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Wenn die Männer töten ...

... müssen die Frauen um das Leben kämpfen

Von Marga Voigt *

Im August 1914 zerbrachen nicht nur die Beziehungen zwischen den sozialdemokratischen Arbeiterparteien Europas, sondern auch die der sozialistischen Fraueninternationale. Seit dem 1. Internationalen Frauenkongress in Stuttgart 1907 stand Clara Zetkin als Sekretärin an deren Spitze. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, als aller Verkehr mit dem Ausland gesperrt war und alle Fäden zwischen den Genossinnen der einzelnen Länder zerrissen schienen, sagte sie sich: Nun erst recht!

»Ich halte es gerade für eine der wichtigsten Aufgaben der Frauen in dieser Zeit«, schrieb die Zetkin in einem Zirkular, »in der Arbeiterklasse das Bewusstsein der internationalen Solidarität lebendig zu erhalten und zu stärken«. Sie rief die sozialistischen Frauen aller Länder auf: »Wenn die Männer töten, so ist es an uns Frauen, für die Erhaltung des Lebens zu kämpfen. Wenn die Männer schweigen, so ist es unsere Pflicht, erfüllt von unseren Idealen die Stimme zu erheben.«

Als Internationale Sekretärin wollte sie die Genossinnen sammeln und »wieder in Reih und Glied stellen«, teilte Clara ihrer holländischen Korrespondentin Helen Ankersmit mit. »Ich war weiter nicht im Zweifel darüber, dass es zunächst nur eine solche gemeinsame Aufgabe geben könne: die Arbeit, den Kampf für den Frieden und zwar einen Frieden, wie er den sozialistischen Grundsätzen entspricht, und für den wir Sozialistinnen in allen Ländern mit Ausnutzung aller uns verfügbaren Mittel wirken müssen.« Ihrer Ansicht nach war es »das stolze Vorrecht und die Ehrenpflicht der sozialistischen Fraueninternationale jetzt, in dem Kampf für den Frieden den Frauen aller Klassen und Länder weckend und führend voranzugehen.« Und an Alexandra Kollontai schrieb sie: »Die Frauen sollen den Männern an internationaler Gesinnung und Betätigung vorangehen. Wir werden große Widerstände zu überwinden haben. Allein das darf uns nicht beirren«.

Der Kollontai gelang es, im ersten Kriegsjahr in Skandinavien einen Internationalen Frauentag zu organisieren. Das freute die Zetkin außerordentlich. Ihrer Überzeugung nach musste »der Frauentag heuer eine besondere Bedeutung erlangen und zu einer großen Friedenskundgebung der Frauen werden«. Den deutschen Sozialistinnen verwehrte der SPD-Parteivorstand die Teilnahme daran. Aus Amsterdam teilte Clara Zetkin der Kollontai mit: »Wie ich mich schäme, dass keine Delegierte aus Deutschland in Kr[istiana] sein wird.« Sie warnte die Freundin: »Ihr Telegr[amm] hatte eine hochnotpeinliche Vernehmung zur Folge. Ob Weiteres erfolgt, bleibt abzuwarten. Persönlich denke ich sehr kühl über alle Eventualitäten. À la guerre comme à la guerre (Wennschon Krieg, dann richtig Krieg).« Die deutsche Sozialistin und Antimilitaristin wollte »um der Sache wegen« Bewegungs- und Aktionsfähigkeit behalten. Diese sei ohnehin »durch den Krieg und seine Folgen beengt genug«.

Eine zweite Initiative zur internationalen Friedensarbeit ergriff Clara Zetkin, nachdem sie die Gewissheit hatte, dass die Genossinnen mehrerer Länder ihrem Appell folgen würden. Damit hätte sie die Möglichkeit, »wenigstens mit einem Teil meiner früheren lieben Korrespondentinnen in Verbindung zu treten«. Sie zeigte sich überzeugt, nicht bloß einen beträchtlichen Teil Frauenrechtlerinnen mit fortreißen zu können, »vielmehr Frauen überhaupt, soweit sie nicht vom imperialistischen Gift blind und taub für ihre Interessen und Pflichten als Persönlichkeiten und Mütter geworden sind«. Auf den Trümmern der Zweiten Internationale bemühte sich Clara, »dem Taumel des Chauvinismus, eines ganz bürgerlichen Patriotismus, der mit wahrer Vaterlandsliebe gar nichts gemein hat, keine Konzessionen zu machen, umgekehrt, dieser Raserei und damit der Selbstaufgabe der Sozialdemokratie so kräftig und bewusst als möglich entgegen zu wirken«.

