Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Plädoyer für die Politisierung der Friedens- und Konfliktforschung

Referat für die Jahrestagung 2002 der AFK-Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung

Von Peter Strutynski

Einleitung

Es ist bemerkenswert, dass im Programm der AFK-Jahrestagung kein einziges Referat überschrieben war mit dem Titel: "Der 11. September und die Friedensforschung" oder "Die Folgen des 11. September für die Friedenswissenschaft" oder etwas derartigem. Natürlich hat uns der 11. September in den Überlegungen der Vortragenden und in den Diskussionen auf Schritt und Tritt begleitet. Aber er hat es nicht vermocht, der friedenswissenschaftlichen und friedenspolitischen Agenda dieser Veranstaltung seinen Stempel so aufzudrücken, dass der Eindruck hätte entstehen können, nach dem 11. September müsse die community der Friedensforscherinnen und -forscher ihre Paradigmen und theoretischen Ansätze total revidieren und dem genauso eingängigen wie falschen Slogan Tribut zollen, der da heißt: Nach dem Einsturz der New Yorker Zwillingstürme ist nichts mehr so wie es war. Das Festhalten an dem Generalthema der Tagung "Macht Europa Frieden?" zeugt von einer akademischen Abgeklärtheit, die einfach notwendig ist, um tagespolitischen Aufgeregtheiten zu trotzen und sich nicht den von Medien und der herrschenden Politik vorgegebenen Themen und Schlagworten oder dem "Zeitgeist" - hinter dem sich ja selten der Geist der Zeit verbirgt - zu unterwerfen.

Ich sage das anerkennend, obwohl der "Friedensratschlag", als dessen Sprecher ich zu diesem Referat gebeten wurde, einen anderen Weg gegangen ist. Für unseren letzten Kongress - die Friedensratschläge finden seit 1994 jeweils am ersten Dezemberwochenende in Kassel statt - haben wir das ursprünglich vorgesehene Hauptthema ("Zivile Alternativen zu Krieg und Gewalt") aus aktuellem Anlass umformuliert: Unser Ratschlag hieß nun "Weder Terror noch Krieg" und knüpfte damit an den Erfahrungen an, welche die Friedensbewegung in den drei Monaten gesammelt hatte, in denen sie sowohl die Monstrosität der Terroranschläge emotional und intellektuell verarbeiten als auch sich der Monstrosität drohender kriegerischer Reaktionen darauf politisch widersetzen musste. Sie tat das hier zu Lande fast flächendeckend mit zahllosen größeren und kleineren Aktionen, Mahnwachen, Kundgebungen und Demonstrationen einschließlich zweier zentraler Kundgebungen am 13. Oktober in Berlin und Stuttgart, die immerhin mehr als 70.000 Menschen auf die Straße gebracht haben - ein erstaunliches Maß an Mobilisierung, wenn man berücksichtigt, wie oft der Friedensbewegung in den letzten Jahren schon der Totenschein ausgestellt worden war. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich darauf hinweise, dass auch für die überwiegende Mehrheit der Friedensbewegung der 11. September kein neues Zeitalter einläutet, sondern eher den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung markiert, die schon lange vorher begonnen hat.

Es gibt also offenbar unterschiedliche Reaktionen auf aktuelle friedens- oder weltpolitische Ereignisse - je nachdem ob man sich überwiegend wissenschaftlich oder überwiegend politisch mit ihnen befasst. Während die einen mit kühlem Verstand zu analysieren und zu kategorisieren gelernt haben, versuchen die anderen mit heißem Herzen politisch zu agieren und die Öffentlichkeit unmittelbar anzusprechen. Eine sehr grobschlächtige Unterscheidung! Denn auch der reinste Wissenschaftler kommt nicht ganz ohne Emotionen bei seinem Tun aus; und von vielen Friedensbewegten weiß ich, dass sie sich gern auch auf ihren Verstand verlassen.

Das gestörte Verhältnis von Wissenschaft und Politik

Der "Verstand" ist nicht unbedingt die ideale Überleitung zur Politik und ihren Hauptakteuren. Vielleicht gelingt es uns aber, für einen Augenblick von den Niederungen der realen Außen- und Sicherheitspolitik Berlins, Washingtons oder Londons abzusehen und unseren Blick zu werfen auf Politik als einer Abstraktion für die Gestaltung staatlicher, nichtstaatlicher und überstaatlicher öffentlicher Belange von Gesellschaften. Gerade demokratische Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass ein latent gestörtes Verhältnis von Wissenschaft und Politik ihrem System immanent ist. Dafür gibt es zumindest drei Gründe. Erstens: Demokratische Willensbildung und Partizipation mag zwar wissenschaftliche Expertise mit einschließen oder jedenfalls nicht ausdrücklich verhindern, kommt im Prinzip aber auch ohne sie aus. Seit Erscheinen des ersten globalisierten Kassandrarufs des Club of Rome: "Grenzen des Wachstums" vor 30 Jahren existiert ein relativ gesichertes Wissen über grundlegende stoffliche und energetische Zusammenhänge und Wechselwirkungen einschließlich der irreversiblen Schädigungen unserer Biosphäre. Gleichzeitig stellen wir fest, dass die wesentlichen umwelt-, verkehrs- und energiepolitischen Weichenstellungen der letzten drei Jahrzehnte diesem Wissen gegenüber immun zu sein scheinen. Mit Demokratie hat das zwar auch nicht immer etwas zu tun, denn viele politische Entscheidungen sind von wenigen einflussreichen Interessenvertretern inspiriert. Häufige Umfragen und Wahlergebnisse lassen aber vermuten, dass ein großer Teil des politischen Souveräns mit solchen Fehlentscheidungen durchaus einverstanden ist.

