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Blitzkrieg gescheitert

Geschichte. Weitreichende Folgen für den Ausgang des ersten Weltenbrands: Vor 100 Jahren verlor das deutsche Heer die Schlacht an der Marne

Von Martin Seckendorf *

Mit der Krönung des Preußenkönigs Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser am 18. Januar 1871 im von deutschen Truppen okkupierten Versailles war eine neue kapitalistische Großmacht entstanden. Dem wilhelminischen Reich gelang unter Nutzung der Möglichkeiten eines bevölkerungsreichen Einheitsstaates und der Entwicklung von Naturwissenschaften und Technik (siehe jW-Thema vom 5.10.2013) ein bedeutender ökonomischer Aufschwung. Bald schon wurde es zum ernsthaftesten Konkurrenten Großbritanniens, der bis dahin führenden Industrie- und Handelsmacht (siehe jW-Thema vom 4.6.2014). Bei wichtigen Indikatoren für den Industrialisierungsgrad und die Produktionskraft verdrängte Deutschland England von der Spitzenposition. In den 1890er Jahren war hierzulande der Kapitalismus der freien Konkurrenz durch den Monopolkapitalismus abgelöst worden. Gestützt von großen Banken entstanden nun Unternehmenskomplexe. Diese verlangten nach neuen Märkten und Rohstoffquellen. Doch es gab für sie keinen globalen freien Handel. Die Mächte hatten ihre Einflußgebiete bereits abgeschottet.

Am 21. Juli 1904 beklagte Reichskanzler Bernhard von Bülow »die fortschreitende Verminderung der Länder, in denen noch freier Absatz und unbeschränkte wirtschaftliche Betätigung möglich« seien. Deutschland brauche Kolonien und Einflußgebiete. Er fügte hinzu: »Wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.« Das privatwirtschaftliche Streben nach Maximalprofit wurde zu einem nationalen Anliegen erklärt. 1897 sagte von Bülow im Reichstag: »Wir betrachten es als eine unserer vornehmsten Aufgaben, (…) die Interessen unserer Schiffahrt, unseres Handels und unserer Industrie zu fördern und zu pflegen.«

Die Rivalen Deutschlands hatten die Welt weitgehend parzelliert. Der deutsche Imperialismus drängte auf eine Neuaufteilung. Seine Forderungen lösten einen Wettlauf zur Unterwerfung der noch »freien«, meist halbkolonialen Gebiete, wie des Osmanischen Reichs, aus. In der Türkei kam Berlin etwas schneller zum Zuge. Das Auftauchen der Deutschen an der Nahtstelle zwischen britischen und russischen Interessengebieten bewog Rußland und Britannien zur Beilegung ihrer Differenzen am Bosporus wie in Asien und nötigte sie geradezu zu einem Bündnis gegen Deutschland.

Einen ähnlichen Effekt hatten Versuche Berlins, Einfluß auf Marokko zu gewinnen. Hier kam es 1905 und 1911 zu den den Frieden bedrohenden Zusammenstößen mit Frankreich. Besonders in der zweiten Marokkokrise von 1911 betrieb Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg nach eigenen Worten eine Politik des »höchsten Risikos«. Deutschland bot an, die Unterwerfung Marokkos durch Frankreich zu akzeptieren, wenn der französische Imperialismus der Errichtung eines deutschen mittelafrikanischen Kolonialreichs vom heutigen Tansania am Indischen Ozean bis nach Togo am Atlantik zustimme. Zur Verblüffung Berlins stellte sich Großbritannien an die Seite Frankreichs. Der deutsche Imperialismus mußte sich mit geringen Gebietserwerbungen zufriedengeben und den Rückzug antreten.

Die Marokkokrise war ein entscheidender Schritt hin zu einem großen Krieg. In den deutschen herrschenden Klassen und Schichten setzte sich die Auffassung durch, Verhandlungen zur Verwirklichung der Expansionsforderungen brächten nichts. Bei der nächsten Gelegenheit werde »zum Schwert« gegriffen. Deutschland müsse sich, so ein Aufsatz in den Berliner Neuesten Nachrichten vom 8. Dezember 1913, »um jeden Preis, auch um den eines Waffengangs, neue Siedlungs- und Absatzgebiete verschaffen«. Der Krieg sei in diesem Kontext eine »praktische Notwendigkeit«. »Aufgabe unserer Diplomatie wird es sein, den Krieg so vorzubereiten«, daß man außenpolitisch günstige Konstellationen erreiche. Die Verantwortlichen in Deutschland meinten zudem, die Weltmachtpläne seien nicht mit militärischen Abenteuern irgendwo auf dem Planeten durchzusetzen. Die Entscheidung falle in einem europäischen Krieg gegen Frankreich und England. Die Zeit dränge, der Augenblick sei günstig. Man wähnte sich militärisch im Vorteil, da die Rüstungsprogramme der Rivalen noch nicht realisiert worden waren. Die nächste Gelegenheit bot der Mord am österreichischen Thronfolger am 28. Juni 1914 in Sarajevo (siehe jW-Thema vom 28.6.2014).

