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Von mörderischer Wirkung

Vor 100 Jahren setzte Deutschland erstmalig Giftgas ein. Infolge dieser Grenzüberschreitung in der Kriegsführung gab auch der Gegner alle Zurückhaltung auf

Von Kurt Pätzold *

Am 22. April 1915 setzte das deutsche Heer an der Westfront eine neuartige Waffe ein: Gas. Das geschah am 266. Tage des Krieges, der später der Erste Weltkrieg genannt wurde. Wer sich an diesem Tage das Geschehen anhand des Frontenverlaufs vergegenwärtigte, dem konnte das Wilhelminische Kaiserreich als die erfolgreiche Kriegspartei erscheinen. Die Armeen bekämpften einander jenseits der deutschen Grenzen. Kein Soldat einer feindlichen Armee, es sei denn als Gefangener, befand sich auf deutschem Boden. Im Westen verlief die Frontlinie, die sich über mehr als 700 Kilometer erstreckte, von der Schweizer Grenze bis an die Nordsee durch französisches und belgisches Territorium. Im Osten waren die in Ostpreußen eingedrungenen zaristischen Armeen vertrieben oder vernichtet worden.

Doch der Schein trog. Der Feldzugsplan, mit dem die deutschen Armeen am 1. August 1914 in den Krieg gegen Frankreich zogen, war bereits nach etwa sechs Wochen komplett gescheitert. Zwar waren die kaiserlichen Truppen durch Belgien und von Norden in Frankreich bis etwa 50 Kilometer an Paris herangekommen. Doch erwiesen sich ihre Kräfte dort als erschöpft. Der Gegenangriff französischer Armeen und von Truppen des Britischen Expeditionskorps hatte sie in der ersten Septemberhälfte zum Rückzug von der Marne bis zur Aisne gezwungen. Wochen später war die deutsche Westfront auf der ganzen Länge erstarrt. Die Soldaten hatten sich einzugraben begonnen. Sie bauten Schützen- und Verbindungsgräben, plazierten ihre Waffen, Maschinengewehre und Artilleriegeschütze so, dass sie anstürmenden Gegnern einen tödlichen Empfang bereiten konnten, gruben sich in Unterständen immer tiefer in die Erde, um wenigstens zeitweilig Schutz und Ruhe zu finden. Es begann, was der Stellungskrieg genannt wurde und ein elendes Dasein in Dreck und Schlamm und Kälte, ein Leben unter ständiger Todesdrohung, ein Vegetieren in Gemeinschaft mit Ratten und Läusen war.

Keine Seite wusste, wie dieser Krieg je wieder in Bewegung und durch den militärischen Sieg einer Seite zu einem Ende kommen konnte. Doch zeichnete sich ab, dass sich mit der Länge des Krieges das Kräfteverhältnis zwischen den Kriegsgegnern zu Ungunsten Deutschlands verändern werde. Die Gegner, namentlich die im Westen, hatten Zeit gewonnen, ihre einheimischen Truppen und auch die aus ihren Kolonien zu formieren, auszubilden und heranzutransportieren und dazu ihre überlegene Wirtschaftskraft zu entfalten. Die deutsche hingegen litt zunehmend unter der wirksamen britischen Seeblockade. Es war eingetreten, was ein Vierteljahrhundert zuvor der inzwischen pensionierte, hochbetagte Generalstabschef der preußisch-deutschen Armee und Sieger von Königgrätz und Sedan, Helmuth Graf von Moltke, kurz vor seinem Tod 1891 prophezeit hatte und was seine Nachfolger fürchten mussten. Die klügsten unter ihnen erkannten im Herbst 1914, dass Deutschland diesen Krieg nicht würde gewinnen können. Doch war die deutsche Militärkamarilla, die keinen Ersatzplan für den gescheiterten besaß, nicht von dem Typ, sich dies einzugestehen und einen Ausweg zum Frieden zu suchen. Bis dahin zu gelangen, brauchten sie nahezu vier Jahre.