Dieser grundsätzlich unaufhebbaren Spannung zwischen Wissenschaft und Politik in der Demokratie gesellt sich eine zweite Störquelle hinzu: Die Spannung oder Diskrepanz zwischen dem kurzfristigen Erwartungshorizont der Politik inklusive des Wahlvolks und den längerfristigen Perspektiven, die wissenschaftliche Expertise gemeinhin bereithält. In einer "Ereignisdemokratie", in der, wie Gunter Hofmann in der ZEIT schreibt, "eine öffentliche Erregung die andere" jagt (DIE ZEIT, 20.02.2002), scheint es vor allem darauf anzukommen, den events möglichst zeitnah mit politischen Antworten zu begegnen. Die Politiker sind an schnellen Lösungen interessiert und greifen daher auch gern zu Ersatzhandlungen, wenn diese sich denn nur medienwirksam in Szene setzen lassen. Die Keulung zigtausender Rinder und Schafe vor einem Jahr war genauso wenig ursächlich für den späteren Rückgang der Maul- und Klauenseuche wie ein flächendeckender Speicheltest von Männern einer ganzen Region jemals zur Ergreifung eines Sexualmörders beigetragen hat. Aber es wird etwas getan. Auch im Fall der sich zuspitzenden Situation im Kosovo Anfang 1999 oder nach den Terroranschlägen vom vergangenen September wurde etwas Sichtbares getan: Nach je spezifischen Präliminarien - im Kosovo waren es die Rambouillet-Verhandlungen, beim Krieg gegen Afghanistan war es die Herstellung einer breiten "Allianz gegen den Terror" in Verbindung mit dem gewaltigsten US-Truppenaufmarsch seit dem Vietnamkrieg - wurde Krieg geführt. Krieg scheint heute das einzige und nicht etwa das letzte Mittel zu sein, um seinen Willen zur Tat, oder anders gesagt: seine Handlungskompetenz unter Beweis zu stellen.

Ein drittes Problem im Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Politik scheint mir sozusagen hausgemacht zu sein. Es handelt sich um den von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern selbst errichteten Elfenbeinturm, von dem aus sich die Bewohner einen weit reichenden und ungetrübten Blick auf das Weltgeschehen im Großen und im Kleinen versprechen. Die demonstrative Trennung von Wissenschaft und Politik hat in Deutschland eine lange Geschichte, die sich bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Sie ist ein Ergebnis der Verfolgung demokratischer oder republikanischer Intellektueller in der Restaurationszeit der "Heiligen Allianz" und dem Zerstieben der Blütenträume des politischen Liberalismus in der Niederwerfung der Revolution von 1848. Von da an gab es nur die Wahl zwischen politischer Anpassung an den antidemokratischen Prozess der Reichseinigung und des Eintritts in die imperialistische Weltpolitik auf der einen Seite und der Flucht in die "innere Emigration", sprich: in den politik- und gesellschaftsfreien Raum der reinen Wissenschaft auf der anderen Seite. Nur wenige Wissenschaftler entschieden sich für einen dritten Weg, indem sie sich an die aufstrebende Arbeiterbewegung anlehnten. Die Nazifizierung der deutschen Universitäten, die in der Weimarer Republik einsetzte und nach 1933 die akademische Landschaft von allen "Volksfeinden" und "jüdischen Elementen" "säuberte", sorgte schließlich dafür, dass nach der Zerschlagung des Faschismus die Vorstellung einer politisierten Wissenschaft erst Recht diskreditiert war. In der restaurativen Adenauerzeit wurde der Elfenbeinturm geradezu zum Refugium für die Wissenschaftselite des Dritten Reichs. Gesellschaftliches Engagement - wie es etwa die 18 Göttinger Professoren 1957 mit ihrem Appell gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr an den Tag legten - war die absolute Ausnahme.

Dies gilt übrigens auch für die bei uns erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte Politikwissenschaft, obwohl sie sich in ihrer theoretischen Begründung überwiegend als normative Wissenschaft in der Tradition der klassischen griechischen Philosophie gesehen hat. Als sich inmitten des Aufbruchs der Studentenbewegung 1967 die Fachschaft am Geschwister-Scholl-Institut, dem Politikwissenschaftlichen Institut an der Universität München, in "Politische Fachschaft" umbenannt hatte, war das für die Lehrstuhlinhaber eine Provokation. Gestandene Politikwissenschaftler befürchteten eine "Politisierung" der Politischen Wissenschaft! Bei genauem Hinsehen stellt sich natürlich heraus, dass diese Furcht selbst politisch begründet war. Die normative Theorie der damaligen Politikwissenschaft war auf den Rahmen der bestehenden Verhältnisse, auf die Vorstellung vom "tugendhaften Leben" und der "guten Ordnung" beschränkt, blieb also affirmativ auf den - wie es damals hieß - "Konsens der Demokraten" und damit auf die herrschende Nachkriegsordnung bezogen. Politische Konzepte, die diesen Rahmen in Frage stellten, kamen darin nicht mehr vor. Sie wurden unter den Generalverdacht der "Ideologisierung" oder "Politisierung" von Wissenschaft gestellt und entsprechend bekämpft - nicht nur mit den vornehmen Mitteln akademischer Streitkultur, sondern mit einer sehr selektiven Nachwuchsrekrutierung bis hin zu den bekannten Berufsverboten.

