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"Ästhetik des Widerstands" als Handlungsmaxime

17.11.2011: Reinhard Kühnl zum 75. Geburtstag

Vorbemerkung der AutorInnen: Bereits 1968 trat Reinhard Kühnl dem BdWi bei. Dessen Wiedergründung im Jahre 1972 ist maßgeblich seiner Initiative zu verdanken. Über Jahrzehnte hinweg engagierte er sich in den Gremien des BdWi und der Forschungs- und Informationsstelle (FIB). Kühnl war jahrelang einer der am meisten gefragten Referenten - angefragt wurde er vor allem von Gewerkschaften, aber auch von politischen Stiftungen, den Hochschulverbänden MSB und SHB und verschiedenen Antifa-Gruppen; er referierte aber auch im Rahmen der Lehrerfortbildung und an Volkshochschulen. Somit war er - nach Wolfgang Abendroth - der politisch Wirksamste der Marburger Politikwissenschaftler. Seit einigen Jahren ist Reinhard Kühnl leider an Alzheimer erkrankt, so dass seine intellektuellen Schaffensmöglichkeiten ein Ende gefunden haben.

Die Beschäftigung mit dem historischen Faschismus und der wieder erstarkenden extremen Rechten war in den 1960er Jahren keine Selbstverständlichkeit. Reinhard Kühnl hat sich gleich zu Beginn seiner wissenschaftlichen Kariere diesen beiden Themen gewidmet, die zu einer Lebensaufgabe für ihn wurden. Zahlreiche Studierende kamen in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren nach Marburg, um bei Kühnl zu studieren und sich mit dem Faschismus und seinen Wiedergängern zu befassen. Als Politikwissenschaftler machte er sie mit historischen und gegenwärtigen Deutungsmodellen bekannt, die einem marxistischen Theoriebestand entstammten, der in der Bundesrepublik des Kalten Krieges unter einem starken Ideologieverdacht stand. Als Faschismusforscher erlangte Kühnl international Anerkennung und seine Bücher wurden in 14 Sprachen übersetzt. Seine frühe Schrift Die nationalsozialistische Linke 1925-1930 [1], mit der Kühnl 1965 bei Wolfgang Abendroth promovierte, ist bis heute grundlegend. Hier fokussiert er den linken Flügel der NSDAP um Otto Strasser und unternimmt eine detaillierte Analyse ihres Politikansatzes. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung der NPD, die sich zunehmend des Mittels der sozialen Demagogie bedient, ist die Arbeit von Reinhard Kühnl bis heute aktuell.

