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Die Toleranz ist oft geheuchelt

Avi Primor über Illusionen und Desillusionierung der Juden im Ersten Weltkrieg *


Der israelische Diplomat Avi Primor, geboren 1935 in Tel Aviv, ist hierzulande bekannt als Autor aktuell-politischer Sachbücher, u. a. »Europa, Israel und der Nahe Osten«, »Terror als Vorwand« und »An allem sind die Juden und Radfahrer schuld ...«. Nun hat der Politologe seinen ersten Roman vorgelegt: »Süß und ehrenvoll« (Bastei Lübbe, 384 S., geb., 19,99 €). Der Titel greift ein Zitat des römischen Dichters Horaz auf, das Generationen verblendete und in einem Gedicht des Briten Wilfred Owen 1917 sarkastisch aufgespießt wurde: »Süß und ehrenvoll ist es für das Vaterland zu sterben.« Mit Primor sprach Karlen Vesper.

Herr Primor, was hat Sie bewogen, einen Roman zu schreiben? Und warum wählten Sie als Sujet ihres Debüts den Ersten Weltkrieg? Weil dessen 100. Jahrestag bevorsteht?

Jein. Natürlich hatte ich das Jubiläum im Blick. Aber die Geschichte der Juden im Ersten Weltkrieg beschäftigt mich schon seit langem, seit meiner Studentenzeit. Ich habe eine Kabarettvorstellung gesehen, in dem Aspekte des jüdischen Lebens und der jüdischen Geschichte satirisch aufgespießt wurden. Da gab es eine Szene, die mich neugierig machte.

Erzählen Sie bitte.

Irgendwo in einem Wald, im Nebel steht ein Soldat mit seinem Gewehr in der Hand. Er hat Angst, weil er nicht weiß, wo er sich befindet. Plötzlich tritt aus den Dunstschwaden ein Soldat auf ihn zu, der eine andere Uniform trägt. Unser Soldat erkennt: Es ist der Feind. Er will auf ihn schießen. Sein Gegenüber glaubt nun, sein letztes Stündlein habe geschlagen. Da spricht er das »Schma Israel« und bittet Gott um Vergebung seiner Sünden. Der erste Soldat ist verblüfft und fragt: »Bist du Jude?« Der andere bejaht und fragt zurück: »Du auch?« Was dieser wiederum bestätigt. Sie setzen sich hin und beginnen miteinander zu plaudern. »Warum bist du im Krieg?« – »Weil dein Kaiser meinen Kaiser beleidigt hat.« Da springt der andere zornig auf: »Das stimmt nicht, dein Kaiser hat meinen Kaiser beleidigt.« Sie streiten miteinander – und erschießen sich.

Das ist doch kein Witz.

Nein, das war tragische Wirklichkeit. Und diese hat mich seitdem beschäftigt: Irgendwann musst du das nachforschen. Das habe ich nun getan und erkannt, dass dies eine präzedenzlose Erfahrung in der Geschichte der Juden ist. Es gab vordem und danach keine Situation wie im Ersten Weltkrieg, als Juden verschiedener Nationen freiwillig und leidenschaftlich in den Krieg gezogen sind und aufeinander schossen.

Aus Patriotismus?

Auch. Vor allem aber haben sie darin eine Chance für sich gesehen: endlich in ihrer Heimat akzeptiert und anerkannt zu werden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde zwar die juristische Emanzipation der Juden durchgesetzt, doch diese war eine formale, noch keine gesamtgesellschaftliche.

Das preußische Judenedikt von 1812 enthielt auch noch etliche rechtliche Einschränkungen.

Es brachte aber die staatsrechtliche Gleichstellung, gewährte den Juden Niederlassungs- und Gewerbefreiheit. Sie konnten studieren und die meisten Berufe erlernen. Insofern war es ein Fortschritt.

Das Offiziersamt blieb Juden jedoch weiter verwehrt.

In Preußen. Aber in Frankreich seit Napoleon nicht. Ebenso in Österreich und sogar in Bayern. In Preußen konnten Juden zwar wie Christen in den Militärdienst gepresst werden, jedoch ohne Aussicht auf eine Offizierslaufbahn. Aber was hat diese französischen Juden genutzt? Denken Sie an die Dreyfus-Affäre. Ein traumatisches Erlebnis für die Juden. Ein Offiziersrang schützte sie nicht davor, Sündenbock zu werden.

Im Laufe des Ersten Weltkrieges konnten auch in der deutschen Armee Juden aufsteigen, wie Ihr literarischer Held Ludwig Krohnheim.