Jede Wissenschaft ist politisch

Dies konnte indessen nicht verhindern, dass in den 70er und 80er Jahren zahlreiche gesellschafts- und systemkritische Sozialwissenschaftler/innen Hochschullehrerstellen besetzen und insgesamt das Klima des Fachs verändern konnten. Dies gilt insbesondere für die Friedensforschung, die - wenn man der Analyse von Ulrike Wasmuht (1997) folgt - zwei regelrechte "Schübe" erhalten hat:
  • Einmal Anfang der 70er Jahre, als sie von einer relativ großzügigen staatlichen Förderung vor dem Hintergrund der beginnenden Entspannungspolitik und der Ost-West-Kooperation profitierte; die kritische Friedensforschung konnte, ohne zu großen politischen Kompromissen gezwungen zu sein, die neue Ostpolitik wissenschaftlich legitimieren.
  • Zum anderen war es Anfang der 80er Jahre, nachdem die zunehmende konservative Kritik und die Rechtsverschiebung der sozialliberalen Koalition die institutionelle Friedensforschung wieder stark zurückgedrängt hatten, zu einer in dieser Form neuartigen wechselseitigen Stützung von Friedensforschung und Friedensbewegung gekommen. "Mit der Friedensbewegung", so referierte Ulrike Wasmuht auf der AFK-Jahrestagung 1996, "gewann die Friedensforschung eine Adressatin und genoss damit eine Zeitlang öffentliche Aufmerksamkeit. Die Friedensforschung dagegen lieferte der Friedensbewegung die wissenschaftliche Fundierung." (Wasmuht 1997, S. 62) Ich möchte noch weiter gehen: Nicht nur "Fundierung" in fachlicher Hinsicht hat es gegeben, also was beispielsweise die wissenschaftliche Kritik an der Atomwaffenpolitik, der Abschreckungsideologie, der Rüstungsproduktion oder der strategischen Konzepte von NATO und USA betrifft, sondern die Friedenswissenschaft sorgte auch für eine wissenschaftliche Legitimierung der damals stark anwachsenden außerparlamentarischen und strikt regierungsoppositionellen Friedensbewegung. Viele Friedensforscher/innen waren selbst Teil dieser Bewegung und haben auch öffentlich daraus kein Hehl gemacht. Dieses teilweise enge Verhältnis von Wissenschaft und nicht-staatlicher Friedenspolitik begünstigte außerdem die Entwicklung einer Friedensforschung "von unten" oder, wie Wasmuht sagt, einer "Friedensforschungsbewegung", die auch noch unabhängig von staatlichen Geldern existieren konnte.

    Ein wesentliches Charakteristikum dieser Phase der Friedensforschung war ihr offenes Bekenntnis zu einer politischen Option und ihre Parteinahme für eine gesellschaftspolitische Bewegung. (Selbstverständlich trifft das nicht auf alle individuellen Friedensforscher/innen zu.) Die Friedenswissenschaft jedenfalls hat sich explizit politisch verstanden, als politischer Faktor, der auf staatliche Akteure mittels wissenschaftlicher Expertise und gesellschaftlicher Bewegung Druck auszuüben versuchte. Im Grunde genommen hat die Friedensforschung damit, um mich einmal pathetisch auszudrücken, jenes Erbe angetreten, das die Begründung der Disziplin der Internationalen Beziehungen als einem Zweig der Politischen Wissenschaft in Großbritannien und den USA nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gelegt worden war. Nach den entsetzlichen Erfahrungen des Kriegs war es das zentrale Anliegen dieser Teildisziplin gewesen, einen Beitrag zur Abschaffung jeglichen Krieges zu leisten. Damit ging die Disziplin sogar über das damals bestehende Völkerrecht hinaus, und zwar im positiven Sinn - eine völkerrechtliche Ächtung des Krieges hat es bekanntermaßen ja erst mit dem Kellogg-Pakt 1928 gegeben.