So stand es aus der deutschen Perspektive um den Krieg an jenem 22. April 1915. Was und wie wenig sich an den Fronten wirklich noch veränderte, sagten die Heeresberichte dieses Tages. Der deutsche meldete: »Westlicher Kriegsschauplatz: Südlich des La-Bassée-Kanals und nordwestlich von Arras nahmen wir erfolgreich mehrere Sprengungen vor. In den Argonnen und im Gelände zwischen Maas und Mosel fanden heftige Artilleriekämpfe statt. Nach Feuerüberfall griffen die Franzosen heute Nacht im Westteile des Priesterwaldes an, wurden aber unter schweren Verlusten zurückgeschlagen. Am Nordhange des Hartmannsweilerkopfes zerstörten wir gestern einen feindlichen Stützpunkt und wiesen am Abend einen feindlichen Angriff ab. Östlicher Kriegsschauplatz: Die Lage im Osten ist unverändert.« Und im österreichischen wurde mitgeteilt: »In Russisch-Polen und Westgalizien vereinzelte Geschützkämpfe. An der Karpathenfront wurde ein erneuter Ansturm gegen unsere Stellungen an und beiderseits des Uzsoker Passes blutig abgewiesen. Bei den heftigen Angriffen, die teils im wirkungsvollsten Feuer unserer Artillerie zusammenbrachen, teils durch Gegenangriffe der Infanterie zurückgeschlagen wurden, erlitt der Gegner abermals sehr schwere Verluste. Vor den Stellungen einer vom Feinde wiederholt angegriffenen Kuppe liegen allein über 400 russische Leichen. Das Infanterieregiment Nr. 12, die Brassoer und Maros-Vasaerhelyer Honved-Infanterieregimenter Nr. 24 und 22 sowie die gesamte, an den Kämpfen beteiligt gewesene Artillerie haben sich besonders ausgezeichnet. 1200 Russen wurden gefangen. An den sonstigen Abschnitten der Karparthenfront, dann in Südostgalizien und in der Bukowina nur stellenweise Geschützkämpfe und Geplänkel.«[1] Da war keine Rede von großen Schlachten und raumgreifenden Offensiven.

Ein Mittel des Massenmords

Am Tage aber, da die deutschen Truppen den Gaskrieg begannen, am 22. April also, wurde dies aus dem Großen Hauptquartier geschrieben und von Nachrichtenagenturen verbreitet: »In einer Veröffentlichung vom 21. April beklagte sich die englische Heeresleitung darüber, dass deutscherseits ›entgegen allen Gesetzen zivilisierter Kriegführung‹ bei der Wiedereinnahme der Höhe 60 südöstlich von Ypern Geschosse, die beim Platzen erstickende Gase entwickeln, verwendet wurden. Wie aus den deutschen amtlichen Bekanntmachungen hervorgeht, gebrauchen unsere Gegner seit vielen Monaten dieses Kriegsmittel. Sie sind also augenscheinlich der Meinung, dass das, was ihnen erlaubt sei, uns nicht zugestanden werden könne. Eine solche Auffassung, die in diesem Kriege ja nicht den Reiz der Neuheit hat, begreifen wir, besonders im Hinblick darauf, dass die Entwicklung der deutschen Chemiewissenschaft uns natürlich gestattet, viel wirksamere Mittel einzusetzen als die Feinde, können sie aber nicht teilen. Im übrigen trifft die Berufung auf die Gesetze der Kriegführung nicht zu. Die Deutschen Truppen verfeuern keine ›Geschosse, deren einziger Zweck ist, erstickende oder giftige Gase zu verbreiten‹ (Erklärung im Haag vom 29. Juli 1899), und die beim Platzen der deutschen Geschosse entwickelten Gase sind, obschon sie sehr viel unangenehmer empfunden werden als die Gase der gewöhnlichen französischen, russischen oder englischen Artilleriegeschosse, jedoch nicht so gefährlich wie diese. Auch die im Nahkampf von uns verwendeten Rauchentwickler stehen in keiner Weise mit den Gesetzen der Kriegführung im Widerspruch. Sie bringen nichts weiter als eine Potenzierung der Wirkung, die man durch ein angezündetes Stroh- oder Holzbündel erzielen kann. Da der erzeugte Rauch auch in dunkler Nacht deutlich wahrnehmbar ist, bleibt es jedem überlassen, sich seiner Einwirkung rechtzeitig zu entziehen.«

