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Schöneres Selbstbild

Von Sinn und Zweck einer Revision: Warum mit Christopher Clarks Band zum Ersten Weltkrieg, "Die Schlafwandler", an deutscher Geschichte geputzt wird

Von Kurt Pätzold *

Es kommt immer wieder vor, daß sich ein Wissenschaftler bei seinen Forschungen in eine Idee verliebt, weniger Wohlwollende mögen sagen: verrennt. Meist, früher oder später, sterben solche Einfälle im Gespräch mit Kollegen. Und nicht so selten gehen selbst vom im Ganzen Verworfenen noch Anregungen aus. Anders setzt sich die Sache fort, wenn sich an einen abwegigen Gedanken, der etwa durch eine Buchveröffentlichung über den Kreis der Fachleute hinaus publik geworden ist, Interessen knüpfen lassen, die außerhalb des Bereichs der Wissenschaft existieren. Das ist der aktuelle »Fall Christopher Clark«, der eines Historikers, und dies wiederum ist kein Zufall. Die Nähe der Geschichtswissenschaft zur Politik wird ernsthaft nicht mehr bestritten, und also haben die Jünger der Clio zu entscheiden, wie sie sich in dem daraus entstehenden Spannungsfeld bewegen.

Verzicht auf Warum-Frage

Der in Großbritannien lehrende australische Forscher hat in jahrelangen Recherchen die diplomatische Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges erforscht. Mit dieser Arbeit stellte er sich in eine lange Reihe, aus der sein Buch jedoch deutlich herausragt, hervorstechend durch neue und weitläufige Archivstudien in vieler Herren Länder, die einen Polyglott zur Voraussetzung hatten. Dabei hat Clark, wie er nicht nur eingestand, sondern betonte, das »Wie« der Entstehung des Krieges mehr interessiert als das »Warum«. Das ist außergewöhnlich, denn erst der Grundsatz »Rerum cognoscere causas« (den Dingen auf den Grund gehen) führt auch zu den Ursachen und den Verursachern geschichtlicher Entwicklungen, und deren Aufdeckung gilt als so etwas wie die Krönung einer Forscherarbeit.

Was Clark als das Hauptergebnis seiner Fahndungen gilt, hat er zudem im Haupttitel seines gelehrten Buches ausgewiesen. Er fand heraus, daß die Staatsoberhäupter, Politiker und Diplomaten, also das ganze Personal, das für den Weg in das Massenmorden verantwortlich zu machen ist, in diesen Krieg hineintappte wie Schlafwandler. Dieses Begriffs hatte sich vor ihm noch niemand bedient. Es war die Rede vom »Hineinschlittern« und »Hineintaumeln«, vom »Sprung ins Dunkle« und ähnlichem gewesen. Mit diesen älteren Bildern weist dasjenige des Australiers jedoch eine unverkennbare Verwandtschaft auf. Sie alle ignorieren die Tatsache, daß Kriege erstrebt werden, um Interessen durchzusetzen und Ziele zu erreichen, wie exakt oder wie ungefähr sie auch bestimmt sein mögen. Das geschieht wachen Sinnes, wobei man sich Chancen für die eigenen Pläne ausrechnet. Noch niemand hat sich in einen Krieg gestürzt, um ihn zu verlieren. Was in der Phase von Kriegsvorbereitungen an Unwissen, Uninformiertheit, Selbstüber- und Geringschätzung der Gegner, also an Fehlkalkulationen, im Spiele sein mag, was davon Beteiligte später mitunter eingestehen oder sich aus überlieferten Akten ermitteln läßt, dies alles ändert nichts an der Existenz von Interessen, nicht nur von Einzelpersonen, sondern von sozialen Gruppen, und daraus erwachsenden Zielvorstellungen. Kriege werden auch nicht um ihrer selbst willen begonnen.

Über die Antriebe, die das Handeln derer bestimmten, die den Krieg als Möglichkeit der Politik, als Weg zur Erreichung ihrer Interessen ansahen und beschritten, wird von den Beteiligten hingegen meist geschwiegen. Sie sind nicht vorzeigefähig, sondern eher entlarvend. So blieben die Nebelwerfer, die seit Kriegsbeginn Granaten mit der Aufschrift »Vaterlandsverteidigung« verschossen, in Stellung und Aktion, als der 1914 von den beiden Kaiserreichen, dem habsburgischen und dem hohenzollernschen, begonnene Krieg verloren war und die deutsche Geschichte in der Weimarer Republik angekommen war.

Doch die Wahrheit kam herfür. Wenn auch nur mehr oder weniger deutlich ausgesprochen, gelangte sie bis in die Schulbücher der Bundesrepublik: Es sei die im Deutschen Reich herrschende gesellschaftliche Elite, bestehend aus Zivil- und Militärpersonen, gewesen, die zur Verteilung der Filetstücke des Erdballs zu spät gekommen war. Sie habe sich bewaffnet, um den öffentlich verlangten »Platz an der Sonne« zu erstreiten. Und dies allen Warnungen zum Trotz, an denen es selbst in ihren eigenen Kreisen und Cliquen nicht fehlte. So geriet das Kaiserreich in einen Krieg gegen drei europäische Großmächte, in dem diese ihre imperialistischen Pfründe und Interessen gegen ein Deutschland behaupten wollten, das sich binnen drei Jahrzehnten zu einer Großmacht entwickelt hatte und nun auf Kosten anderer Weltmacht werden wollte. Nichts von Rechnungen und Gegenrechnungen bei Clark. Schlafwandler tappten auf der Bühne der Weltpolitik herum, und irgendwo war da das tödliche Moor, der Krieg.