    Pierre Bourdieu hat in seinem letzten öffentlichen Vortrag vor seinem Tod die seiner Meinung nach "verhängnisvolle" Dichotomie von scholorship und commitment kritisiert, "die Unterscheidung zwischen denen, die sich der wissenschaftlichen Arbeit widmen, indem sie mit wissenschaftlichen Methoden für die Wissenschaft und für andere Wissenschaftler forschen, und denen, die sich engagieren und ihr Wissen nach außen tragen." (Bourdieu 2002) Dieser Gegensatz sei zwar "künstlich", könne aber das Gewissen des Forschers beruhigen, "da die Gelehrtenrepublik ihm applaudiert. Es ist, als fühlten sich die Wissenschaftler eben darum doppelt wissenschaftlich, weil sie aus ihrer Wissenschaft nichts machen." Wenn die Forscher aus ihrer Wissenschaft nichts machen, heißt das aber noch lange nicht, dass die Wissenschaft folgenlos bliebe. Sie kann ja von anderen genutzt werden. In diesem Fall gibt der unpolitische oder nicht engagierte Wissenschaftler sein Produkt ganz aus der Hand und verzichtet auf jeglichen Einfluss hinsichtlich seiner Verwendung. Mit anderen Worten: Auch die Wissenschaft eines unpolitischen Wissenschaftlers ist politisch. - Leider stimmt die Umkehrung des Satzes: "Jede Wissenschaft ist politisch" nicht. Denn wer wollte behaupten, dass jede Politik wissenschaftlich sei?

    Welches Selbstverständnis haben Friedenswissenschaftler/innen heute?

    Das letzte Jahrzehnt, insbesondere die Beendigung des Ost-West-Konflikts und damit das Ende einer ganz besonderen weltpolitischen Konstellation, hat die Zunft der Friedensforschung gründlich durcheinander gerüttelt. Der Paradigmenwechsel in den Internationalen Beziehungen - es hat ihn gegeben, auch wenn vielleicht die neuen Paradigmen noch nicht verfügbar, geschweige denn allgemein akzeptiert sind - fällt zusammen mit einem sichtbaren Generationswechsel der wissenschaftlichen Akteure. Jüngere Fachvertreter zeichnen sich manchmal durch ein sehr viel pragmatischeres Herangehen etwa an Fragen des Völkerrechts aus. In Jahrzehnten gereifte Überzeugungen in Sachen Gewaltverbot, souveräne Gleichheit aller Staaten, territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit von Staaten (alles Grundsätze nach Artikel 2 der UNO-Charta) verlieren an Bedeutung gegenüber der Betonung weltgesellschaftlicher Prinzipien wie die universellen Menschenrechte, deren Durchsetzung nicht mehr an die Grenzen eines Staates gebunden sein soll. Dieses Rütteln an den Grundfesten des Völkerrechts findet durchaus seine Entsprechung in der Praxis der Staaten sowie überraschenderweise auch der Vereinten Nationen selbst. Norman Paech und Gerhard Stuby (2001, S. 553 ff) haben anhand der Karriere des Begriffs der "humanitären Intervention" in verschiedenen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats in den 90er Jahren gezeigt, dass sich die Vereinten Nationen vom zweiten Golfkrieg über Somalia und Haiti bis zur NATO-Intervention in Jugoslawien auf einer abschüssigen Linie befinden, an deren Ende dereinst das strikte Gewaltverbot zu existieren aufgehört haben wird. Nicht nur von der Bundesregierung (bei ihrem Antrag zur Beteiligung am US-Krieg "Enduring Freedom") sondern auch von vielen Völkerrechtlern werden die UN-SR-Resolutionen 1368 und 1373 (2001) zu den Terroranschlägen des 11. September als Kriegsermächtigung gegen Afghanistan gewertet - eine gewagte Interpretation, die aber, sollte sie Schule machen, zur weiteren Aushöhlung des Völkerrechts führen wird.

    So wie der Kalte Krieg den friedenswissenschaftlichen Diskurs und die Haltung der daran Beteiligten geprägt hat, wird auch die neue politische Realität der post-bipolaren Ära nicht ohne Wirkung bleiben. Friedensforscher/innen stellen sich auf unterschiedliche Weise auf die neuen Gegebenheiten ein. Ich möchte dies an drei kurzen Beispielen erläutern.

    1. Zur FR-Diskussion über den Brief von Lutz/Mutz an den Deutschen Bundestag

    Stefanie Christmann analysierte in einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau (FR, 24.04.01), dass die Bundestagsdebatten vor und während des NATO-Krieges gegen Jugoslawien von einer "Realitätsverweigerung" vieler Abgeordneter gekennzeichnet gewesen seien. Am 16. Oktober 1998 habe der Bundestag im "scheinbar virtuellen Raum" vor allem darin gewetteifert, "sich gegenseitig guten demokratischen Stil zu bescheinigen". Der Gedanke an den militärischen Ernstfall sei von den meisten Abgeordneten - zumal nach dem Verhandlungsergebnis zwischen Holbrooke und Milosevic - "weit von sich" geschoben worden. Und die Debatten während des Krieges waren von Bildern bestimmt: dokumentarischen Bildern von endlosen Flüchtlingsströmen an der Grenze zu Makedonien und imaginären Bildern von "Deportationen", "Massakern", "KZs" und "bestialischen Tötungen von Frauen, Kindern und Föten". Die wenigen Kriegsgegner, die überhaupt Rederecht erhielten, wurden wie die außerparlamentarische Friedensbewegung der Kollaboration mit Milosevic bezichtigt; Gregor Gysi musste sich von Außenminister Fischer sogar als "Weißwäscher der Politik eines neuen Faschismus" beschimpfen lassen. Gerade weil in einer solch emotionalisierten Atmosphäre keine rationale Diskussion gedeihen konnte, wäre eine Aufarbeitung der Informations- und Desinformationspolitik der Bundesregierung bzw. der NATO aus der historischen Distanz und unter Berücksichtigung aller bis dahin bekannt gewordenen "dirty secrets" dringend nötig gewesen. Dies war für die Hamburger Friedensforscher Dieter Lutz und Reinhard Mutz auch der Grund für einen offenen Brief, den sie am 2. Jahrestag des Kosovo-Kriegs an die Bundestagsabgeordneten schickten (FR, 24.03.2001). Darin forderten sie 1) die Durchführung eines Bundestags-Hearings zur Aufarbeitung des Krieges, 2) die Einsetzung einer Kommission des Rechtsausschusses des Bundestags, an deren Ende eine umfassende rechtliche und rechtsethische Würdigung des NATO-Kriegs stehen könnte, und 3) dass mit Unterstützung der Medien von Seiten des Bundestages, aber auch der Bundesregierung eine Serie öffentlicher Diskussionsveranstaltungen durchgeführt wird, in denen Lehren aus dem Krieg gezogen werden sollten.