Auf Kriegskurs

Der deutsche Imperialismus glaubte, aus beiden Marokkokrisen für die Kriegsvorbereitung neben der Notwendigkeit verstärkter Rüstungen zwei weitere wichtige Erkenntnisse gewonnen zu haben: Zum einen meinte man, angesichts der starken Arbeiterbewegung in Deutschland großen propagandistischen Aufwand für die Konzipierung eines »richtigen« Kriegsgrundes betreiben zu müssen. Die Massen seien nicht bereit, wegen eines Hafens in Afrika Mühsal und Leiden eines europäischen Krieges auf sich zu nehmen, so die Auffassung der Herrschenden. Der Kriegsgrund sei so zu formulieren, daß die Bevölkerung glaube, Deutschland sei zu einem Verteidigungskrieg gezwungen worden. Am 21. Dezember 1912 übersandte der Chef des Großen Generalstabs, Helmuth von Moltke, dem Reichskanzler Bethmann Hollweg eine Denkschrift, die die Schlußfolgerungen der deutschen Militärs aus den Marokkokrisen für die operativen Planungen eines Krieges gegen die Entente, das aus Frankreich, Rußland und England bestehende Bündnis, enthielt. Im Überblick über die militärpolitische Lage heißt es: »Gelingt es im Kriegsfall, den Casus belli so zu formulieren, daß die Nation einmütig und begeistert zu den Waffen greift, so wird man auch den schwersten Aufgaben mit Zuversicht entgegensehen können.« Die Schaffung eines Mythos, man führe einen Verteidigungskrieg, war zu einem Bestandteil der operativen Planung geworden.

Am 1. August 1914 erklärte Deutschland Rußland den Krieg (siehe jW-Thema vom 1.8.2014). Der Chef des Marinekabinetts, der Personalbehörde für die Offiziere dieser Waffengattung, war Georg Alexander von Müller. Er schrieb dazu in sein Tagebuch: »Stimmung in Berlin glänzend. Die Regierung hat ein glückliches Händchen gehabt, uns als die Angegriffenen darzustellen.«

Eine weitere Erkenntnis betraf die Haltung Großbritanniens, das zu erkennen gegeben hatte, im Kriegsfall Frankreich beizustehen. Bis dahin war man in Berlin davon ausgegangen, das französisch-britische Bündnis laufe eher auf eine moralische Unterstützung Londons für Paris hinaus. Deutschland hatte jetzt damit zu rechnen, daß ein Waffengang nicht nur gegen Frankreich und Rußland, sondern auch gegen Großbritannien geführt werden mußte, und dieser vom ersten Tag an ein »allgemeiner europäischer Krieg«, wie von Moltke in der Denkschrift feststellte, sei.

Die mit der Politik am Rande des Krieges bekräftigten Expansionsforderungen und die Hochrüstung hatten Deutschland außenpolitisch isoliert. Diese selbstgewählte Position wurde zunächst als »Politik der freien Hand« glorifiziert, von der Propaganda für das Volk später als »Einkreisungspolitik der Feindmächte« dargestellt. Den Mittelmächten, letztlich nur aus Deutschland und Österreich-Ungarn bestehend, stand die Entente gegenüber. Bei dieser Konstellation mußte Deutschland einen Zweifrontenkrieg gegen die überlegenen Gegner des Dreierbündnisses führen. Um einen solchen Kampf gewinnen zu können, hatte der Chef des deutschen Generalstabs, Alfred von Schlieffen, 1905 ein ebenso tollkühnes wie abenteuerliches, in hohem Maße verbrecherisches Konzept entwickelt (siehe jW-Thema vom 3.1.2013). Schlieffen und sein Nachfolger von Moltke wollten den Zweifrontenkrieg in zwei zeitlich gestaffelte Einfrontenkriege auflösen und damit das Dilemma der deutschen numerischen Unterlegenheit beseitigen. Die Grundidee war, die Masse des deutschen Heeres, nämlich sieben der acht Armeen, sofort offensiv im Westen und eine Armee im Osten als Defensivkraft gegen Rußland einzusetzen. Der General der Infanterie, Karl Bruno von Mudra, beschrieb am 9. November 1911 den deutschen Kriegsplan: Einigkeit herrsche in der Führung darin, »daß wir mit unserem Hauptstoß (…) Frankreich treffen müssen«, um es »mit vernichtender Kraft entscheidend zu schlagen«. Dann bekomme die Heeresleitung »freie Hand zur Verwendung der Streitkräfte, auch gegen den östlichen Gegner«. In der erwähnten Denkschrift an den Reichskanzler begründete von Moltke die »Westoffensive« damit, daß in Frankreich »eine rasche Entscheidung zu erhoffen«, ein »Offensivkrieg nach Rußland« wegen der Größe des Landes jedoch »ohne absehbares Ende« sei. Die Blitzkriegskonzep­tion gegen den Nachbarstaat wäre, so der Leiter der Eisenbahnabteilung im Großen Generalstab, Wilhelm Groener, das »Geheimnis des Sieges« im Zweifrontenkrieg.