Über das Vorhandensein beider Voraussetzungen sei sie in der zweiten Oktoberhälfte 1914 im Klaren gewesen, schrieb sie Ankersmit: »Wundern Sie sich nicht, wenn ich Ihnen selten und nichtssagend schreibe. So lange die Briefe aus Deutschland offen gehen müssen, kann es nicht anders sein. Abgesehen von dem allgemeinen Zustand kommt in meinem Falle noch dazu, dass die Behörden meiner Überzeugung und Haltung wegen ein ›besonderes Auge‹ auf mich haben. Es ist gar kein Zweifel, dass ich persönlich wenigstens zeitweilig überwacht werde, und dass meine Korrespondenz einer ›sorgsamen‹ Kontrolle untersteht.«

Mit großer Willens- und Widerstandskraft verfolgte Clara Zetkin den gewagten und kühnen Gedanken einer Frauenfriedenskonferenz. Eine Verbündete im Geiste fand sie in Angelica Balabanoff, die in der Schweiz als Sekretärin des Internationalen Sozialistischen Büros die Stellung hielt. Beide Frauen nahmen die Vorbereitung einer außerordentlichen internationalen Frauenkonferenz in Angriff, die sie vom 26. bis 28. März 1915 in Bern als geheimes Zusammentreffen sozialistischer Frauen aller Richtungen einberiefen.

Ursprünglich hatte Clara Zetkin geplant, mit Rosa Luxemburg zu den Vorbesprechungen zu reisen. Doch daraus wurde nichts. An Robert Grimm in Bern schrieb sie am 20. Februar: »Heute zunächst eine böse Nachricht. Rosa ist Donnerstag plötzlich verhaftet worden … Es ist gar kein Zweifel, dass es sich um einen wohlvorbereiteten Streich handelt, der durch eine Denunziation aus Parteikreisen möglich geworden ist.« Rosa Luxemburg war auf Berliner Parteiversammlungen aktiv. Clara Zetkin teilte Grimm mit, dass das Generalkommando genau informiert gewesen sei über die Versammlungen in Mariendorf, Neu Kölln und Nieder-Barnim, an denen Rosa teilnahm. »Informiert nicht nur über äußere Vorgänge …, sondern auch darüber, was sie geredet hat.« Das Generalkommando wisse, dass sie in zwei Versammlungen in der Diskussion gesprochen, in der dritten referiert und dass sie »in einer direkt aufreizenden Weise gesprochen habe«.

Nach Bern reisten schließlich unter großen Schwierigkeiten, sich durch die Fronten schlagend 25 Delegierte aus Deutschland, England, Frankreich, Russland, Polen, Holland, Italien und der Schweiz; die Belgierin erhielt keinen Pass, erklärte aber schriftlich ihren Anschluss. Wenn es mit den sozialdemokratischen Parteiinstanzen nicht mehr möglich war, sozialistische Politik zu treiben, dann sollte diese Frauenfriedenskonferenz ein deutliches Signal für die Nichtpreisgabe sozialistischer Grundsätze sein.

Die Teilnehmerinnen wollten den Verstand und das Herz der Proletarierinnen aller kriegführenden Staaten erreichen. Als Soldaten- und Arbeiterfrauen und nicht zuletzt als Mütter sollten sie begreifen, dass die Waffe, die ihnen den Sohn oder Mann nahm, nicht vom feindlichen Proletarier geführt wurde, sondern vom internationalen Imperialismus. Doch wie eingedenk des individuellen Schmerzes über getötete Söhne und Männer die Ursachen des Krieges in eine verständliche und einfache Sprache kleiden? Statt Völkerhass sollte internationale Solidarität die Botschaft sein.