    Auf diese vergleichsweise moderaten Vorschläge antwortete wenig später der SPD-Abgeordnete Gernot Erler, in seiner Fraktion zuständig für Internationale Politik. Seine Zurückweisung des Briefs der Friedensforscher unterschied sich kaum von der Polemik, die seinerzeit im Bundestag gegen die Kriegsgegner betrieben worden war. Den Friedensforschern wurde ihre wissenschaftliche Seriosität abgesprochen, ihnen wurde vorgeworfen, sich nachträglich in den Dienst einer gezielten "Kampagne" gegen den Krieg und gegen die Bundesregierung zu stellen, mit "fragwürdigen" Mitteln und mit "Tricks" zu arbeiten, ihnen wurde "hartnäckige Ignoranz" bescheinigt, und am Ende wurde insbesondere noch einmal der Verschlag von Lutz/Mutz für ein Bundestags-Hearing zurückgewiesen, "in denen Sie Ihren Hang zu öffentlichen Tribunalen austoben könnten". (Erler 2001)

    Der Briefwechsel - wir haben die ganze Debatte auf der Homepage des Friedensratschlags dokumentiert (FR-Debatte um den Brief von Lutz/Mutz) - verdeutlicht die abgrundtiefe Kluft, die zwischen der kriegs- und interventionskritischen Friedensforschung und der herrschenden Politik besteht. Wenn es um Krieg oder Frieden und wenn es um die moralische Rechtfertigung von Kriegen geht, hört die Gemütlichkeit der dafür Verantwortlichen auf.

    2. Zur Pazifismus-Diskussion

    Dies lässt sich auch an der so genannten Pazifismus-Debatte zeigen, die der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ludger Volmer vor kurzem losgetreten hat. Ich könnte mir vorstellen, dass eine Auseinandersetzung um Volmers Thesen durchaus gewinnbringend für den Selbstverständigungsprozess der Friedensforschung sein kann. Man muss sich nur darüber im Klaren sein, dass es sich hier nicht um eine rein ethische Diskussion handelt, sondern dass es um unterschiedliche Politikentwürfe für die Gestaltung der internationalen Beziehungen der Zukunft geht. Volmer relativiert den Pazifismus-Begriff bis zur unbegrenzten Vieldeutigkeit, indem er jeder möglichen historischen Situation einen spezifischen Pazifismus-Inhalt unterschiebt. Da gab es den "politischen Pazifismus der frühen Sozialisten", den Ohne-Mich-Pazifismus der Nachkriegszeit, den antiimperialistischen Pazifismus der Vietnam-Generation, den "Nuklear-Pazifismus" der 80er Jahre, und es gab den OSZE- und EU-Pazifismus der 90er Jahre. Alle waren sie unterschiedlich motiviert, alle hatten andere soziale und politische Träger und Adressaten, und alle hatten für ihre Zeit ihre Berechtigung. Aber eben nur für ihre Zeit. Denn gemeinsam ist diesen vielen historischen Pazifismen nach Auffassung Volmers, dass keiner von ihnen eine Antwort auf die heutigen Bedrohungen bereit hält.
    Heute müsse ein neuer Pazifismus zum Tragen kommen. Den nennt Volmar den "politischen Pazifismus". Er definiert ihn folgendermaßen: "Einsatz für das Primat der Politik und die Unterordnung militärischer Schritte unter politische Strategien, für die zentrale Rolle der Vereinten Nationen, die Geltung des humanitären Kriegsvölkerrechts und die Verhältnismäßigkeit der Mittel, für humanitäre Hilfe und Menschenrechte, für Auswärtige Kulturpolitik und den Dialog der Kulturen, für Entwicklungshilfe und Institutionenbildung, für global governance und eine internationale Strukturpolitik, die auf globale Gerechtigkeit zielt."

