Falsche Signale für die Rüstungskontrolle
Führende deutsche Friedensforscher kritisieren die Aufkündigung des ABM-Vertrages durch US-Präsident George Bush
Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einer Stellungnahme führender Friedensforscher verschiedener deutscher Institute zur Aufkündigung des ABM-Vertrags durch die USA. Die Stellkungnahme wurde kurz vor Weihnachten veröffentlicht (u.a. gekürzt in der Frankfurter Rundschau). Sie ist in voller Länge der sehr informativen Homepage der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung zu entnehmen (www.hsfk.de/abm).
                   Der angekündigte Rückzug der USA aus dem ABM-Vertrag von 1972 stellt eine
                   politisch unkluge Entscheidung dar. Sie ist weder durch die Bedrohungslage
                   geboten, noch durch die technologische Machbarkeit eines
                   Raketenabwehrschildes gerechtfertigt. Zudem sendet sie rüstungskontrollpolitisch
                   falsche Signale.
                   Die Terroranschläge vom 11. September haben deutlich gemacht, daß die
                   wahrscheinlichere Bedrohung nicht von Raketen ausgeht, sondern von
                   unkonventionellen und asymmetrischen Angriffen, gegen die ein
                   Raketenabwehrsystem unwirksam ist. Die Aufkündigung des ABM-Vertrags wertet
                   diplomatische Initiativen ab und erschwert einen rüstungskontrollpolitischen Dialog
                   mit den vielzitierten Problemstaaten. Dies ist um so fataler, als die technologische
                   Machbarkeit der geplanten Abwehrvorhaben weiterhin fraglich ist. ...
                   Bushs Entscheidung lässt befürchten, beim außenpolitischen Ansatz der USA
                   nach dem 11. September handele es sich lediglich um eine multilaterale
                   Ausnahme von der in der Bush-Administration vorherrschenden unilateralen
                   Grundtendenz. Die Hardliner-Fraktion um Verteidigungsminister Rumsfeld und
                   seinen Stellvertreter Wolfowitz hat sich vorerst gegen die bedingten
                   Multilateralisten um Außenminister Powell durchgesetzt.
                   Der von den Demokraten kontrollierte Senat drängte lange Zeit vehement auf eine
                   einvernehmliche Anpassung des ABM-Vertrages zusammen mit Russland. Er
                   verstand sich als Korrektiv der Pläne der Administration. Jedoch konnte er sich
                   dem massiven Machtzuwachs des Präsidenten nach den Terroranschlägen von
                   New York und Washington nicht entziehen. Bush konnte nicht nur die politische
                   Lähmung für sich ausnutzen, er baute den 11. September sogar als verstärkendes
                   Element in seine Argumentation für eine Raketenabwehr ein.
                   Die Europäer sind in dieser Frage jetzt auch offiziell vor vollendete Tatsachen
                   gestellt worden. Übereinstimmend mit der diplomatie-orientierten Tradition seiner
                   Außenpolitik kann es Europa nur noch darum gehen, Schaden zu begrenzen und
                   Washington glaubwürdige politische Kriterien für die Aufstellung eines
                   Abwehrsystems abzuverlangen. Es muss zu denken geben, daß Präsident Putin
                   Bushs Entscheidung als einen Fehler bezeichnet und die chinesische Führung den
                   amerikanischen Beschluß heftig kritisiert. Deshalb darf der aufgekündigte
                   ABM-Vertrag kein rüstungskontrollpolitisches Vakuum hinterlassen. Die von
                   Außenminister Fischer in der Bundestagsdebatte am 15. März 2001 in der
                   NMD-Frage formulierten Kriterien werden daher um so wichtiger. Konkret kommt es
                   drauf an, vor allem seine folgenden Maßstäbe mit Leben zu füllen: 
- 
Nukleare Abrüstung und Verbesserung der Krisenstabilität: Die Präsidenten Putin
                   und Bush sind nun gefragt, die Mitte November beim Gipfeltreffen in Washington
                   und Crawford vereinbarte Verringerung bei den strategischen nuklearen
                   Offensivwaffen auf 1 700 bis 2 200 Gefechtsköpfe zu kodifizieren und Gespräche
                   über weiterreichende Verminderungen zu beginnen. Es ist außerordentlich
                   bedauerlich - und politisch folgenschwer -, dass kein vertragliches Äquivalent zum
                   Abwehrabkommen in Sicht ist. Da die Berliner Regierung genau das stets
                   angemahnt hat, sollte sie jetzt darauf drängen, dass es von amerikanischer Seite
                   realisiert wird; hier gilt es, die entsprechende Position Moskaus zu unterstützen.
                   ... 
- Stärkung des internationalen Rüstungskontrollregimes: Um
                   rüstungskontrollpolitisch glaubwürdig zu sein, müssen die USA endlich die
                   Blockadehaltung aufgeben, die jüngst die Verhandlungen über die
                   Biowaffenkonvention zum Scheitern brachte. Zur Stärkung des
                   Nonproliferationsregimes gehören sowohl die Ratifizierung des umfassenden
                   Teststoppvertrages durch die USA als auch die Stärkung des "Code of Conduct",
                   wie sie die Mitgliedstaaten des Raketentechnologiekontrollregimes seit dem Herbst
                   2000 anstreben. 
    