Im Dienst der Politik

Wenn Historiker das Vokabular ihrer Disziplin verlassen und sich der Begriffswelt der Naturwissenschaften bedienen, und das geschieht ständig auch im Blick auf den historischen Platz des Ersten Weltkriegs (»Urkatastrophe«, »Urknall«), ist Vorsicht angeraten. Und die gilt doppelt, wenn ein geschichtlicher Vorgang mit einem Begriff aus der Neurologie beschrieben wird, wenn die Akteure zu einer Sorte von harmlosen und bedauernswerten Kranken erklärt werden, die meist nicht aggressiv ist, sondern sich auf ihren nächtlichen Gängen vor allem selbst der Gefahr von Verletzungen aussetzt. Der Vergleich mit dem Somnambulismus trägt an Erkenntnis nichts bei, aber er hat den Vorzug, die Akteure von jeglicher Verantwortung für das freizusprechen, was sie in der Weltgeschichte angerichtet haben. Ganz hat das Clark offensichtlich nicht gewollt und durch seine Forschungen auch nicht als gerechtfertigt angesehen. Doch glaubte er sich zur dem Urteil berechtigt, daß die Schlafwandelnden in Berlin und Wien nicht weniger und nicht mehr für die Millionen Toten und Verkrüppelten, die Verwüstungen von Städten und Landschaften, die Last, die sie den Nachfolgenden aufbürdeten, verantwortlich seien als die Schlafwandler in Petersburg, London und Paris.

Das ergab ein Revisionsangebot wider ein Geschichtsbild, das zuerst in der deutschen Linken, dann von Demokraten und Pazifisten verfochten, in der DDR forschend weiter fundiert, in der BRD in den 60er Jahren von Fritz Fischer und dessen Schülern gegen Widerstände erhärtet und verbreitet wurde. Als Clarks Buch 2012 in London erschien, war es Sache deutscher Fachleute, dieses Angebot anzunehmen, ihm zu widerraten oder es auch unkommentiert gleichsam durchgehen zu lassen. Es war nicht die Leistung des Forschers, die das Buch zum Ereignis machte, vielmehr war es die Reaktion darauf. So waren es zunächst Einzelne wie der Militärhistoriker Gerd Krumeich und dann, als die deutsche Übersetzung erschienen war, im Chor die bürgerliche Presse und weitere Medien, die den Band zum Bestseller hochjubelten.

Daß Fritz Fischer auf Gegenwehr seiner Fachkollegen gestoßen war, die selbst akademische Höflichkeitsformen außer acht ließ, war nicht verwunderlich. Seine Kontrahenten verteidigten ihre eigenen Biographien, den Teil, in dem sie mordspatriotische Kriegsteilnehmer gewesen waren, und jenen, in dem sie sich studierend und lehrend an der Verklärung – richtiger: Verfälschung – der Weltkriegsgeschichte beteiligt hatten. Das bestimmte den Ton ihrer Abweisung. Es kam hinzu, daß sie in Fischer einen Renegaten erblickten, der wie üblich doppelt abzustrafen war. Daß aber ein halbes Jahrhundert später Historiker, die kein autobiographisches Interesse mehr antreibt, bereit sind, den geschichtlichen Fortschritt aufzugeben und mit dem Australier hinter ihn zurückzugehen, gibt schon Rätsel auf.

Dennoch liegen die Gründe auf der Hand, schließlich verdüstert Fischers Ansatz aus der Sicht seiner Gegner die deutsche Geschichte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, während die Clark-Gefolgsleute diesen Zeitraum aufgehellt sehen können, wodurch Deutschlands Rolle insgesamt lichtvoller hervortritt. Abgesehen freilich von den wenig später folgenden »zwölf dunklen Jahren«, an denen jeder Versuch der Aufhellung scheitert. Woher aber kommt und nährt sich das Bedürfnis, sich bei der beständig mit Eigenlob bedachten »Bewältigung« deutscher Vergangenheit mit derlei Putzarbeiten zu befassen? Aus der Geschichtswissenschaft wird das nicht gespeist. Wohl aber aus dem politisch-ideologisch geprägten Verlangen, das aktuelle Selbstbild des heutigen Deutschland, des ökonomischen Riesen, der Führungsmacht in Europa, die bereit ist, mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen, von verunschönerndem historischem Beiwerk zu befreien. Das dient innen- wie außenpolitischen Zwecken. Daß Geschichtswissenschaftler hierzulande da mitmachen oder dazu schweigen und die wenigen Widersprechenden es schwer haben, sich hörbar zu machen, daß sie in einem Lande, in dem der Nürnberger Prozeß stattfinden mußte, zu Clarks Zweifel, ob man als Historiker überhaupt Fragen der Kriegsschuld nachgehen müsse und ob man dabei nicht auf Holzwege gerate, herumdrucksen und stumm bleiben, das ist ein Vorgang, der ganz in die Geschichte der bürgerlichen deutschen Intelligenz, genauer: von deren Mehrheit, paßt. Er ragt aus ihr nicht heraus, anders würde er als Skandal wahrgenommen.

* Aus: junge welt, Dienstag, 18. Februar 2014


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