Die Berner Konferenz sei eine der ergreifendsten Konferenzen gewesen, die sie je erlebt habe, wird Angelica Balabanoff 1927 in ihren Erinnerungen schreiben: »Noch hatte man sich dem Krieg nicht angepasst, noch fand man leidenschaftliche Worte, um seine Gräuel anzuklagen und seine Auswirkungen zu brandmarken.« Den Sozialistinnen der geheimen Konferenz sei es darum gegangen, »den Beweis zu erbringen, dass der Sozialismus nicht tot war und dass die Internationale, deren Organisation vorübergehend stillgelegt war, als Glaube, Überzeugung und leuchtendes Ideal weiterlebte«.

Als endlich eine Fassung für den Aufruf an alle Frauen des Proletariats gefunden war und die Mehrheit der Delegierten ihre Einwilligung dazu gegeben hatte, weigerten sich ausgerechnet die Bolschewikinnen, den Text zu unterschreiben. Stattdessen schlugen sie die Gründung einer neuen Internationale vor. Für die Mehrheit der in Bern zusammengekommenen Frauen war diese Forderung unannehmbar. Vor allem die Engländerinnen und die Vertreterinnen der neutralen Länder meinten, sie seien nicht berechtigt, ohne ihre Parteien zu fragen, eine Entscheidung von solchem Gewicht zu treffen.

Die Dramatik der Situation war kaum zu übertreffen. Nicht nur, dass die internationale Kundgebung der Sozialistinnen inmitten eines mörderischen Krieges an vielfachen äußeren Hindernissen hätte scheitern können, nun drohte deren Scheitern aus banalem Grunde. Die Delegierten waren sich des Ernstes der Situation bewusst, vor allem Clara Zetkin. Sie mühte sich verzweifelt, die Bolschewikinnen zu bewegen, für die Resolution zu stimmen. Sollte denn jetzt die ganze Arbeit zunichte gemacht werden, nur weil eine Unterschrift fehlte?

Clara Zetkins Aufregung steigerte sich grenzenlos, sie litt körperlich und sah das Werk schon scheitern. Rückblickend erinnerte sich die Balabanoff 1959, dass Lenin während der Beratungen der Frauen in Bern in einem Café nebenan saß. Und die russischen Delegierten ihn ständig aufsuchten, um sich Richtlinien für ihr Verhaltens zu holen. Ein ständiges Kommen und Gehen wäre das gewesen. Die russischen Vertreterinnen wollten vor jeder Änderung des Textes Lenins Ansicht hören. Alle Delegierten seien darob aufgebracht gewesen, manche entmutigt und andere inzwischen bereit, unverrichteter Dinge wieder abzureisen, erinnerte sich die Balabanoff. So konnte es nicht weitergehen. Clara Zetkin unterbrach die Sitzung tief erschüttert und ging nun selbst in das Café, um mit Lenin einen Ausweg zu finden. Es verstrichen Stunden sorgenvollster Erwartung. Schließlich wurde ein Kompromiss gefunden: Die Bolschewikinnen erklärten sich bereit, der allgemeinen Resolution zuzustimmen, wenn ihre Erklärung ins Protokoll der Konferenz aufgenommen würde. Die Situation war gerettet. Der Appell der Berner Frauenfriedenskonferenz wurde einstimmig angenommen.

Der Text des Manifests begann mit der Frage: »Proletarierin, wo ist dein Sohn, wo ist dein Mann?« Im Verlauf des noch über drei lange Jahre währenden Krieges erfuhren die sozialistischen Aktivistinnen, dass ihr Anliegen verstanden worden ist. Ob in Berlin, Petersburg, Paris oder London – es waren Frauen und Mütter, die als erste auf die Straße gingen und »Frieden« und »Brot« von ihren Regierungen forderten.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 8. März 2014

In dieser nd-Reihe

erschienen von Reiner Oschmann "Als Pinsel und Feder glühten" und von Kurt Pätzold "Ich begehr, nicht schuld zu sein".




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