- Vermeidung eines Rüstungswettlaufs: Um die regionale Stabilität in Zentralasien
                   nicht zu gefährden, sollten die USA in einen ernsthaften rüstungspolitischen Dialog
                   mit China eintreten. Darin müssen die Vereinigten Staaten Peking glaubhaft
                   versichern, dass sich ihre Pläne weder gegen das chinesische Nuklearpotential
                   richten, noch taiwanesische Unabhängigkeitsbestrebungen fördern. ...
        
- Die Herstellung eines europäischen Konsenses: Der einseitige Rückzug der USA
                   aus dem ABM-Vertrag wird die Beschränkungen des Abkommens im Hinblick auf
                   die Weltraumrüstung aufheben. Damit öffnet er einer neuen Rüstungsdynamik Tür
                   und Tor. Der Weltraum gehört aber gleichzeitig zu den Bereichen, in denen es
                   verhältnismäßig leicht sein dürfte, eine gemeinsame europäische Position zu
                   erarbeiten, um so die Aufstellung von Waffen im All zu verhindern.
                   Selten waren nach 1945 rüstungskontroll- und diplomatieorientierte Konzepte so
                   notwendig wie jetzt. Um den eigenen rüstungskontrollpolitischen Ansprüchen
                   gerecht zu werden, sollte die rot-grüne Koalition im europäischen Verbund initiativ
                   werden und auch wichtige Raketenabwehr-kritische Akteure in den USA in ihre
                   Strategie einbinden. Dies bedeutet kein Ausscheren aus der "uneingeschränkten
                   Solidarität" mit den Vereinigten Staaten, sondern den Einsatz für internationale
                   Stabilität. Um nicht in Gefahr zu geraten, sich hinter dem Unilateralismus der USA
                   zu verstecken, müssen die EU - und besonders die Bundesregierung - jetzt die
                   multilaterale Flagge hissen.
- 
                   Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler
                   (VDW).
               -     Dr. Bernd W. Kubbig, Dipl.-Pol. Mirko Jacubowski, Koordinationsgruppe des
                   Internet-Projekts Raketenabwehrforschung International in der Hessischen Stiftung
                   Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt.
                 
-   Prof. Dr. Dr. Dieter S. Lutz, Direktor des Instituts für Friedens- und
                   Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).
                
-    Prof. Dr. Harald Müller, Geschäftsführendes Mitglied des Vorstandes der
                   Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt.
                
-    Dr. Götz Neuneck, Rüstungskontrollexperte, Institut für Friedens- und
                   Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).
               
-     Hans-Joachim Schmidt, Rüstungskontrollexperte, Hessische Stiftung Friedens-
                   und Konfliktforschung (HSFK).
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