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US-Raketenabwehr: Bush kündigt den ABM-Vertrag

Ein folgenschwerer Schritt für die internationale Sicherheitsarchitektur

"Heute habe ich Russland dem Vertrag entsprechend formell mitgeteilt, dass die USA sich aus diesem fast 30 Jahre alten Vertrag zurückziehen." Mit diesen Worten kündigte US-Präsident George W. Bush am 13. Dezember 2001 in Washington den ABM-Vertrag aus dem Jahr 1972 auf. Die internationalen Reaktionen bleiben eher verhalten.

Der Schritt war ja lange vorher angekündigt worden. Und seit dem 11. September befinden sich die USA auf einem sicher scheinenden Pfad militärstrategischer Überlegenheit über den Rest der Welt, sodass der Bruch mit der Vergangenheit keine allzu größeren unangenehmen Reaktionen bei Partnern und scheinbaren Gegnern hervorrufen sollte. Zwar bestehen die grundsätzlichen Bedenken auf russischer oder chinesischer Seite immer noch. Doch Russland hat im Augenblick andere Sorgen, als sich mit dem derzeitigen Verbündeten im Kampf gegen den Terror anzulegen, und in Peking neigt man ohnehin nicht zu lauten Tönen. China sei nach wie vor gegen das geplante US-Raketenabwehrsystem, befürchte "negative Auswirkungen" und befürworte in dieser Frage einen "strategischen Dialog" mit den USA, sagte eine Sprecherin des Außenministeriums in Peking. Der Ton der Erklärung war jedoch im Vergleich zu früherer Kritik "milde", wie die Frankfurter Rundschau feststellte (FR, 14.12.2001). Die chinesische Führung wird sich wohl eher im Stillen auf die militärische Herausforderung einstellen und die eigene Raketenrüstung ausbauen. Immerhin bleibt ja ein wenig Zeit, sich auf die neue Situation vorzubereiten. Denn die Kündigung wird erst nach sechs Monaten, also im Juni 2002 wirksam.

Während aus Moskau zunächst keine offizielle Stellungnahme auf Bushs Kündigung des ABM-Vertrags bekannt wurde - Sergej Jastrschembski, ein Berater des russischen Präsidenten Wladimir Putin, sagte lediglich, Russland werde trotz des "Augenblicks der Schwäche" der USA ruhig bleiben -, grummelte es aber doch in russischen Parlamentskreisen. Hier geht offenbar die Sorge um, dass Staaten wie Indien, Pakistan und China nun in Versuchung geraten könnten, ihre atomaren Arsenale aufzustocken. Noch schlimmer aber ist die Aussicht darauf, selbst mehr für die Raketenrüstung tun zu müssen, um wenigstens annähernd an dem historischen strategischen Gleichgewicht mit der Supermach USA anzuknüpfen, wissend, dass sich der bankrotte Staat dabei lebensgefährlich überheben würde.

Die Kündigung des ABM-Vertrags ist ein weiteres Indiz für eine grundlegende Neuorientierung der US-Außen- und Sicherheitspolitik. Sie kann nicht erst mit dem 11. September datiert werden, sondern geht zurück auf Weichenstellungen, die bereits George Bush der Ältere 1990/91 vorzunehmen versucht hatte, indem er vor dem Hintergrund des Kollpses der Sowjetunion und des Warschauer Pakts auf eine US-hegemoniale neue Weltordnung setzte. Diesem Zweck wurde die NATO auf neue Ziele verpflichtet wie etwa auf den Kampf gegen den internationalen Terorismus, den Kampf gegen die Proliferation von Nukleartechnologie, die Sicherung von Rohstoffquellen und des freien Welthandels sowie auf die Verwirklichung von Menschenrechten weltweit. So jedenfalls wurde es bereits in der Römischen Erklärung der NATO von 1991 formuliert. Die USA waren es auch, die sich über zahlreiche internationale Abmachungen hinweg setzten, etwa gegen die weltweite Ächtung von Antipersonen-Minen oder gegen die in Rom 1998 beschlossene Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes (ICC). Im Mai 2001 bekam Washington eine erste Quittung für sein autistisches Verhalten und verlor seinen Sitz in der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Und erst vor wenigen Tagen hatten die USA die Überprüfungskonferenz der Biowaffen-Konvention in Genf damit brüskiert, dass sie partout keine Inspektionen eigener chemischer oder biologischer Fabriken zulassen würden.