Dieses Dementi ließ sich in seiner Absicht schwer (schwer oder unschwer???) entschlüsseln. Seine Autoren erhoben zum einen den Anspruch, dass Deutschland die gleichen Kampfmittel benutzen könne wie seine Gegner. Dabei wurde einzig auf Artilleriemunition Bezug genommen, bei deren Verwendung sich gleichsam als eine Begleiterscheinung Gase entwickeln würden. Vom Einsatz chemischer Waffen war keine Rede. Sodann enthielt der Text die Drohung, dass es dem deutschen Heer möglich sei, nicht näher beschriebene, aus chemischen Forschungen hervorgegangene Waffen mit stärkerer Wirkung zu verwenden als die Gegner. Und schließlich wurde versichert, die deutsche Kriegführung werde in Übereinstimmung mit den internationalen Abmachungen erfolgen.

Als deutsche Zeitungsleser diesen Text, der mit hoher Wahrscheinlichkeit in ablenkender Absicht verfasst worden sein dürfte, zu Gesicht bekamen, waren Tausende Soldaten der gegnerischen Armeen bei Ypern schon vergiftet, erstickt oder aber schwer verwundet. Was tatsächlich geschehen war, verschwieg auch der offizielle deutsche Heeresbericht vom folgenden Tage, dem 23. April, ganz. Er begann so: »In den gestrigen Abendstunden stießen wir auf unserer Front Steenstraate östlich Langemarck gegen die feindlichen Stellungen nördlich und nordöstlich von Ypern vor. In einem Anlauf drangen unsere Truppen in neun Kilometer Breite bis auf die Höhe südlich von Pilkelm und östlich davon vor. Gleichzeitig erzwangen sie sich in hartnäckigem Kampfe den Übergang über den Ypern-Kanal bei Steenstraate und Het Sas, wo sie sich auf dem westlichen Ufer festsetzten. Die Orte Langemarck, Steenstraate, Het Sas und Pilkelm wurden genommen. Mindestens 1.600 Franzosen und Engländer und 30 Geschütze, darunter 4 schwere englische, fielen in unsere Hände.«

Anders der gleichen Tags veröffentlichte Bericht des Londoner Reuterschen Büros: »French (John French, Oberkommandierender des Britischen Expeditionskorps. K.P.) meldete gestern, dass der Feind am 22. April abends die französischen Truppen zur Linken der englischen Truppen nahe bei Bixschoote und Langemarck, nördlich von Ypern, angegriffen hat. Eine heftige Beschießung war vorausgegangen, bei welcher der Feind viele Apparate zur Hervorbringung erstickender Gase benutzte. Aus der Menge der erzeugten Gase geht hervor, dass dies nach einem vorbedachten Plane und im Widerspruch mit der Haager Konvention geschah. Die Franzosen mussten sich infolge der Gase nach dem Kanal bei Bossinghe zurückziehen, und wir waren gezwungen, unsere Linie in Übereinstimmung mit der französischen zu ändern; unsere Front blieb intakt. Außer diesem Angriff auf unserer äußersten Linken fand ein solcher gegen die Laufgräben östlich von Ypern statt, wurde aber abgeschlagen. Der Kampf nördlich von Ypern dauert fort. Heute sind zwei deutsche Flugzeuge heruntergeschossen worden.«

