gegenüber ausländischen und nonkonformen deutschen Hochschulangehörigen
gefährdet, sondern vor allem durch die "neo-liberale" autoritäre
Gleichschaltung der Hochschulleitungen für eine enge Ausrichtung an
kapitalistischen Wirtschaftsinteressen und Standortstrategien. Die FW
muß sich daher an den Hochschulen und ihrem Vorfeld einen Raum für
unabhängige Studien und Nachwuchssicherung durch breite Bündnisse mit
oppositionellen demokratischen Sozialbewegungen und
Nichtregierungsorganisationen im In- und Ausland immer wieder neu
erkämpfen
(10) Einige Bereiche von FW und Friedensbewegtheit in Deutschland müssen
noch von ihrer, sei es auch kritischen, ethnozentrischen Einengung und
Staatspolitik-Fixierung befreit werden. Es ist anzustreben, dass eine
größere Zahl von WissenschaftlerInnen, Studierenden, SchülerInnen und
Mitgliedern von Friedens- und Antirassismus/Antisexismus-Organisationen
aus dem Ausland gewonnen werden, um gleichberechtigt an entsprechenden
Studien- und Aktionszentren in Deutschland mitzuwirken (vgl. z.T. als
Modell die Internationale Frauen-Universität).
Zur Seite "Friedenswissenschaft"
Zurück zur Homepage