Ja, als das Offizierskorps auszubluten drohte. Aber nur bis zu einem gewissen Rang. Kurzum: Trotz der Emanzipation im 19. Jahrhundert wurden die Juden in Europa weiterhin als Fremdkörper in der Gesellschaft betrachtet.

Am Lessing-Gymnasium in Frankfurt am Main, benannt nach dem Autor des Toleranz-Dramas »Nathan der Weise«, wird Ludwig von Mitschülern »Saujude« geschimpft. Was im Gesetzesblatt steht, ist noch längst nicht in den Köpfen. Als nun der Erste Weltkrieg ausbrach, glaubten die Juden, wenn sie ihr Blut für das Vaterland vergießen, würde die Diskriminierung enden.

Ein großer Irrtum, vor allem für die deutschen Juden. In Nazideutschland entfielen letztlich auch anfängliche Sonderregelungen für jüdische Frontkämpfer und Träger des Eisernen Kreuzes.

Das konnte man 1914 in der Bürgerfamilie Krohnheim nicht ahnen. Deshalb herrschte freudige Aufregung, der sich auch Ludwigs Mutter, die natürlich um ihren Sohn bangte, nicht entziehen konnte.

Auf französischer Seite kämpft in Ihrem Buch ein Bäckerssohn aus Bordeaux mit Vornamen Louis – die französische Version von Ludwig. Absichtsvolle Namensgleichheit?

Natürlich kein Zufall. Louis erlebt in seiner Kindheit ähnliche Sticheleien wie Ludwig. Die Familie Krohnheim wie auch die Familie Naquet glauben sich assimiliert. Doch, wie Louis' Vater sagt: »Die Toleranz der kultivierten Gesellschaft ist oft geheuchelt.«

Gewiss auch kein Zufall, dass eines Tages Ludwig und Louis an der Front aufeinander treffen?

So ist es. Das war das Einmalige im Krieg von 1914 bis 1918. Im Zweiten Weltkrieg konnten die Juden nur auf einer Seite kämpfen – auf der Seite der Alliierten. Ihr gemeinsamer Gegner war Nazideutschland.

Ich wollte die einmalige Erfahrung von 1914 in der jüdischen Geschichte erzählen. Zuerst dachte ich an ein Sachbuch. Je mehr ich mich jedoch in den Stoff vertiefte, um so deutlicher wurde mir, dass dies eine höchst emotionale Geschichte ist. In einem Sachbuch hätte ich aufgelistet, wie viele Juden in den gegnerischen Heeren dienten, gefallen oder verletzt worden sind, welche Auszeichnungen sie erhielten ... Das erschien mir zu nüchtern. Gerade angesichts unseres heutigen Wissens darüber, was danach geschah.

Ohne den Ausgang der Geschichte preiszugeben, schließlich will das Buch gelesen werden – mir scheint, sie hat ein »open end«. Werden Sie eine Fortsetzung schreiben? Der Frage nachgehen, wie den Juden ihr Einsatz im Ersten Weltkrieg gedankt wurde oder eben nicht?

Ich beendete den Roman mit einem falschen Happy End. Am Ende sind zwar alle überlebenden Akteure glücklich. Sie haben einen sehr hohen Preis bezahlt, glauben aber, das Ziel, Akzeptanz in der Gesellschaft, erreicht zu haben. Wir wissen, dass die jüdische Gemeinde von Frankfurt am Main, einst die größte in Deutschland, fast völlig ausgelöscht wurde. Wie auch die jüdische Gemeinde von Bordeaux.

Auf deutschen Befehl und mit Hilfe der Vichy-Regierung wurden 1942 die Juden von Bordeaux in die Vernichtungslager im Osten deportiert. Vichy-Kollaborateur Papon wurde erst 1998 wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt, aber bereits 2002 wieder entlassen.

Und da das alles heute bekannt ist, musste ich das nicht mehr erzählen.

Sie könnten aber die zu Ende des Krieges geborenen Zwillinge eines Ihrer Protagonisten beispielsweise in den Internationalen Brigaden in Spanien kämpfen lassen.

Ja, natürlich. Es gibt viele Möglichkeiten, den Faden weiter zu spinnen. Die Zwillinge könnten auch in der französischen Résistance kämpfen. Oder in Einheiten der US-Army gegen die Wehrmacht.

Es böte sich sogar eine Trilogie an. Die Kinder der Kinder könnten nach dem Zweiten Weltkrieg den Staat Israel aufbauen.

Ich überleg mir das.

Sie beschreiben in Ihrem Roman, wie sowohl Ludwigs als auch Louis' Euphorie der Ernüchterung angesichts der entsetzlichen Kriegsgräuel weicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg hieß es: Nie wieder Krieg! Es wurden weltweit Stellvertreterkriege geführt. Nach dem Kalten Krieg hörte man: Jetzt wird die Welt friedvoller. Es gab neue Kriege.