Was war an jenem Tage an der Westfront tatsächlich geschehen? Die Oberste Heeresleitung hatte den ersten Großeinsatz von Chlorgas befohlen. Das bedeutete nicht nur die Fortsetzung des Krieges mit einer neuartigen chemischen Waffe, sondern markierte einen Einschnitt in der Geschichte der Kriegführung überhaupt. Dass Gifte in Kämpfen und Kriegen verwendet worden waren, wusste jedes Kind, das Geschichten von den mit Pfeil und Bogen ausgetragenen Stammeskämpfen der Indianer oder auch von vergifteten Brunnen gelesen hatte. Die Verwendung dieses Gases aber geschah mit dem Ziel, Feinde massenhaft außer Gefecht zu setzen und dabei die Tötung von Hunderten und Tausenden billigend in Kauf zu nehmen. Es war der Schritt über die Schwelle zu einer neuen Weise des kriegerischen Massenmordes getan.

Die Versuchsphase

Dass sich die Kriegstechnik der industrialisierten Staaten zu dieser Möglichkeit hin entwickeln werde, war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kein Geheimnis. Internationale Abmachungen, die solchen Einsatz verhindern sollten, wurden unter Teilnahme einer Vielzahl von Staaten, schon bevor es dazu irgendwo gekommen war, im niederländischen Den Haag in Jahren 1899 und 1907 vertraglich getroffen. Vereinbart worden war die sogenannte Haager Landkriegsordnung, in der die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs fixiert waren. Im ersten Abkommen vom 29. Juli 1899 hieß es, nachdem im Artikel 22 festgestellt war »Die Kriegsparteien haben kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes«, weiter, dass namentlich »die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen« untersagt sei.

Ungeachtet dieser Verträge war in mehreren Ländern an der Entwicklung chemischer Waffen gearbeitet worden, ohne dass es schon zu verwendbaren Ergebnissen gekommen wäre. In Frankreich hatten Chemiker und Militärs mit Tränengas, Bromessigsäureethylester, gefüllte Patronen entwickelt. Sie waren zur Ausrüstung der Polizeiformationen bestimmt und ließen sich aus Pistolen und Gewehren verschießen. Jedoch wurden sie schon im August 1914 versuchsweise an der deutsch-französischen Front verwendet. Sie erwiesen sich allerdings nur in Räumen als brauchbar. Im Freien verflüchtigte sich das Gas rasch, ohne irgendwelche Schäden anzurichten. Die deutsche Armee hatte am 31. Januar 1915 an der Ostfront bei Bolimov, einem Ort in Polen an der Bahnlinie von Lodz nach Warschau, im Kampf gegen die Russen 18.000 Granaten verschossen, die mit Xylylbromid, ebenfalls einem Tränengas, gefüllt waren. Größere Wirkung wurde auch mit ihnen nicht erzielt, weil die wechselnde Windrichtung das Gas nicht in die gewünschte Richtung trieb. Mehr noch deshalb, weil winterliche Kälte das Verdampfen der Kristalle blockierte und die gefährliche Substanz nicht in bedeutenden Mengen entstehen ließ.

Indessen wurde in Deutschland an der Entwicklung wirksamerer Gase weiter gearbeitet, angetrieben von einem doppelten Interesse. Das generelle richtete sich auf die Verfügbarkeit von Waffen, die denen der Gegner überlegen waren. Das spezielle erwuchs aus der Berechnung, dass die Seeblockade der Briten, je länger sie dauerte, umso mehr Schwierigkeiten für die Produktion von Rüstungsgütern zur Folge haben werde, die von herkömmlicher Artilleriemunition eingeschlossen. Zudem waren toxische Gase billiger herzustellen, Chlorgas beispielsweise fiel ohnehin in Produktionsprozessen der Chemiewerke an.

