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Wenn gut sein nützlich ist

Vor bald 100 Jahren schrieb Max von Baden seine Denkschrift über den "ethischen Imperialismus" - Der Kurzzeitkanzler wäre begeistert vom heutigen Deutschland und seiner Rolle im aktuellen Konflikt in der Ukraine

Von Velten Schäfer *

Als es im Ersten Weltkrieg eng wurde für das Kaiserreich, als Hunger und Mangel die Heimatfront zum Wanken brachten, tauchte in den Betrieben eine neue Sorte von Agitatoren auf. Den hungernden Arbeitern gegenüber, denen man mit der bis dato benutzten Parole vom Anrecht der Deutschen auf einen »Platz an der Sonne« nicht mehr kommen konnte, gab man sich nunmehr »internationalistisch«. Besonders den Krieg im Osten könne man ihnen – so das Kalkül – gewissermaßen als Solidarität gegen die Romanow-Despotie verkaufen, als selbstlosen Befreiungskrieg für den russischen Arbeiter. Damals war dies ein Treppenwitz. Die russischen Arbeiter nahmen ihr Schicksal – wenn auch mit Schützenhilfe der Reichsregierung, die Lenin nach Russland geschleust hatte – alsbald selbst in die Hand. Und auch in Deutschland konnten die kriegskorrupten Gewerkschaften, aus denen diese seltsamen Spin-Doktoren stammten, den Unmut nicht lange kanalisieren.

Teile der Eliten des versinkenden Wilhelminismus sowie der folgenden Semi-Republik hingegen begriffen schnell das Potenzial dieses aus der Not geborenen Gedankens. Es war Max von Baden, der oft als »Schöngeist« abgetane letzte Kanzler des Kaisers, der denselben in einer umfänglichen »Denkschrift« ausführte, die im März 1918 an den damaligen Kanzler Hertling ging. Interessant ist die Schrift heute nicht etwa wegen ihrer politischen Hellsichtigkeit – tatsächlich ziehen sich im Nachhinein groteske Fehleinschätzungen durch den Text, der in Reinhard Opitz’ Dokumentensammlung »Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945« vollständig und anderswo sinnentstellend gekürzt überliefert ist. So glaubte der Zähringerprinz u.a., die »militärische Lage« sei »so glänzend wie nie«, die »strategische Überlegenheit« Deutschlands »niederdrückend«, in England stehe die Regierung von Lloyd George, die eine vollständige Niederlage Deutschlands wollte, vor dem Ende.

Das war weitestgehend Unsinn. Bis heute interessant sind indes Maxens Gedanken darüber, wie ein nachhaltiger Aufbau des »deutschen Imperialismus« (er benutzte den Begriff stets positiv) zu bewerkstelligen sei, nämlich durch moralische Grundierung: »Bisher wurde unser Anspruch auf Macht immer nur begründet mit der Sicherung des Daseins und der Lebensinteressen Deutschlands. Hierbei wurde vorausgesetzt, dass die Welt an diesen Lebensinteressen und an diesem Dasein ein besonderes Wohlgefallen hätte. Das war ein Fehlschluss. Eine so ungeheure Kraft, wie wir sie in diesem Kriege entfaltet haben, muss sich vor der Welt ethisch begründen, will sie ertragen werden. Darum müssen wir allgemeine Menschheitsziele in unseren nationalen Willen aufnehmen.«

Konkret stellte sich der Baden-Prinz das folgendermaßen vor: Das Reich solle im Westen taktisch nachgeben und eine zumindest scheinbare Unabhängigkeit des 1914 überfallenen Belgien garantieren, um sich im Osten, wo nach dem russischen Zusammenbruch absehbar eine Reihe neuer Staaten entstand, glaubwürdig als Schutzmacht aufspielen zu können. So lasse sich nicht nur England, wo Belgien zu dieser Zeit als Hauptgrund für die Fortführung des unpopulären Krieges galt, aus der Entente »herausbrechen«, sondern auch im mittleren und östlichen Europa ein deutsch dominierter Staatenblock installieren – mittels einer Zoll- und Wirtschaftsunion aus abhängigen, unterlegenen Nachbarn.