    In dieser Anhäufung von Begriffen aus dem Vokabular der Friedens- und Konfliktforschung verschwinden die "militärischen Schritte" zu einem unbedeutenden Rest; sie werden zu einer fast vernachlässigbaren Größe. Vergleicht man indessen die realen Aufwendungen, die für die UNO, für humanitäre Hilfe, für auswärtige Kulturpolitik (wie viele Goethe-Institute sind in der Ära Fischer aus Geldmangel schon geschlossen worden?), für Entwicklungshilfe oder für "global governance" ausgegeben werden, mit den Mitteln, die in Rüstung, Militär und Krieg gesteckt werden, so drehen sich die Größenverhältnisse geradezu um. Auch kann schwerlich vom Krieg als "ultima ratio" gesprochen werden, wenn man sieht, wie die Bundesregierung bemüht ist, fast jede sich bietende Gelegenheit zur Intervention beim Schopf zu ergreifen. Das fast schon peinliche Andienen von Bundeswehreinheiten für den US-Krieg in und um Afghanistan im Oktober und November letzten Jahres war nicht gerade eine Meisterleistung beim Kampf um die "Prima Ratio, die zivilen Mittel der Krisenprävention", die Volmer für sein Konzept des politischen Pazifismus reklamiert.

    Und Ludger Volmer bemüht noch andere Versatzstücke der friedenswissenschaftlichen Diskussion. Das nimmt auch nicht Wunder, kennt er sich in dem Laden doch ganz gut aus! "Politischer Pazifismus" - ich übersetze: militärischer Interventionismus - trägt zur "Globalisierung" der Sicherheitspolitik bei und würde somit nur nachvollziehen, was "in Wirtschaft und Umweltfragen längst unser Bewusstsein bestimmt." Beim "Kampf gegen den Terror" - ich übersetze wieder: beim Krieg in Afghanistan - habe die internationale Staatengemeinschaft, "legitimiert durch die Vereinten Nationen", "ansatzweise im Sinne einer Weltinnenpolitik gehandelt". Und dann fragt er in seiner himmelschreienden Unaufdringlichkeit: "Doch war es nicht Weltinnenpolitik, was Pazifisten wollten?" - Nun ist die Friedensforschung nicht dafür verantwortlich, dass eloquente Politiker sich ihrer Begriffe bedienen und sie dabei bis zur Unkenntlichkeit umdeuten. Wir sollten uns aber schon die Frage stellen, ob bestimmte Begriffe - ich nenne neben der "Weltinnenpolitik" die "Zivilgesellschaft" und das "global governance" - von uns auch wirklich genügend durchdacht und konkretisiert wurden, sodass sie einem Zugriff von der falschen Seite besser standhalten.

    Harald Müller, der Leiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, hat in der Debatte um die Volmer-Thesen inhaltlich dessen Position eingenommen. Er sei kein Pazifist und teile hinsichtlich des militärischen Eingreifens in Afghanistan die "Bewertung von Staatsminister Volmer" - auch Müller vermeidet den Ausdruck "Krieg" (Müller 2002). In seiner Argumentation allerdings werden überwiegend Bedenken gegen Militärinterventionen geäußert. Insbesondere stellt er fest, dass der vermeintliche "Nexus zwischen Demokratie und Frieden" die Tendenz habe sich aufzulösen. Denn einmal werde die Kriegsschwelle der Demokratien dadurch gesenkt, dass der Universalismus der Menschenrechte ein "mächtiger Feindbildproduzent" geworden sei. Zum zweiten neige die moderne Kriegführung zu ihrer perfekten Inszenierung; die Medien wirken durch die Personalisierung der Gegnerschaft am Entwurf eines "wirkungskräftigen Feindbilds" mit. Und zum dritten würden die Parlamente durch die Exekutiven systematisch in "Entscheidungszwangslagen" gebracht, sodass eine unabhängige Prüfung des Regierungshandelns kaum noch möglich sei. Da dies so ist, komme der "pazifistischen Kritik" heute eine umso größere Bedeutung zu: Sie "zwingt die Befürworter der humanitären Intervention dazu, die Messlatte sehr hoch zu legen, bevor sie die Gewaltanwendung befürworten." Nur wenn man böswillig ist, könnte man gegen Müllers Position einwenden: Da wird der Pazifist als Pflichtverteidiger in einem letztlich aussichtslosen Verfahren gebraucht, als advocatus pacis sozusagen, der die Kriegsbefürworter nicht vom Krieg abhalten soll und kann, sie aber zwingt, die Begründung für den Krieg "wasserdicht" zu machen. Übrig bleibt die auch vom Pazifisten verlangte Akzeptanz des gesprochenen Urteils, im Zweifelsfall also die Entscheidung für eine "demokratische Intervention". (In dem Bericht des AFK-Vorstands wird der Begriff des "demokratischen Interventionismus" gebraucht, zwar in Anführungsstrichen, aber ohne erkenntliche Distanzierung. Ich vermag in diesem Begriff keine Verbesserung gegenüber dem "humanitären Interventionismus" zu erblicken. In beiden Fällen beißt sich das positiv besetzte Adjektiv mit dem pejorativen Klang des Substantivs.)

    3. Zur Diskussion um Expertenräte

    In den letzten Jahren sind wiederholt Vorschläge gemacht worden, die den offenkundigen Defiziten der parlamentarischen Demokratie in Sachen Partizipation beikommen wollen. Dabei gibt es zwei Richtungen: Die einen wollen mehr Partizipation bei der politischen Willensbildung durch eine Ausweitung von Elementen der unmittelbaren Demokratie, etwa durch die Einführung von Volksbegehren bis hin zum Volksentscheid auf Bundesebene. Ich möchte hier nicht weiter darauf eingehen, halte aber diesen plebiszitären Ansatz für bedenkenswert und für eine Demokratie eigentlich auch für längst überfällig.