Noch im Herbst 1914 berief der Kriegsminister Erich von Falkenhayn, der soeben auch an die Stelle des abgelösten Generalstabschefs Moltke getreten war, eine Kommission von Fachleuten, die einen effektiven chemischen Krieg vorbereiten sollte. Ihr gehörten als leitende Personen der kriegsbegeisterte und, obwohl über das wehrdienstpflichtige Alter bereits hinausgelangte, sich zu Kriegsdiensten drängende Professor für physikalische Chemie an der Berliner Universität Walther Nernst und Carl Duisberg, Chemiker, Miteigentümer und Generaldirektor der Farbenfabriken Friedrich Bayer & Co in Leverkusen an.

Mitglied wurde auch Fritz Haber – berühmt durch seine gemeinsam mit Carl Bosch betriebenen Forschungen zur Ammoniaksynthese, die zum industriellen Erfolg geführt hatten. Das von ihm, einem zum Protestantismus übergetretenen Juden, der nicht nur ein genialer Chemiker, sondern zudem ein Mann war, der alle Kriterien eines preußisch-deutschen Mordspatrioten erfüllte, das von diesem Mann also geleitete Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie wurde ein Zentrum der Gasforschungen für Kriegszwecke. Haber meldete sich bei Kriegsbeginn freiwillig zur Armee, und da die deutschen Militärs wussten, was sie an dem Experten hatten, verliehen sie ihm einen Offiziersrang und statteten ihn mit allen Mitteln und Befugnissen aus, die er für seine Forschungen benötigte.

Auf Veranlassung dieser eben berufenen Kommission wurden schon im Oktober erste Versuche mit gasgefüllten Geschossen unternommen und noch Ende dieses Monats auch an der deutsch-französischen Front bei Neuve-Chapelle eingesetzt, jedoch mit unbefriedigendem Ergebnis. Im Februar 1915 liefen nach Erprobungen die Vorbereitungen für den Fronteinsatz von Chlorgas an. Dazu gehörte, dass eine Spezialtruppe von Soldaten auf das von Haber vorgeschlagene Abblasverfahren geschult wurde, bei dem das Gas aus Stahlflaschen entwich und vom Wind in die gewünschte Richtung geweht werden musste, ein Verfahren, das nicht ohne Tücke war.

Auswurf, Lungeödeme, Herzstillstand

Die Wahl der Obersten Heeresleitung für den ersten Einsatz von Chlorgas an der Westfront fiel auf Flandern und dort auf einen Frontbogen nahe der Stadt Ypern. An ihm war die IV. Armee eingesetzt, die unter dem Befehl Albrecht Herzog von Württembergs stand, der selbst aber ohne Nachdruck und Erfolg gegen den Plan den Einwand erhob, dass der Gegner alsbald mit dem gleichen Mittel antworten und durch den vorherrschenden Westwind obendrein begünstigt sein werde. Der Generalstabschef der Armee, Generalmajor Emil Ilse und der Führer der chemischen Waffen, ein Oberst, trugen die Verantwortung für die Vorbereitungen, die im Abschnitt des XV. Armeekorps erfolgten. Das wurde von dem General der Infanterie Berthold von Deimling kommandiert, einem ehrgeizigen und skrupellosen Heerführer, der seine Soldaten immer wieder in sinnlose Angriffe getrieben und der sich den Namen »der Schlächter von Ypern« schon erworben hatte. Später schilderte er seine Erwägungen rückblickend so: »Aber durch das Giftgas konnte vielleicht Ypern zu Fall gebracht werden, konnte ein feldentscheidender Sieg errungen werden. Vor solch hohem Ziel mussten alle inneren Bedenken schweigen.«[2]