Bisher, so der Prinz, habe London sein Imperium immer moralisch begründet. Doch sei der »ethische Imperialismus« der Briten durch deren Bündnis mit dem Zarismus desavouiert. Diese Lücke könne man nunmehr für einen eigenen »ethischen Imperialismus« nutzen: »Unsere Befreiersendung im Osten muss unter vernichtenden Anklagen für die Entente umrissen werden. Jedes einzelne Fremdvolk muss erwähnt werden, jede einzelne Begehungs- oder Unterlassungssünde, die die Entente in ihrer Liebesdienerei vor dem Zarismus an den unterdrückten Völkern begangen hat. Wir müssen deutlich machen, dass wir ehrlich als Rechtsschützer an allen Randvölkern handeln wollen (…).«

Eines dieser zu instrumentalisierenden »Randvölker« waren die Ukrainer, die schon im Ersten Weltkrieg eine erhebliche Rolle in deutschen Kriegstaktiken spielten. Seit 1914 hatte Berlin massiv Gelder in nationalistische Bewegungen gepumpt, um einen Frontstaat gegen Russland zu schaffen. Und kurz vor der Denkschrift des Badeners hatte sich tatsächlich ein weitgehend von deutschen Truppen besetzter Marionettenstaat unter dem 1873 in Wiesbaden geborenen und 1945 in Niederbayern verstorbenen »Hetman« Pawlo Skoropadskyj für unabhängig erklärt – zum ersten Mal nach Jahrhunderten, in denen das Land zu Polen oder Russland gehört hatte. Mit Blick darauf warnte von Baden ausdrücklich, zu offen als Vormacht aufzutreten. Man werde sonst nur Annexionsängste wecken.

Der 1929 verstorbene Prinz ging in die Geschichte ein, als er im Herbst 1918 als Kanzler das Kaisertum eigenmächtig für beendet erklärte und die Macht an die Sozialdemokraten übergab. Man kann nicht behaupten, dass seine vertraulich abgefasste Denkschrift politische Debatten bestimmt hätte. Doch die von ihm so schön formulierte ethnopolitische Grundidee, dass »gut sein nützlich ist« und Deutschland durch die Förderung und Ausnutzung der kleinteiligen »Randvölker« Macht im Osten aufbauen könne, weil es dann an einen Flickenteppich von Kleingebilden grenzen würde, mauserte sich in der Zwischenkriegszeit zu einer Nebenaußenpolitik des »Irredentismus« zu der Agenda, unter Ausnutzung von Minderheitenkonflikten in Nachbarstaaten hineinzuregieren. Die Idee, sich den »Randvölkern« als Patron anzudienen und so zum kontinentaleuropäischen Hegemon aufzusteigen, scheiterte freilich vielerorts an den Erfahrungen, die diese vor 1914 mit den Deutschen gemacht hatten – etwa in Gestalt der repressiven »Polenpolitik« in den östlichen Provinzen.

Beim nächsten Anlauf nach Osten spielten diese doppelbödige Befreier-Ethik und eine deutsch dominierte »Zollunion« keine Rolle mehr. Der NS-Staat setzte auf großräumige Annexionen und Sklavenpopulationen. Dennoch wurde im Zweiten Weltkrieg eine ganze Reihe von Marionettenstaaten unter faschistischen Regimes errichtet, etwa in der Slowakei, in Bulgarien, Albanien, Kroatien oder in Ungarn. In der Ukraine dagegen wurde den antisemitischen Nationalisten unter Stepan Bandera diesmal kein Staat geschenkt, obwohl sie sich sehr darum bemühten. Bandera ließ beim Einmarsch der deutschen »Heil Hitler«-Plakate aufhängen, Einheiten der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten) fielen 1941 an der Seite der Wehrmacht in die UdSSR ein und verübten Massaker an Polen. Schon Kaiser Wilhelm hatte den Ukrainern stets misstraut, weil sie ihm so russisch vorkamen; Hitler ließ Bandera sogar internieren. Erst 1944 wurde er mit deutschen Waffen nach Osten geschickt, wo er nicht mehr viel ausrichten konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte er in München und wurde von BND-Gründer Reinhard Gehlen protegiert, der schon als Nazi-Geheimer am Aufbau der »Fremden Heere Ost« beteiligt gewesen war. Die USA hielten dagegen nie viel von seiner Truppe, schon weil er massenweise Dollars fälschen ließ, um sich zu finanzieren. Vielleicht auch deswegen konnte der KGB Stepan Bandera 1959 in München vor seiner Wohnungstür umbringen.