Formen bürgerlicher Herrschaft

Um den Faschismus historisch und als gegenwärtige Gefahr deuten zu können, war es für Kühnl wichtig, die spezifischen Voraussetzungen des Faschismus und seine Stellung im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen Produktionsweise zu analysieren. Grundlegend hierfür wurde das erfolgreichste Buch Kühnls, Formen bürgerlicher Herrschaft [2]. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis von Herrschaft als Ausdruck von Klassenkämpfen ging es Kühnl hier um den Nachweis, dass auch der Faschismus eine Form bürgerlicher Herrschaft sei, wenngleich es sich um eine sehr spezifische und auf mannigfachen Voraussetzungen beruhende (Ausnahme)Form von Herrschaft handelt. Herausgearbeitet wird von ihm die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert, die als umfassender historischer Prozess, der Wirtschaft, Politik, Recht, Staatstheorie und Philosophie als verschiedene Aspekte einer gesellschaftlichen Totalität begreift, aufgefasst wird. Darüber hinaus werden von ihm die spezifischen deutschen Bedingungen auf dem Weg zum bürgerlich-kapitalistischen Staat (Sonderweg) analysiert, die schließlich in einer radikalen Variante des Faschismus mündeten, ohne dass Kühnl die Notwendigkeit einer solchen Entwicklung behauptet. Allein die Verbindung von Liberalismus und Faschismus als unterschiedliche Formen bürgerlicher Herrschaft führte zu einer vehementen Ablehnung seines Ansatzes durch konservative Kreise, die den Faschismusbegriff generell nur als ideologisches Kampfinstrument des Kommunismus zur Diskreditierung der bürgerlichen Gesellschaft begriffen. Umstandslos wurde Kühnl diesem ideologischen Feindbild zugeordnet, was ihn ab den achtziger Jahren im bürgerlichen Wissenschaftsspektrum mehr und mehr isolierte. Die erneute Lektüre seiner Texte zeigt aber gerade, dass es ihm unter marxistischen Vorzeichen um eine Erweiterung des erstarrten Faschismusverständnisses ging, wie es im Anschluss an Dimitroff in den realsozialistischen Staaten vorherrschend war. Mit seinem bündnistheoretischen Ansatz der Faschismusdeutung ging es Kühnl zum einen um die objektiv herrschaftsstabilisierende Funktion des Faschismus in der Krise bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften nach dem Ersten Weltkrieg. Auf der anderen Seite wird der Faschismus von ihm jedoch gerade nicht als Marionette der herrschenden Klasse verharmlost; vielmehr arbeitet Kühnl die eigenständige Rolle des Faschismus heraus: "Aus dieser Analyse erfolgt, daß der Faschismus nicht als bloßer Büttel des Kapitals zu begreifen ist, sondern - als spontan entstandene Massenbewegung - einen selbständigen Machtfaktor darstellt. Das Verhältnis zwischen herrschender Klasse und Faschismus in der Phase vor der ›Machtergreifung‹ ist also zu bestimmen als Bündnis zweier eigenständiger Partner, nicht als einseitiges Abhängigkeitsverhältnis, in dem der eine Faktor - die herrschende Klasse - den anderen nach Belieben produziert und als Instrument für die eigenen Zwecke einsetzt."[3]

Der von Kühnl formulierte bündnistheoretische Ansatz der Faschismusdiskussion stützte sich auf vielfältige Vorarbeiten, die er selbst wiederum einem breiteren Publikum mit seinen Büchern Faschismustheorien 1 und 2 präsentierte. Hier werden marxistische und nichtmarxistische Stränge der Faschismustheorie ausführlich dargestellt und einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Zusammen mit dem voluminösen Dokumentenband Der Faschismus in Quellen und Dokumenten hat Reinhard Kühnl somit entscheidend zur Verbreiterung der Faschismusdiskussion beigetragen - ein Verdienst, der politisch häufig als Vorwurf gegen die linke Faschismusdiskussion der 1970er Jahre erhoben wurde. In der Tat wurde zu dieser Zeit der Begriff Faschismus zunehmend inflationär benutzt und somit seiner analytischen Schärfe beraubt. Kühnl trifft dieser Vorwurf jedoch wenig, denn in seinen Arbeiten findet sich gerade ein Plädoyer für eine eher enge und an klaren Kriterien orientierte Verwendung des Faschismusbegriffs. Zutreffender sind da Kritikpunkte, die an zahlreiche Vertreter der damaligen Debatte gerichtet wurden: die fehlende Überprüfung theoretischer Annahmen an den historischen Quellen, vor allem der fehlende konkrete Vergleich der Faschismen in Italien und Deutschland; die mangelnde Berücksichtigung der spezifischen Rolle des Antisemitismus im deutschen Faschismus und eine generelle Unterschätzung der ideologischen Eigenständigkeit des Faschismus. Mindestens bezogen auf die Rolle des Antisemitismus hat Kühnl hier leichte Akzentverschiebungen vorgenommen, womit von ihm die allgemein erst in den späten 1970er und 1980er Jahren einsetzende breite Debatte zur Ermordung der europäischen Juden reflektiert wurde.