Die Welt wird sich auf eine Entwicklung einstellen müssen, die geprägt sein wird von der Durchsetzung nationaler Interessen der einzigen Weltmacht USA - notfalls mit brachialer militärischer Gewalt. Seit dem Jahr 2000 stehen die Zeichen weltweit wieder auf mehr Rüstung und auf mehr regionale Kriege und Bürgerkriege. Der avisierte langjährige "Krieg gegen den Terror" wird eher noch mehr solcher Konflikte hervorbringen als zu einer Eindämmung des Terrorismus beitragen. All das muss im Auge behalten werden, wenn man über die Folgen der Aufkündigung des ABM-Vertrags nachdenkt. Die USA haben - schon vor dem 11. September - zahlreiche ähnlicher einseitiger Schritte unternommen, die in ihrer Gesamtheit der globalen Sicherheitsarchitektur schweren Schaden zufügen.
Pst


Im Folgenden dokumentieren wir ein paar ausgewählte Pressestimmen, die sich mit dem ABM-Vertrag befassen.

Die Frankfurter Allgemeine nimmt das Raketenabwehrsystem nicht ganz so ernst. Wenn es denn einen amerikanischen Traum befriedigt ...!

... Bush legte Hand an das Symbol einer sicherheitspolitischen Philosophie, die drei Jahrzehnte lang Denken und Handeln der amerikanischen, aber auch der russischen "strategic community" prägte. Der ABM-Vertrag von 1972 verkörperte die epochale Einsicht, daß es gegen die Kombination von Wasserstoffbombe und Interkontinentalrakete keinen Schutz geben könne, daß im Gegenteil Sicherheit nur aus der wechselseitigen Verwundbarkeit ("mutual assured destruction", MAD) erwachse. Mit der im ABM-Vertrag vereinbarten Beschränkung, ja Ächtung von Verteidigungsmaßnahmen zog jene Ruhe in das Verhältnis der damaligen Supermächte ein, die es ihnen ermöglichte, die nukleare Rüstung zu begrenzen und später sogar zu reduzieren.

Wegen der Kündigung des ABM-Vertrages fallen Amerika und Rußland nicht in den alten Systemantagonismus zurück - mit der Auflösung des Vertrags wird vielmehr der Kalte Krieg auch formell beendet. Der ihn bestimmende Dualismus war schon mit dem aggressiven Sowjetkommunismus verschwunden, auch wenn widerstreitende Interessen geblieben sind. Längst dominieren jedoch kooperative Elemente die Beziehungen des Westens zu Rußland, das auf die Zusammenarbeit mit ihm stärker als je zuvor angewiesen ist; entsprechend unaufgeregt wurde die Kündigung in Moskau aufgenommen. Schließlich steckt in ihr auch ein Vertrauensbeweis: daß die Bande, die durch die Anti-Terror-Allianz noch einmal verstärkt worden sind, auch Meinungsverschiedenheiten darüber aushalten, wie dringend es ist, sich gegen neue, in "Schurkenstaaten" entstehende Gefahren zu wappnen.

... Die Amerikaner fanden sich, obwohl sie "MAD" erfunden und die Russen von seiner Logik überzeugt hatten, nie damit ab, daß die Existenz ihrer Nation von der Vernunft anderer abhängen sollte. Am 11. September haben sie auf furchtbare Weise erfahren, daß es neue Bedrohungen gibt, gegen welche die Abschreckungsstrategie des Kalten Krieges machtlos ist. Ob es den Europäern (insbesondere den Mini-Nuklearmächten unter ihnen), den Russen und den Chinesen gefällt oder nicht: Die Amerikaner werden ein Raketenabwehrsystem bauen, wenn es denn technisch und finanziell möglich ist. Denn sich selbst aus eigener Kraft verteidigen zu können ist Teil des Traums, der in jedem amerikanischen Geschichtsbuch vorkommt.
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.12.2001)