Oh ja, viele. Zwar ist in Europa keine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Völkern vorstellbar ...

In den 1990er Jahre tobte in Jugoslawien Krieg.

Gewiss, aber dass Deutsche und Franzosen, die sich einst als Erzfeinde ansahen, wieder gegeneinander aufmarschieren, ist undenkbar. Ich schildere in meinem Roman eine Episode, die Ludwig während eines Heimaturlaubes erlebte. Soldaten in Uniform kommt eine Gruppe von Kindern entgegen ...

Und diese trällern unbekümmert: »Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren, öffnen die Mädchen die Fenster und die Türen. Ei warum? Ei darum! ...« Dieses Lied sang auch die Wehrmacht, als sie mordend und plündernd durch ganz Europa zog.

Und von Marlene Dietrich wurde es als ein Antikriegslied interpretiert. – Kinder sind arglos, ihnen erscheint der Krieg als ein schönes Abenteuer. Soldaten wissen, dass er schmutzig, grausam, mörderisch ist. Und dennoch stimmen sie ein. Liegt das in der menschlichen Natur? All die leidvollen Erfahrungen und Opfer sind rasch wieder vergessen. Und die nächste Generation zieht unbelehrt in einen neuen Krieg.

Das klingt sehr pessimistisch.

Das ist pessimistisch. Es gibt jedoch Hoffnung. Die Friedenswilligen sind heute zahlreicher, stärker als 1914.

Doch es gelang ihnen nicht, die Kriege zwischen Hindukusch und Zweistromtal zu verhindern. Ein für Israel gefährlicher Flächenbrand. Entzündet unter Mittun von Israels Geheimdiensten und Militärs, mit oder ohne Wissen der Regierung.

Mit Wissen der Regierung. Ich stimme Ihnen zu, all die kriegerischen Konflikte in Israels Nachbarschaft sind auch für uns gefährlich. Ich bin überzeugt, dass wir erst zur Ruhe kommen, wenn wir einen ehrlichen, echten Frieden mit den Palästinensern schließen. Als wir 1948 die Unabhängigkeit ausgerufen haben, lebten in der arabischen Welt, von Marokko bis Irak, 120 Millionen Menschen. Heute sind es 450 Millionen. Bis 2050 werden es laut UNO-Experten 900 Millionen Menschen sein. Gegen sie alle können wir unmöglich kämpfen. Wir können keinen ewigen Krieg führen. Deshalb sage ich: Wir müssen endlich Frieden schließen. Und das bedeutet: alle besetzten Gebiete und Siedlungen räumen. Das ist meine feste Überzeugung. Auch die Mehrheit der Israelis sieht das ein. Allerdings ist sie sehr verunsichert.

Inwiefern verunsichert?

Weil es niemanden gibt, der die Mittel hat, uns Sicherheit zu garantieren. Einzig die USA sind dazu in der Lage. Sie sind heute ernsthafter denn je an der Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts interessiert. Ob sie die nötige Ausdauer und Beharrlichkeit aufbringen, weiß ich nicht. Von unserer Regierung erwarte ich gar nichts, nur Schlimmes.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 28. Dezember 2013

Avi Primor: Süß und ehrenvoll

Roman. Bastei Lübbe, 384 S., geb., 19,99 €; ISBN: 978-3-86995-058-7
Frankfurt am Main, 1914. Bürgersohn Ludwig kann nach Kriegsausbruch seine Einberufung kaum erwarten, obwohl der Dienst an der Front die Trennung von seiner geliebten Karoline bedeutet. Als deutscher Soldat fühlt er sich endlich voll akzeptiert und will sich für sein Vaterland auszeichnen. Bordeaux, ebenfalls 1914. Der Bäckerssohn Louis wird mit der deutschen Kriegserklärung aus einer unbeschwerten Rekrutenzeit gerissen. Trotz aller Ängste schreibt er stolz seinem Vater, an der Front könne er dem französischen Volk endlich zurückzahlen, was es für ihn getan habe. - Inmitten der Grauen des Ersten Weltkriegs werden die beiden jüdischen Protagonisten einander zum Schicksal werden. Auf der Grundlage zahlreicher historischer Dokumente hat Avi Primor einen Roman geschrieben, der unter die Haut geht - über die erste Liebe, über die Absurdität des Krieges, über die Suche nach Zugehörigkeit. Eine ergreifende, große Geschichte, wie sie in Deutschland noch niemand zu schreiben gewagt hat. (Verlagsankündigung)




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