Im Befehlsbereich dieses Generals also sollte mit dem Gasangriff eine deutsche Offensive eröffnet werden. Die Vorbereitungen waren am 11. April 1915 abgeschlossen, doch musste der Beginn insgesamt siebenmal verschoben werden. Dann, am 22. April 1915 gegen 18 Uhr wurden aus 6.000 Behältern 150 Tonnen Giftgas abgeblasen, die der Wind als sechs Kilometer breite und einen Kilometer lange Wolke auf die feindlichen Linien zutrieb. Die Wirkung der Chlorgasschwaden, auf deren Einsatz die französischen und algerischen Soldaten nicht vorbereitet waren und gegen die sie keinerlei Schutzmittel besaßen, war mörderisch. Das Gas, schwerer als Luft, senkte sich in die Schützengräben und erzeugte denen, die es einatmeten, anfänglich zunehmende Atemnot, dann schaumigen Auswurf, Lungenödeme, Atem- und Herz-Kreislauf-Stillstand. Wer es noch vermochte, dem blieb die Flucht. Die Zahl der durch Gas Getöteten wurde auf 1.200, die der Verwundeten, deren Atemwege und Augen betroffen waren, auf 3.000 geschätzt.

Wie sich die Giftwolke verzogen hatte, rückten die deutschen Soldaten, auf die getöteten Gegner stoßend, in Richtung Ypern vor. Ihr Geländegewinn beschränkte sich auf wenige Kilometer, und dabei blieb es, bis die sich anschließenden hartnäckigen, wechselvollen und weiterhin Tausende Soldaten hinraffenden Kämpfe am 25. Mai zum Erliegen kamen. Die Frontlinie war um ein geringes verkürzt, aber nicht einmal die Eroberung der Stadt gelungen. Diese entwickelte sich zur einen Monat andauernden Zweiten Flandernschlacht. Zu deren Beginn hatte sich auch Fritz Haber vor Ort eingefunden und das Abblasverfahren, dessen Verlauf und Ergebnis zu überwachen. Er betrachtete das Erreichte als einen bedeutenden Erfolg. Sein Verdienst wurde alsbald mit der Beförderung zum Hauptmann belohnt.

Dieser Gasangriff in Flandern trug alle Kennzeichen einer überstürzten Aktion, unternommen, damit sich die deutsche Führung unverzüglich von den Einsatzmöglichkeiten und der Wirksamkeit des neuen Kampfmittels ein Bild machen konnte. Dafür sprach zum einen, dass die deutschen Soldaten selbst mit keinerlei verlässlichen Schutzmitteln gegen Vergiftungen, sondern nur mit einem behelfsmäßigen Atemschutz, bestehend aus einem Mullkissen getränkt mit Natriumthiosulfat- und Sodalösung ausgerüstet worden waren. Zum anderen war mit dem Angriff kein Konzept für die Eröffnung einer umfassenden Offensive erkennbar, die ein strategisches Ziel besessen hätte. Dafür waren deutscherseits keinerlei Reserven bereitgestellt. Was die deutsche Operation nächst der Begrenztheit der eigenen Kräfte jedoch auch deutlich gemacht hatte, war die Schwäche der gegnerischen Aufklärung, die von den Vorbereitungen zwar Informationen erhalten hatte, sie aber offenkundig nicht auszuwerten verstand.

Die deutschen Heeresberichte veröffentlichten auch in den Tagen nach dem 22. April nicht die geringste Andeutung, wie die Offensive in Flandern eröffnet worden und es gelungen war, die en détail beschriebenen Gebiete und Ortschaften zu erobern. Der Gaseinsatz blieb ein Tabu. An den aufgebauschten Erfolgsmeldungen ließ sich ablesen, wie sehr die Fortdauer des Stellungskrieges inzwischen die deutsche Kriegsstimmung eintrübte. Daher sollte der Eindruck erweckt werden, die Ereignisse bezeugten, dass das deutsche Heer im Westen zu neuen Kräften gekommen war und sich an sie neue Hoffnungen knüpfen konnten. Produktionswettlauf

Das Beschweigen des Giftgaseinsatzes in Flandern bedeutete faktisch ein Geständnis, dass jene, die ihn befohlen hatten, sich vollständig bewusst waren, dass sie die zuletzt 1907 in der Zweiten Haager Konferenz bekräftigten, vom Deutschen Reich akzeptierten Vereinbarungen grob verletzten. Dort war das acht Jahre zuvor Ausgehandelte im Artikel 23a kurz und knapp wiederholt und geschrieben worden, dass »die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen« untersagt sei, wonach 23e gleiches für den »Gebrauch von Waffen, Geschossen oder Stoffen« bestimmte, »die geeignet sind, unnötig Leiden zu verursachen«.[3] Was immer man über diese Texte und deren Formulierung, die doch auch Heuchelei atmeten, denken mag, der Chlorgasangriff fiel sicher unter die hier gemeinten Verbote.