Die konservative Neue Zürcher Zeitung misst der US-Raketenabwehr eine wesentlich größere Bedeutung zu, kommt aber zu demselben Ergebnis: Die Amerikaner tun gut daran, wenn sie in die neue Rüstungstechnologie einsteigen. Auszüge aus einem langen Kommentar:

Überraschend kommt die amerikanische Kündigung des ABM-Vertrags nicht. Der Präsidentschaftskandidat Bush hatte bereits im Wahlkampf seine Absicht mitgeteilt, dass er notfalls aus dem Abkommen von 1972 aussteigen werde, wenn dies für den Aufbau eines wirkungsvollen Raketenabwehrsystems notwendig sein sollte. Viel Wasser ist seither den Potomac hinabgeflossen, doch dieses Wahlversprechen hat Bush nicht vergessen. Der Zeitpunkt ist überdies gut gewählt: Das Verhältnis zu Russland - der ABM-Vertrag ist ein bilaterales Abkommen - ist zumindest oberflächlich betrachtet so reibungsfrei wie selten zuvor, und grundsätzlich besteht auch ein Übereinkommen über den weiteren Abbau der nuklearen Sprengköpfe im Offensivbereich auf ein Niveau, das Russland beibehalten und finanzieren kann.

Damit nicht genug: Amerika und seine europäischen Alliierten locken mit einer stärkeren Einbindung Russlands in westliche Sicherheitsbelange und in die Organisationen der Weltwirtschaft. Wenn Moskau will, könnte es über seine Mitwirkung im Kampf gegen den Terrorismus hinaus zum kooperativen Mitspieler des Westens in einer neuen strategischen Lage werden. ...

Ausgangspunkt für Bushs Entscheidung ist die Lancierung der Strategischen Verteidigungsinitiative seines Vorgängers Reagan im Jahr 1983. Reagan hatte ganz einfach seine Überzeugung verkündet, es sei besser, Amerikaner und Verbündete zu schützen, als mit Rache zu drohen beziehungsweise sie zu rächen, wenn es zum Nuklearschlag gekommen wäre. Technische Schwierigkeiten, die es bei einer Raketenabwehr im Übrigen immer noch gibt, hatten jenen Präsidenten nicht von der Ankündigung des von ihm als richtig Empfundenen abgehalten.

Dies bedeutete bereits die Absage an die im Kalten Krieg vorherrschende Doktrin der Abschreckung und der gesicherten gegenseitigen Zerstörung. ... Die Realitäten hatten sich allerdings schon damals zu verändern begonnen, und die Zweifel wuchsen, ob die Abschreckung auch im Zeitalter der fortschreitenden Weiterverbreitung von ABC-Waffen und ihrer Verwendung durch Regime wie jenes von Saddam Hussein wirklich funktionierte. Während im Golfkrieg noch argumentiert werden konnte, dass der Irak keine C-Waffen gegen Israel und die Koalition einsetzte, obwohl er sie zu Verfügung hatte, weil der damalige Staatssekretär Baker mit einem amerikanischen Nuklearschlag gedroht hatte, so versagte die latente Abschreckung am 11. September. Militärische Überlegenheit allein, selbst wenn sie Atomwaffen umfasst, schreckt nicht alle Täter ab: Israel erfährt dies wieder beinahe täglich; Amerika machte auf eindrücklichste Weise Bekanntschaft mit diesem Phänomen vor drei Monaten. ...

Trotz Raketenabwehr, die noch nicht steht und über deren verschiedene Varianten es noch keine Klarheit gibt, wird sich Amerika nicht in den Schutz einer eigenen Festung zurückziehen. Die Tatsache, dass die Terroristen Passagierflugzeuge verwendeten, ist kein Argument für einen Verzicht auf ein Abwehrsystem auch gegen Missile - Saddam Hussein sandte bekanntlich seine Scuds bis in die Vororte von Tel Aviv. Die Amerikaner werden im Übrigen nicht nur versuchen, ihr eigenes Land zu schützen, sondern auch die Territorien ihrer Verbündeten, wenn diese das wünschen. Im Zentrum steht indes kurzfristig eher der Schutz amerikanischer Streitkräfte. Nur so kann die Führungsmacht ihre globale Handlungsfähigkeit bewahren.