Nach 1945 war an eine moralische Strahlkraft Deutschlands natürlich nicht zu denken. Das »ethische Imperium« ging im »American Way of Life« in vieler Augen an die USA über. Die Entente wurde NATO – und Deutschland statt Russland ein Teil von ihr. Doch nach 1990, als Deutschland von einem 60 auf ein 80 Millionen Volk sowie zur Vormacht in der EU wuchs und der Weg nach Osten wieder offenstand, schienen die vom Karlsruher Prinzen so eindrücklich formulierten Konzeptionen plötzlich wieder aktuell. Wenn auch in einer Form, die den Deutschen gelegentlich peinlich wurde. Während der auch von der eiligen deutschen Anerkennungspolitik befeuerten Jugoslawienkriege etwa wurden die Deutschen mancherorts mit faschistischen Grußgesten empfangen, was man sich verbitten musste. Ganz ähnlich sind nun die Bilder aus Kiew, wo ein deutscher Außenminister dem Chef der Bandera-Fan-Partei »Swoboda«, die die Ukraine derzeit in einen Bürgerkrieg zu stürzen versucht, grinsend auf die Schulter klopft.

Endlich, so scheint es, kann Deutschland die Rolle einnehmen, die Max von Baden einst vorschwebte: die des guten Onkels, der den kleinen Brüdern in Mittelost den Weg weist – auch wenn viele derselben dabei noch immer nur wenig Liebe empfinden. Vor allen anderen aber glaubt eine europäische Population an den »ethischen« Auftrag der Deutschen: die Deutschen selbst nämlich, die vermutlich den weltweit einzigen Staat bewohnen, in dem ein Präsident zurücktreten musste, weil er im Zusammenhang mit Außenpolitik von Interessen sprach und nicht nur vom reinen Weltgewissen. Eine derartige Durchdringung der Bevölkerung mit dem Glauben an die eigene Sendung hatte sich nicht einmal der Zähringer in seiner Denkschrift träumen lassen, der für die eigene Zivilbevölkerung »Maschinengewehre im Notfall für ein wirksames Mittel« hielt.

In der gegenwärtigen Eskalation in der Ukraine, die 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg ein Szenario eröffnet, wie es mitten in Europa zu einem großen Krieg kommen könnte, zeigt unter anderem, wie gefährlich dieses neue Sendungsbewusstsein ist. Zu den Speerspitzen gehört gerade jenes früher »alternative« Milieu, dass sich nunmehr anschickt, mit der selben Gesinnungsethik wie bei Anti-Atomprotesten Außenpolitik zu betreiben – und vergessen hat, wie gefährlich das »Great Game« eigentlich ist. Jüngster Ausweis ist ein am Freitag von der Böll-Stiftung verbreitetes Pamphlet, in dem die seit Wochen eskalierende Gewalt auf dem Maidan als reine »Reaktion« dargestellt wird und das sogar den offenkundigen Schusswaffengebrauch der Regierungsgegner unterschlägt. Wer sich um den Frieden sorgt – und das sollten im Moment wir alle sein –, wird einmal mehr eher im altkonservativen Lager auf Bundesgenossen stoßen als auf der grünen Seite der einstigen Barrikaden von 1968.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 25. Februar 2014


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