Während die gesamte Faschismusdiskussion in der Bundesrepublik - nicht nur ihre marxistische Ausrichtung - seit den achtziger Jahren an den Rand gedrängt wurde und schon der Faschismusbegriff als diskreditiert galt, lässt sich seit einigen Jahren eine vorsichtige Renaissance der Debatte auch in Deutschland beobachten. Die Rezeption der angloamerikanischen Faschismusdebatte, die im Gegensatz zur deutschen Debatte immer vorhanden war, führt inzwischen auch in Deutschland zur Rückbesinnung auf faschismustheoretische Ansätze. Betrachtet man gegenwärtige Forschungen, die zumindest offen sind gegenüber materialistischen Ansätzen, dann finden sich zahlreiche Deutungsvarianten wieder, die auch schon bei Kühnl formuliert waren.[4] So kommt etwa Wolfgang Schieder bei seinem Vergleich der Faschismen in Italien und Deutschland zu ähnlichen Einschätzungen wie Kühnl, was historische Voraussetzungen und machtpolitische Funktion des Faschismus angeht. Schieder muss sich jedoch als jemand, der von den alten Debatten betroffen war, scheinbar immer noch von solchen analytischen Parallelen politisch absetzen.[5] Axel Schildt führt in seinem instruktiven Überblick zu den faschismustheoretischen Ansätzen in der deutschen Geschichtswissenschaft aus, dass diese Form der politischen Distanzierung ganz offensichtlich nicht am Gehalt der wissenschaftlichen Analyse orientiert war und ist. Am Beispiel des bis heute hoch angesehenen Jürgen Kocka zeigt Schildt, dass dieser inhaltlich noch in den achtziger Jahren Kühnls Position geteilt habe, wenn er für die Überlegenheit des Faschismusbegriffs anführte, dass er den "historisch variablen Zusammenhang zwischen bürgerlich-kapitalistischen Systemen und dem Faschismus zum zentralen Thema [mache], ohne doch ihre Identität zu behaupten." Das, so fährt Schildt fort, "ist insofern interessant, als hiermit durchaus die Position von Kühnl bestätigt wurde, der von ›Formen‹ (im Plural) ›bürgerlicher Herrschaft‹ gesprochen hatte und dem mit wachsendem Abstand in schärferem Ton eben deshalb eine geradezu verfassungsfeindliche Stigmatisierung parlamentarischer Demokratie vorgeworfen wurde, weil sie nur als eine Form bürgerlicher Herrschaft in die Nähe der anderen Form gerückt werde."[6] Vielleicht wäre es heute an der Zeit, jenseits vergangener politischer Gefechte, die faschismustheoretischen Arbeiten von Reinhard Kühnl erneut zu studieren und den ohne Zweifel möglichen Erkenntnisgewinn daraus zu ziehen.

Die extreme Rechte in der BRD

Mit der NPD beschäftigt sich ein anderes bis heute viel zitiertes Werk Kühnls, in dem er - zusammen mit Rainer Rilling und Christine Sager - den Aufstieg der NPD in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre untersucht.[7] Bei dieser Studie handelte es sich um die erste in Buchform vorgelegte kritische Analyse der NPD. Publiziert wurde dieser Band bereits 1967, also wenige Monate, nachdem die Kette von Landtagswahlerfolgen der NPD eingesetzt hatte. Für die frühe Phase der ältesten Partei der extremen Rechten in Deutschland ist die ca. 400 Seiten umfassende Studie bis heute grundlegend. Die eingehende Untersuchung rekonstruiert die Vorgeschichte, den Aufstieg und die organisatorische Struktur der NPD. Die Studie analysiert das Programm und die Ideologie der NPD, fragt nach der sozialen und politischen Herkunft der NPD-Anhänger, befasst sich mit den Ursachen des Erfolgs sowie mit dem politischen Kräftefeld, fokussiert die Sozialstruktur und den Faschismus und lotet schließlich Abwehrmöglichkeiten aus. Die Arbeit basiert auf einer Fülle an Daten, die Reinhard Kühnl, Rainer Rilling und Christine Sager ausgewertet haben. Bei der Datenbasis handelt es sich nicht nur um Primärquellen, mit denen sich die NPD in der Öffentlichkeit präsentierte, sondern auch um internes Argumentationsmaterial für politische Funktionäre der NPD, wie z.B. das Politische Lexikon der NPD. Die Unterscheidung zwischen Programmatik und Ideologie lässt deutlich werden, dass die NPD - um einem möglichen Verbot zu entkommen - nach außen hin anders argumentierte bzw. argumentieren musste, als nach innen.