Und mehr noch: Wie turmhoch überlegen die chemischen Wissenschaften im Deutschen Reich dessen obersten Kriegern auch gelten mochten, es ließ sich absehen, dass der Vorsprung nicht dauern werde. Und war die Grenze einmal überschritten, würden alsbald und überall alle Hemmungen fallen, die womöglich noch gegen den Einsatz von Giftgasen existierten. Und so kam es auch – noch vor Ende desselben Jahres.

Der erste Gasangriff der Alliierten erfolgte durch britische Truppen am 25. September 1915 bei Loos, der erste französische am 15. Februar 1916 bei Reims. Im Oktober 1916 setzten auch die Russen Gas ein, und die k. u. k. Armee verwandte es an der italienischen Front. Zwischen den sich bekriegenden Großmächten begann ein Wettlauf um die Produktion der Giftgase, wozu in Frankreich und Italien eigens Werke errichtet wurden, und desgleichen um die giftigsten Mischungen. Da inzwischen in den Armeen Schutzmasken eingeführt worden waren, richteten sich die Forschungen auch darauf, diese zu vervollkommnen oder darauf solche Gase einzusetzen, gegen die der Gegner geeignete Filter nicht oder noch nicht besaß. Dieser Gaskrieg, bei dem sowohl Blasangriffe erfolgten als auch gasgefüllte Artilleriegeschosse verwendet wurden, dauerte bis in das letzte Kriegsjahr und erreichte dort seinen Höhepunkt.

Und das war die Bilanz dieses Teils des Krieges, die auf Schätzungen beruht: Die Zahlenangaben über die Getöteten bewegen sich um 90.000, die der Verwundeten, teils lebenslang Geschädigten zwischen einer und 1,2 Millionen. Gemessen an der Gesamtzahl der toten und verwundeten Soldaten des Weltkriegs bilden diese Opfer nur einen kleinen Teil. Dennoch gehörte das Giftgas zu den von den Kriegsteilnehmern am meisten gefürchteten, als heimtückisch geltenden Waffen, wozu beitrug, dass gegen sie kaum ein völlig sicherer Schutz existierte. Die Zahl der deutschen Kriegsblinden, deren Leiden nicht in allen Fällen durch Gas verursacht war, wurde nach Kriegsende auf 3.500 geschätzt. 37 von ihnen, Patienten von Berliner Lazaretten, hatten am 5. März 1916 den Bund erblindeter Krieger gegründet, eine Organisation, die sich vor allem für die Verbesserung der Lebensbedingungen einsetzte.

Anmerkungen
  1. Beide Berichte zitiert nach: Amtliche Kriegs-Depeschen nach Berichten des Wolffschen Telegr.-Bureaus Band 2, Berlin 1915
  2. Vgl. Berthold von Deimling, Aus der alten in die neue Zeit. Berlin 1930, S. 201, in: Hans Günter Brauch, Rolf Dieter Müller (HRSG.): Chemische Kriegsführung – Chemische Abrüstung. Dokumente und Kommentare. Berlin 1985, S. 84. General der Infanterie Bertold von Deimling (1853-1944) wurde später zu einem entschiedenen Gegner des Krieges und Repräsentanten der pazifistischen Bewegung in der Weimarer Republik
  3. Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs [Haager Landkriegsordnung], 18. Oktober 1907, RGBl. 1910, S. 107-151.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 22. April 2015


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