Moltke machte den Reichskanzler auch auf die politischen Tücken des Plans aufmerksam: »Um aber gegen Frankreich offensiv zu werden, wird es nötig sein, die belgische (und die luxemburgische; M.S.) Neutralität zu verletzen.« Da der ostfranzösische Festungsgürtel umgangen werden sollte, war vorgesehen, mit fünf Armeen in Luxemburg und Belgien einzumarschieren und nach Frankreich durchzustoßen. Zwei Armeen sollten die Deckung der deutschen Grenze im Elsaß und in Lothringen übernehmen. In einer riesigen Umfassungsoperation, wie mit einem Zangengriff, wollte man Paris nehmen und die französische Armee gegen die Schweizer Grenze und die französische Festungsfront drücken. Die Masse der Angehörigen der millionenstarken französischen Armee, die belgischen Streitkräfte sowie ein britisches Expeditionskorps seien zu vernichten. Dadurch hätte das Deutsche Reich Frankreich und Großbritannien zur Unterwerfung gezwungen. Der Feldzug sollte nicht länger als zwei Monate dauern. Danach wollte man sich mit den Hauptkräften gegen Rußland wenden.

Der Überfall

Das Aufmarschkonzept der Militärs enthielt neben der Planung von Verstößen gegen das Völkerrecht durch den Überfall auf Belgien und Luxemburg sowie der Formulierung des »richtigen« Kriegsgrunds eine weitere politische Komponente: Sollte die Blitzkriegsdoktrin auch nur die Spur eines Erfolges haben, wollten die Generale, gestützt auf den hohen Bereitschaftsgrad des Heeres, dessen Mobilmachungsplanung schon seit März 1914 abgeschlossen war, so früh wie möglich losschlagen. Politisch-diplomatische Aktionen der Reichsregierung nach einer Kriegserklärung an eine der Ententemächte waren so nicht mehr möglich.

Aber am 1. August war aus »innenpolitischen Gründen« die deutsche Kriegserklärung an Rußland ausgesprochen worden. Und nur einen Tag danach begann der Krieg im Westen. Zwischen dem 2. und 4. August fielen die deutschen Armeen in Belgien und Luxemburg ein. Die belgischen Streitkräfte leisteten hartnäckigen Widerstand, mußten sich aber nach einiger Zeit in die Festung Antwerpen zurückziehen. Am 20. August war Brüssel gefallen.

Die Deutschen errichteten in Belgien ein überaus brutales Okkupationsregime (siehe jW-Thema vom 8.7.2014). Der Staat hatte als »Hinterland« für die Versorgung der nach Frankreich eindringenden deutschen Verbände zu dienen. Außerdem sollten das Land und seine Bewohner in die deutsche Kriegswirtschaft eingebunden werden. Schon am 23. August beschloß die Reichsregierung die »Grundzüge über die militärische, finanzielle und wirtschaftliche Ausnutzung des Königreichs Belgien«. Um die rückwärtigen Verbindungen zu sichern, einem Partisanenkrieg durch Einschüchterung der Bevölkerung vorzubeugen und die Belgier zu zwingen, die Okkupation sowie die wirtschaftliche Ausbeutung zu dulden und für die Deutschen zu arbeiten, sollte das Land »befriedet« sein. Dazu gingen die Deutschen mit unglaublicher Brutalität gegen die Bevölkerung vor. Geiselnahmen, Folterungen, Massenerschießungen, Deportationen zur Zwangsarbeit, großflächige Zerstörungen waren fast alltäglich. 1914 wurden in Belgien und Nordfrankreich 5512 belgische und mehr als 900 französische Zivilisten durch deutsche Soldaten exekutiert.