    Der andere Weg ist verschlungener und meiner Meinung nach kritischer zu bewerten, obwohl auch er auf den ersten Blick sympathisch ist. Ich meine die Forderung nach der Einrichtung einer Art "Dritter Kammer", die seit geraumer Zeit von Mohssen Massarrat vorgetragen wird (vgl. z.B. Massarrat 2000). Ausgangspunkt für sein Konzept ist die gesellschaftskritische Diagnose, dass die repräsentativen "Elitedemokratien" für die Lösung der Gegenwartsprobleme nicht nur überfordert sind, sondern systematisch selbst immer neue Probleme hervorbringen. Dies liegt u.a. daran, dass der im Parlamentarismus des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelte Zwang zum Kompromiss zwar gut war bei Fragen der Wohlfahrtsverteilung, bei existenziellen Entscheidungen mit langfristigen Folgewirkungen sich aber als untauglich erweist. Wenn sich z.B. die Nutzung der Atomenergie als Irrweg herausgestellt hat, ist es unsinnig einen Kompromiss dergestalt einzugehen, dass man nun weniger Atomenergie produziert. Massarrat nennt dies das "Kompromissdilemma". Ein zweites Strukturdefizit moderner Demokratien liegt darin, dass der klassische Politiker - vom Parteitagsdelegierten bis zum Parlamentsabgeordneten - die Folgen seiner Entscheidungen in zahlreichen komplexen Politikfeldern gar nicht mehr nachvollziehen kann. Da er dennoch entscheiden muss - dafür ist er schließlich gewählt - entscheidet er vorwiegend nach Loyalitätsgesichtspunkten. Dies liefert ihn unweigerlich an die "Expertokratie" aus und entwertet somit sein demokratisches Mandat, nach Massarrat das "Komplexitätsdilemma". Drittens schließlich hat die Elitedemokratie keine überzeugenden Lösungskonzepte zur Überwindung der globalen Gegenwartsprobleme wie Armut, Umweltzerstörung, Krieg und Massenarbeitslosigkeit. Die nationalstaatliche Demokratie wird mit diesem "Nachhaltigkeitsdilemma" nicht fertig.

    Einen Ausweg aus diesen drei Dilemmata sieht Massarrat nur in einer Stärkung der zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen und Bewegungen. Sie sind die "Dritte Kraft" und neues "Subjekt" zukunftsfähiger Reformen. Um diesen Bewegungen einen angemessenen Artikulationsrahmen und erweiterte Partizipationschancen einzuräumen, sollten themenspezifische "Dritte Kammern" eingerichtet werden, die sich - "an der Nahtstelle zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen etablierten Institutionen ... und der Zivilgesellschaft neben dem Parlament und dem Bundesrat" - um "wichtige gesellschaftliche Politikfelder" kümmern sollen. Die Kammern - für jedes Politikfeld sollte eine eigene Kammer bestehen - sollen ähnlich wie der Bundesrat über "Einspruchs- und Interventionsoptionen" verfügen.

    Dieter S. Lutz hat sich ebenfalls für eine "Dritte Kammer" ausgesprochen (Lutz 2002). Er nennt sie "Zukunftsrat" und stellt sich darunter ein Expertenparlament vor, das neben dem "Generalistenparlament" existieren solle. "Unabhängige und renommierte Experten" müssten seiner Ansicht nach "mit den Hoheitsrechten für existenzielle Menschheitsfragen" ausgestattet werden, auf Bundesebene und auf der Ebene der 16 Bundesländer.

    So überzeugend bei Lutz und Massarrat die Diagnose der Gebrechen der Patientin "parlamentarische Demokratie" ausfällt, so fraglich ist deren Therapie. Ein Expertenrat, der sich weitgehend aus hochkarätigen Wissenschaftlern und einer Anzahl NGO-Vertretern zusammensetzt, garantiert noch lange keine wirklich zukunftsfähigen Entscheidungen. Darf man denn davon ausgehen, dass sich die "Experten" in ihren Empfehlungen immer für das "Richtige", also für ökologische Nachhaltigkeit, Frieden und weltweite Gerechtigkeit entscheiden? Warum sollte bei den Wahlen zu den Zukunftsräten etwas anderes heraus kommen als bei den Wahlen zu den Parlamenten? - Ein wenig kommt es mir vor, als würde hier der Versuch gemacht, aus lauter verständlichem Frust über Rot-Grün hinter deren Rücken doch noch zum Ziel zu kommen. Das wird nicht funktionieren, weil Parlament und Exekutive ihre Entscheidungsmacht nicht aus der Hand geben werden. Wer die Politik auf den höchsten Ebenen verändern will, braucht keine neuen Gremien, sondern eine neue Politik. Und die muss von unten wachsen und von neuen und alten sozialen und politischen Bewegungen getragen werden. Umso besser für die Bewegungen, wenn sich in ihnen die viel beschworenen Experten ebenfalls engagieren. Pierre Bourdieu verlangt von den Wissenschaftlern, dass sie "an der kollektiven Erfindung der kollektiven Strukturen eines erfinderischen Geistes" arbeiten, "dem eine neue soziale Bewegung entspringen kann. Das heißt, sie müssen neue Inhalte aufzeigen, neue Ziele formulieren und die neuen Mittel für internationale Aktionen entwickeln." (Bourdieu 2002)