Eine erneute Lektüre der Studie von Kühnl / Rilling / Sager lässt deutlich werden, dass - bei allen historischen Spezifika - einige grundlegende Analysen und Einschätzungen auch heute noch von Relevanz sind. So hat das Autorenteam unter Leitung von Reinhard Kühnl die NPD nicht aus gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen isoliert, sondern sie im politischen Kräftefeld untersucht. Von Interesse war das Zusammenspiel der extremen Rechten und der gemäßigten Rechten. So ist in der Studie zu lesen:

Es ist "denkbar, daß sich aus der programmatischen und ideologischen Verwandtschaft zwischen der gemäßigten und der extremen Rechten ein politisches Bündnis entwickelt. Bisher blieben solche Versuche auf die kommunale Ebene beschränkt. Zu einer Zusammenarbeit auf Landes- oder Bundesebene, d.h. zur Übertragung wichtiger staatlicher Machtpositionen auf die NPD, könnte es nur dann kommen, wenn den Oberklassen ein Bündnis mit der NPD opportun erschiene. Nirgends hat der Faschismus die Macht aus eigener Kraft erobern können; in allen Fällen war er angewiesen auf die Unterstützung der Oberklassen, deren soziale Privilegien er dann als Gegenleistung garantiert hat."[8]

Richten wir unseren Blick nicht ausschließlich auf die Bundesrepublik Deutschland, sondern beziehen den europäischen Kontext mit ein, so wird deutlich, dass sich seit der Jahrtausendwende diverse Bündnisse zwischen der gemäßigten und der extremen Rechten etablieren konnten.[9] In Österreich kam es im Januar 2000 zu einer Koalition zwischen der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) und der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), und im Sommer 2001 übernahm Silvio Berlusconi mit seinem Mitte-Rechts-Bündnis Casa de la Libertà, an dem neben der Forza Italia (FI) auch die Alleanza Nazionale (AN) und die Lega Nord (LN) beteiligt waren, die Regierung.[10]

Ebenso vollzog sich Ende des Jahres 2001 in Dänemark - unter dem Eindruck der Ereignisse des 11. September 2001 - ein Aufschwung der extremen Rechten. Zwar ist die Dänische Volkspartei (DVP) nicht an der rechtsliberal-konservativen Regierungskoalition beteiligt, die im November 2001 die sozialdemokratische Regierung ablöste und seitdem eine Minderheitenregierung stellt. Da jedoch der dänische Premierminister Fogh Rasmussen wegen der notwendigen parlamentarischen Mehrheit auf die Partei am rechten Rand angewiesen ist, regiert die DVP mit, ohne selbst einen Minister zu stellen.

Eine vergleichbare Konstellation zeichnete sich auch in den Niederlanden nach den Parlamentswahlen am 9. Juni 2010 ab. Nach dem Wahlerfolg der rechtspopulistischen Partij voor de Vrijheid (PVV), angeführt durch Geerd Wilders, einigten sich die rechtsliberale Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) und die christdemokratische Christen Democratisch Appèl (CDA) im Oktober 2010 auf eine Minderheitsregierung unter Beteiligung der PVV. Da der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte (VVD) wegen der notwendigen parlamentarischen Mehrheit auf die PVV angewiesen ist, regiert demnach in den Niederlanden - ebenso wie in Dänemark - eine rechtspopulistische Partei mit.