Der ABM-Vertrag stand diesen Entwicklungen zunehmend im Wege. Seegestützte Radarsysteme müssen in künftige Tests einbezogen werden können, was nach dem Abkommen nicht erlaubt gewesen wäre. Und im nächsten Sommer soll der Bau von Silos und einem Kommandozentrum in Alaska in Angriff genommen werden, was ebenfalls gegen die ABM-Vereinbarung verstossen hätte. Die Vorbereitungen zum Ausstieg haben Jahre gedauert, doch auch strategische Realitäten haben die Eigenschaft, sich schliesslich durchzusetzen.
H. K.
(NZZ, 14.12.2001)


Auch der Berliner Tagesspiegel sieht alles sehr gelassen. Das geht schon aus der Kürze des Kommentars hervor.

Ein Raketenabwehrsystem hätte die Anschläge vom 11. September auf New York und Washington nicht verhindert. Dennoch ist seitdem die amerikanische Entschlossenheit noch gewachsen, sich auch gegen Attacken mit Interkontinentalwaffen zu schützen. Staaten wie der Irak, dem Verbindungen zur Terrorgruppe bin Ladens unterstellt werden, sind nach Geheimdienstanalysen in absehbarer Zeit vermutlich auch in der Lage, Terroranschläge mit vereinzelten Raketen größerer Reichweite durchzuführen. Das seit Jahren entwickelte Abwehrsystem National Missile Defense, NMD, würde zwar gegen einen massiven Angriff einer Großmacht nichts nützen. Die USA haben aber die durchaus begründete Hoffnung, NDM für die erfolgreiche Abwehr einzelner Geschosse tauglich machen zu können. Deshalb ist die Kündigung des ABM-Vertrages aus dem Jahre 1972 - der eine solche Installation verbietet - logisch. George W. Bush hat die russische Seite behutsam darauf vorbereitet, und deshalb reagiert Moskau nun auch nicht nervös. Das Interesse Putins und auch der Westeuropäer dürfte sich eher auf die Frage konzentrieren, ob und wann die amerikanische Technik auch dem Schutz unseres Kontinents vor Terrorangriffen dienen wird.
(Tagesspiegel 13.12.2001)


Einen "unrühmlichen Akt" sieht indessen der Kommentator der Frankfurter Rundschau in Bushs ABM-Kündigung. Rolf Paasch kommentierte u.a.:

Die Gelegenheit war zu günstig. George W. Bush hat den politischen Vorteil aus den tragischen Ereignissen des 11. September rücksichtslos ausgenutzt. ...

Der 1972 zwischen den USA und der Sowjetunion ausgehandelte Abrüstungsvertrag war mit seinem Verbot einer landesweiten Raketenabwehr nicht mehr zeitgemäß. Veränderungen, vielleicht sogar sein Ersatz, waren überfällig. Aber der Vertrag blieb nichtsdestotrotz wichtiges Symbol für die beidseitige Verpflichtung auf eine bewährte Sicherheitsarchitektur.

Mit ihrer einseitigen und überhasteten Kündigung hat sich die Bush-Administration nun zur rüstungspolitischen Improvisation entschlossen. Statt auf feste Verträge, setzt Bush auf sein persönliches Verhältnis zu Putin. Statt unter dem Dach wechselseitiger Verträge, operiert die letzte Supermacht nun unilateral im sicherheitspolitischen Vakuum. Das wird den Amerikanern nutzen und den Russen - wie ihre milden Proteste andeuten - kaum schaden. Zur Not kann Moskau als Reaktion seinen restlichen Raketen Mehrfachsprengköpfe aufsetzen.

Doch Asien mit seinen Atomstaaten wird das hemmungslose Vorantreiben einer nationalen Raketenabwehr durch George W. Bush nur Aufrüstung und Unsicherheit bringen. Und die konventionelle Attacke auf das World Trade Center hat nicht die Argumente für Bushs Raketenabwehr gestärkt, sondern nur die Chance ihrer Durchsetzbarkeit.
(Frankfurter Rundschau, 14.12.2001)


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