    Empfehlungen

    Ob als Wissenschaftler, die sich der Friedensforschung verschrieben haben, oder als Staatsbürger, die sich in der Friedensbewegung engagieren: Wir kommen nicht daran vorbei, an der Veränderung von Bewusststeins-, Verhaltens- und Machtstrukturen arbeiten zu müssen. Für die AFK und für das Verhältnis von AFK zur Friedensbewegung - das ich mir gern als ein Binnenverhältnis denke - könnte das neben dem bereits Gesagten folgendes bedeuten:
    1. Ich wünsche mir häufiger politische Stellungnahmen der AFK zu außen- und sicherheitspolitischen Fehlentwicklungen. Je aktueller bzw. frühzeitiger solche Positionen formuliert und in Kreisen der "Zunft" sowie der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, desto besser. Der Vorstand der AFK braucht sich dann keine allzu großen Sorgen um die Befindlichkeiten der Mitglieder machen, wenn er sich dabei auf den vermutlich großen Bereich konzentriert, in dem unter den Mitgliedern Konsens besteht. Kontroverse Positionen können ruhig auch benannt werden. Sie dürfen allerdings das Hauptanliegen der Stellungnahme nicht verwässern.
    2. Die AFK bzw. ihre Mitglieder sollten von sich aus den Kontakt zur Friedensbewegung suchen und herstellen und sich als Gesprächspartner anbieten. Friedensforscher haben der Friedensbewegung viele Informationen, Daten und analytische Einsichten voraus: Die gilt es unters Volk zu bringen - das gilt übrigens vor allem auch für jene Wissenschaftler, welche die Friedensbewegung aus politischen Gründen mit einer gewissen Reserviertheit betrachten: Gerade wenn man sich - wie Harald Müller - über "pazifistischen Starrsinn" ärgert, müsste man doch interessiert sein, den Starrsinn mit fundierten Informationen zu erschüttern. Und der Friedensbewegung schadet es überhaupt nicht, wenn sie mit differenzierten und abweichenden Positionen konfrontiert wird.
    3. Der engere Kontakt zur Friedensbewegung könnte auch den einen oder die andere Wissenschaftlerin dazu veranlassen, über die Art der Präsentation ihrer Forschungsergebnisse nachzudenken. Ich beobachte einen ungebrochenen Hang zur Geheimsprache, zur Abstraktion und zur Verliebtheit in originelle, aber oftmals unwesentliche Theorievarianten. Sprache kann auch Mauern errichten, die den Wissenschaftler von der Gesellschaft trennen. Lassen wir zum Schluss noch einmal Pierre Bourdieu zu Wort kommen: "Es ist ein absolut gültiger Grundsatz, etwas, was man für eine Entdeckung hält, zuerst der Kritik der Kollegen auszusetzen, aber warum sollte das kollektiv erworbene und kollektiv überprüfte Wissen ihnen allein vorbehalten bleiben?"

    Literatur

    Pierre Bourdieu (2002): Für eine engagierte Wissenschaft. In: Le Monde diplomatique, Februar 2002, S. 3
    Gernot Erler (2001): Antwort auf den Offenen Brief der Friedensforscher Lutz und Mutz vom 11. April 2001. ((www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/NATO-Krieg/erler.html)
    Dieter S. Lutz (2002): Ist die Demokratie am Ende? In: Frankfurter Rundschau, 14. Januar 2002
    Dieter S. Lutz, Reinhard Mutz (2001): "Mehr Probleme als Lösungen, mehr Fragen als Antworten".Offener Brief an die Bundestagsabgeordneten vom 24. März 2001. (www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/NATO-Krieg/lutz-mutz.html)
    Mohssen Massarrat (2000): Dritte Kammern. Weniger Staat - mehr Zivilgesellschaft. Ein Schritt zur nachhaltigen Demokratie. In: Universitas, Februar 2000, S. 185-197
    Harald Müller (2002): Stachel im Fleisch der Selbstgerechten. In: Frankfurter Rundschau, 24. Januar 2002
    Norman Paech, Gerhard Stuby (2001): Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen. Ein Studienbuch, Hamburg
    Ludger Volmer (2002): Was bleibt vom Pazifismus? In: Frankfurter Rundschau, 7. Januar 2002
    Ulrike C. Wasmuht (1997): Aktuelle Herausforderungen an die Friedens- und Konfliktforschung. In: Wolfgang R. Vogt (Hrsg.): Gewalt und Konfliktbearbeitung. Befunde, Konzepte, Handeln, Baden-Baden, S. 55-75

    * Die AFK-Jahrestagung fand vom 22. - 24. Februar 2002 in der Ev. Akademie Iserlohn statt


    Zur Seite "Friedenswissenschaft"

    Zur Seite "Friedensbewegung"

    Zurück zur Homepage