Von besonderem Interesse - mit Blick auf die Koalitionen zwischen der extremen und gemäßigten Rechten - ist auch das ungarische Beispiel. Das Scheitern des rechten bzw. rechtsextremen Lagers nahmen die Studentenorganisation Jobbik und auch Parteiaktivisten der FIDESZ zum Anlass, um über eine Parteineugründung nachzudenken. Der FIDESZ-Politiker, Istvan Stumpf, gab über die Politiker der Jobbik folgendes Urteil ab: "Sie sind gut ausgebildet, kommunizieren gut und [...] haben das Zeug dazu, das radikal-nationale rechte Segment zu besetzen. Die MIÉP hat ihren Schwung verlogen und nichts Neues zu sagen, während die Jobbik die allgemein Anklang findenden radikalen Gedanken niveauvoller zu formulieren vermag."[11] Schließlich wurde die Jobbik-Partei im Oktober 2003 gegründet und firmiert unter dem Namen Jobbik Magyarországért Mozgalom (Bewegung für ein besseres Ungarn). Die Ideologien der Jobbik und FIDESZ, der extremen und gemäßigten Rechten in Ungarn, weisen ein hohes Maß an Übereinstimmungen auf - auch und vor allem mit Blick auf völkische Ideologien, Ethno-Nationalismus und den modernen Antisemitismus.[12]

Nachdem die NPD bei den Bundestagswahlen 1969 an der Fünfprozenthürde scheiterte, wurde es zunächst ruhig um die Partei am rechten Rand. Die (ehemaligen) Mitglieder und Anhänger der NPD verlagerten ihre Aktivitäten auf den außerparlamentarischen Raum. Vor allem die 1970 neu gegründete Aktion Widerstand fungierte als Sammelbecken im Kampf gegen die neue Ostpolitik der sozialliberalen Regierungskoalition zu Beginn der 1970er Jahre.

Reinhard Kühnls Verdienst besteht darin, dass er - auch unabhängig von konjunkturellen Schwankungen - die Entwicklungen in diesem politischen Kräftefeld aufmerksam verfolgte und in seinen Vorlesungen, Seminaren und Vorträgen - universitär und außeruniversitär - thematisierte. Als Ende der 1980er Jahre mit der Deutschen Volksunion (DVU) und den Republikanern (REP) neue Formationen am rechten Rand auftauchten und mit sensationellen Erfolgen zu den Wahlen kandidierten, widmete sich Reinhard Kühnl erneut diesen Parteien der extremen Rechten. Seine Studie Gefahr von rechts?[13] ist von dem Geist getragen, nicht im Sinne einer Momentaufnahme ein bestimmtes Phänomen oder eine bestimmte Partei am rechten Rand zu skandalisieren. Sein Anliegen bestand darin, die aktuelle Entwicklung in ihrem historischen und politischen Kontext zu betrachten. Insofern waren die Wahlerfolge der REP bei den Wahlen zum Westberliner Abgeordnetenhaus (7,5%, Januar 1989) und die Erfolge des Wahlbündnisses zwischen REP und DVU bei den Wahlen zum Europaparlament (1,6%, Juni 1989) Anlass für eine Beschäftigung mit diesem Phänomen. Ein Blick in den Band Gefahr von rechts? verdeutlicht jedoch, dass Reinhard Kühnl als Wissenschaftler, Hochschullehrer und politischer Bildner exemplarisch arbeitet: Das Phänomen der REP untersuchte er im Kontext der gesellschaftlichen Grundlagen und historischen Erfahrungen und vor der Folie der Entwicklung seit 1945 (Grundbedingungen, Aufschwung des Neofaschismus 1966 bis 1969, Prozesse der Stagnation und neuer Aufschwung der extremen Rechten).