Nach der Eroberung von Brüssel drang das deutsche Heer von Norden aus in Frankreich ein. Dort traf es zum ersten Mal auf die britisch-französischen Hauptkräfte. Da zeitgleich die beiden deutschen Armeen im Elsaß und in Lothrin­gen offensiv wurden, entwickelten sich an einer 250 Kilometer langen Frontlinie schwere Kämpfe. Den Deutschen gelang die Überraschung. Das französische Oberkommando wußte zwar, daß Einheiten des wilhelminischen Kaiserreichs durch Belgien kommen würden, hatte aber nicht mit so einem wuchtigen und vor allem so weit nach Westen ausgreifenden Angriff gerechnet.

Die Erfolge in den »Grenzschlachten« lösten in der deutschen herrschenden Schicht eine unglaubliche Siegeseuphorie aus. Schon am 22. August beauftragte Bethmann Hollweg seinen politischen Berater, Kurt Riezler, Bedingungen zu erarbeiten, die den Franzosen bei Friedensverhandlungen zu diktieren wären. Am 24. August meinte von Moltke, die Entscheidung in Frankreich sei gefallen. Das deutsche Heer brauche die Franzosen nur weiter zu verfolgen. Am 27. August befahl der Kaiser »den Vormarsch des deutschen Heeres auf Paris.«

Die Entscheidungsschlacht

Um die nach Süden und Südosten zurückweichenden britisch-französischen Truppen von Paris abzudrängen, zu verfolgen und von Westen her zu umfassen, drangen die deutschen Armeen östlich an Paris vorbei weiter vor. Bis zum 5. September war die Marne erreicht und teilweise überschritten. Frankreich befand sich in einer kritischen Situation. Die deutschen Truppen hatten Reims erobert und standen nur noch 40 Kilometer von Paris entfernt. Am 2. September floh die Regierung nach Bordeaux. Zehn von 86 Provinzen, darunter kriegswirtschaftlich besonders wichtige Gebiete, waren vom Feind besetzt.

Mit dem Erreichen der Marne aber hatten sich die strategische Lage und das numerische Kräfteverhältnis zugunsten Frankreichs verändert. Der Kampfwert der deutschen Truppen und der Mannschaftsbestand waren gesunken. Die Angriffsverbände hatten zwei Armeekorps an die Ostfront und starke Kräfte für die Belagerung noch nicht eroberter belgischer und französischer Festungen sowie zur Sicherung des Okkupationsregimes in Belgien abgeben müssen. Entscheidend war die Erschöpfung von Mannschaften und Pferden durch die Marschanforderungen von bis zu 30 Kilometern täglich bei glühender Hitze. Zunehmend machte sich auch die Überdehnung der rückwärtigen Verbindungen für Nachschub und Kommunikation zwischen der in Luxemburg residierenden Obersten Heeresleitung und den Armeeoberkommandos an der Front bemerkbar. Die Verluste in den Grenzschlachten und Verfolgungskämpfen konnten nicht mehr ausgeglichen werden.

Auch die britisch-französischen Kräfte hatten in den bisherigen Kämpfen schwere Verluste erlitten. Es gelang aber dem französischen Oberkommandierenden, Joseph Joffre, die Truppen planmäßig zurückzuführen, die Umfassung durch die Deutschen zu verhindern und südlich der Marne eine geschlossene Front aufzubauen. Von großer Bedeutung war, daß die französische Führung zwei neue Armeen aufstellen konnte: eine für die Marnefront (9. Armee), die der deutschen Aufklärung entgangen war, und eine nördlich der fränzösischen Hauptstadt (6. Armee). An der Marnefront war Anfang September zwischen den eingesetzten Soldaten beider Seiten ein Kräfteverhältnis von fast eins zu drei zugunsten der Entente entstanden. Die bei Paris stehende Armee machte sich zum Stoß in die westliche Flanke des nach Süden und Südosten drängenden deutschen Angriffskeils bereit.

Die Oberste Heeresleitung erkannte die Bedrohung. Im Operationsbefehl vom 5. September wird geschlußfolgert: »Ein Abdrängen des gesamten französischen Heeres in südöstlicher Richtung gegen die Schweizer Grenze ist somit nicht mehr möglich.« Wichtige Teile des kaiserlichen Heeres mußten den Vormarsch einstellen, starke Kräfte wieder nach Norden verlegt und gegen die französische Gruppierung bei Paris eingesetzt werden. Da der größere Teil des deutschen Heeres südlich der Marne verharrte, entstand östlich von Paris eine etwa 45 Kilometer breite Lücke in der deutschen Front. Es standen keine Reserven zu deren Schließung zur Verfügung. Im deutschen Kriegsplan war festgelegt worden, zur Erhöhung der Durchschlagskraft alle Reserven von Anfang an für die Front zu verwenden. Der Generalstab hatte alles auf eine Karte gesetzt und va banque gespielt.