In seiner 1991 publizierten Studie warf Reinhard Kühnl Fragen auf - und lieferte vorsichtige Interpretationen -, die in den darauf folgenden Jahren durch empirische Studien weiter vertieft wurden. In Bezug auf die soziale Basis der REP konstatierte er, dass auch eine Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht gegen eine Wahlentscheidung für die REP zu immunisieren scheine. Das Votum für die REP sei bei Umfragen unter Mitgliedern von Gewerkschaften und Nichtmitgliedern etwa gleich hoch. Des Weiteren zeigten Umfragen, dass sich unter den Anhängern der REP vor allem Facharbeiter finden ließen, gefolgt von un- und angelernten Arbeitern. Diese Umfrageergebnisse ließen deutlich werden, dass es nicht unbedingt die sozial Deklassierten seien, die für die REP votierten; vielmehr tendierten jene Wähler/innen zur extremen Rechten, die sich in ihrem sozialen Status bedroht fühlten. "Subjektive Bedrohungsgefühle fallen offenbar stärker ins Gewicht als eigene Betroffenheit."[14] Dies gelte für die Erfahrungen im Kontext sozio-ökonomischer Veränderungen, aber auch mit Blick auf das Zusammenleben mit Ausländern. Die hier von Kühnl angestellten Überlegungen zur Relevanz von sozio-ökonomischen Veränderungen und zur Bedeutung der politischen Kultur im Prozess der politischen Hinwendung zu Ideologien der extremen Rechten wurden in den letzen Jahren in empirischen Forschungsprojekten im europäischen und nationalen Kontext eingehend untersucht.[15] Insofern hat Reinhard Kühnl zu Beginn der 1990er Jahre auf zentrale Fragestellungen und neue Entwicklungen (hinsichtlich der sozialen Basis der extremen Rechten) aufmerksam gemacht und - indirekt - Forschungen in diesem Feld angeregt.

Aktualität

Das 2010 erschienene Buch Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab und die in diesem Kontext erfolgte öffentliche Debatte dokumentiert auf eindringliche Weise, wie bedeutsam es ist, die "vielfältige[n] ideologische[n] und politische[n] Beziehungen"[16] zu untersuchen, die zwischen der gemäßigten und extremen Rechten bestehen - die aber auch deutlich werden lassen, dass die Sozialdemokratie nicht immun ist gegenüber nationalistischen, rassistischen und (sozial)darwinistischen Ideologien.[17]

Abschließend sei angemerkt, dass Reinhard Kühnl in einem beeindruckenden Maße über hochschuldidaktische Fähigkeiten verfügte: Die von ihm gehaltenen Vorlesungen (u.a. Entstehung und Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft) und seine Seminare zur Weimarer Republik, Konservativen Revolution, Faschismusforschung, Frauen im Faschismus etc. haben Generationen von Studentinnen und Studenten nachhaltig geprägt. Als brillanter Rhetoriker vermochte er es, Studierende für Geschichte und Politikwissenschaft zu begeistern. Hierbei verfolgte er das Prinzip, dass er nicht geschichtliche Entwicklung als Detailgeschichte lehrte, sondern nach den Kausalzusammenhängen fragte. Als Hochschullehrer regte er zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten an, die ohne seine Unterstützung und seine Ermutigung sicherlich nicht zustande gekommen wären.