Am 6. September begann für die Deutschen überraschend die britisch-französische Gegenoffensive an der Marne. Einen Tag zuvor hatten bereits die Franzosen die nordöstlich von Paris stehenden deutschen Kräfte angegriffen. Diese wiederum verlegten zur Verstärkung weitere Einheiten aus den südlich der Marne stehenden deutschen Verbänden im Eilmarsch an die Pariser Front, wodurch sich aber die Frontlücke weiter vergrößerte. Auf einer mehr als 250 Kilometer langen Linie entwickelten sich die bis dahin schwersten, für beide Seiten verlustreichsten Kämpfe im Ersten Weltkrieg. Als die deutsche Heeresleitung erkannte, daß britisch-französische Truppen, wenn auch zögerlich, in die Frontlücke stießen und die deutschen Armeen gleich von zwei Seiten bedrohten, wurde der allgemeine Rückzug befohlen. Erst am 13. September, als die durch den Fall der französischen Festung Maubeuge freigewordenen deutschen Kräfte herangeführt wurden, gelang die Schließung der Frontlücke und der Aufbau einer stabileren Gefechtslinie hinter der Aisne. Bis zu 80 Kilometer waren die deutschen Truppen zurückgegangen und hatten u.a. Reims wieder aufgeben müssen.

Moltkes Rücktritt

Durch den Rückzug war eine ernsthafte Führungskrise entstanden. Moltke meldete seinem Kaiser: »Majestät, wir haben den Krieg verloren!« Der Generalstabschef wurde für verrückt erklärt. Am 14. September trat von Moltke zurück.

In der Marneschlacht erlitt das deutsche Heer eine strategische Niederlage. Es hatte sich als unmöglich erwiesen, die französisch-britischen Streitkräfte zu umfassen, in einer riesigen Schlacht zu vernichten und den Krieg im Westen schnell zu beenden.

Gleichzeitig mußten die österreichisch-ungarischen Truppen in Galizien schwere Niederlagen einstecken. Die Verlegung deutscher Truppen vom Westen an die Ostfront war nicht mehr möglich. Der Blitzkriegsplan Schlieffens war gescheitert, ein Ende der Schlachten nicht mehr abzusehen.

Die Frage des »kurzen Krieges« aber hatte im strategischen Konzept und in der Propaganda eine große Rolle gespielt. Im August 1914 hatte der Kaiser den ins Feld ziehenden Soldaten zugerufen: »Ehe noch die Blätter fallen, seid ihr wieder zu Hause.«

Moltke war vor allem aus zwei Gründen der Meinung, daß der Krieg schnell beendet werden müßte: Einmal glaubte er nicht, daß die privatkapitalistisch-anarchisch geprägte Produktionsweise die Versorgung der Front und der Bevölkerung über eine längere Zeit gewährleisten könnte. Zum anderen meinte er, daß das Volk die Belastungen eines langen Krieges mit enormen menschlichen Verlusten an der Front und der Unterversorgung in der Heimat nicht hinnehmen werde.

Von den dramatischen Ereignissen an der ­Marne aber erfuhr der deutsche Zeitungsleser lange Zeit nichts. Die Heeresleitung berichtete lange noch immer vom Erfolg der »deutschen Waffen«. Selbst der Rücktritt von Moltkes und die Ernennung des preußischen Kriegsministers Erich von Falkenhayn zu seinem Nachfolger wurde erst Monate später bekanntgegeben. Erstaunlich ist, daß nur wenige Vertreter der herrschenden Klassen in Politik, Militär und Wirtschaft in der Schlacht eine Zäsur erkannten.

Die Mitte August begonnene Kriegszieldiskussion ging verstärkt weiter. Ausgerechnet auf den 9. September, als der Rückzug der deutschen Truppen von der Marne in vollem Gange war, datierte der Reichskanzler die »Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluß«. Das »Septemberprogramm« Bethmann Hollwegs ist ein Schlüsseldokument zum Beweis für die unersättliche Gier des Kaiserreichs.

Der Blitzkrieg ging an der Marne verloren. Mitte September begann ein neuer Krieg. Auf den war der deutsche Imperialismus nicht vorbereitet.

* Aus: junge Welt, Freitag 5. September 2014


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