Anmerkungen
  1. Reinhard Kühnl, 1966: Die nationalsozialistische Linke 1925-1930, Meisenheim am Glan
  2. Reinhard Kühnl, 1971: Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus - Faschismus, Reinbek bei Hamburg
  3. Ebd., 104
  4. Vgl. zur aktuellen Faschismusdebatte Guido Speckmann / Gerd Wiegel, 2011: Faschismus, Köln (erscheint im September)
  5. Vgl. Wolfgang Schieder, 2008: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen, 7f
  6. Axel Schildt, 2011: "Faschismustheoretische Ansätze in der deutschen Geschichtswissenschaft. Sieben Thesen", in: Claudia Globisch / Agnieszka Pufelska / Volker Weiß (Hg.): Die Dynamik der europäischen Rechten, Wiesbaden, 267-279, hier: 272.
  7. Reinhard Kühnl / Rainer Rilling / Christine Sager, 1969: Die NPD. Struktur, Ideologie und Funktion einer neofaschistischen Partei, 2. Aufl., Frankfurt a.M. Diese im Suhrkamp-Verlag erschienene Veröffentlichung basiert auf der 1. Auflage, die unter dem Titel Die NPD. Struktur, Programm und Ideologie einer neofaschistischen Partei 1967 im Berliner Voltaire-Verlag erschien. Der Text der 2. Auflage hat jedoch mit jenem der 1. Auflage - abgesehen von dem Argumentationsgang - nicht viel gemeinsam. Während der Text der Erstauflage aus einer schmalen Materialbasis gewonnen werden musste, basiert die Zweitauflage auf einer Fülle von internen Quellen und Dokumenten.
  8. Reinhard Kühnl / Rainer Rilling / Christine Sager 1969: 341f
  9. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei jedoch an dieser Stelle hingewiesen auf die Differenzen zwischen der NPD einerseits und den aktuell erfolgreichen Parteien der extremen Rechten in Europa andererseits. Mehrheitlich handelt es sich bei den derzeit erfolgreichen Parteien der extremen Rechten in Westeuropa nicht um faschistische Parteien im Sinne von Reinhard Kühnl. Diskussionswürdig ist u.E. hingegen der Charakter der erfolgreichen Parteien der extremen Rechten in Osteuropa. So argumentiert Magdalena Marsovszky, dass sich in Ungarn eine "Kultur des Faschismus" durchsetzte, wobei sie sich an dem Faschismusbegriff des britischen Faschismusforschers Roger Griffin orientiert. "Ungarn. Kultur des Faschismus." Ein Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky über den völkischen Ungeist in Ungarn, in: Telepolis v. 3.5.2011.
  10. Bereits 1994 war es Berlusconi mit dieser Bündniskonstellation gelungen, die politische Macht zu erlangen; die Regierungskoalition brach jedoch aufgrund von Kontroversen auseinander, so dass die erste Amtszeit Berlusconis als italienischer Ministerpräsident 226 Tage nicht überschritt.
  11. Zit. nach Gregor Mayer / Bernhard Odehnal, 2010: Aufmarsch. Die rechte Gefahr aus Osteuropa, St. Pölten/Salzburg, 45
  12. Vgl. Gudrun Hentges, 2011: "Die extreme Rechte in Europa - zwischen niederländischem Rechtspopulismus und ungarischem Rechtsextremismus", in: Gudrun Hentges / Hans-Wolfgang Platzer (Hg.): Europa - quo vadis? Ausgewählte Problemfelder der europäischen Integrationspolitik, Wiesbaden, 235-276.
  13. Reinhard Kühnl, 1990: Gefahr von rechts? Vergangenheit und Gegenwart der extremen Rechten. Mit einem Dokumentenanhang, zusammengestellt von Karen Schönwälder, Heilbronn.
  14. Reinhard Kühnl 1990: 121f.
  15. Vgl. folgende Forschungsprojekte: Das EU-Projekt SIREN = "Socio-economic Change, Individual Reactions and the Appeal of the Extreme Right" (Jörg Flecker, Gudrun Hentges u.a.); das Projekt "Prekäre Beschäftigungsverhältnisse - Ursache von sozialer Desintegration und Rechtsextremismus?" (Klaus Dörre u.a.) sowie das von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Projekt "Gewerkschaften und Rechtsextremismus" (Bodo Zeuner, Michael Fichter, Richard Stöss u.a.).
  16. Reinhard Kühnl 1990: 129.
  17. Vgl. Gudrun Hentges, 2011: "Between ›Race‹ and ›Class‹. Elite Racism in Contemporary Germany", in: Wulf D. Hund / Christian Koller / Moshe Zimmermann (Eds.): Racism Analysis. Yearbook 2: Racisms made in Germany, Berlin (forthcoming).
* Prof. Dr. Gudrun Hentges ist Hochschullehrerin für Politikwissenschaft an der Hochschule Fulda;
Dr. Gerd Wiegel ist Referent für Rechtsextremismus / Antifaschismus in der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag.
Gudrun Hentges und Gerd Wiegel waren wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg (1991-1996 bzw. 1997-2003) und arbeiteten eng mit Prof. Dr. Reinhard Kühnl zusammen.

Dieser Beitrag erschien anlässlich des 75 Geburtags von Reinhard Kühnl in der Zeitschrift Forum Wissenschaft, Heft 3/2011



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