Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters,
Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.
"Die Bündnisgrünen haben monatelang für eine andere Entscheidung gekämpft" ...
... am Ende aber doch zugestimmt. Bundestagsfraktion begründet die Abstimmung über das MEADS-Rüstungsprojekt
Im Folgenden dokumentieren wir eine Erklärung der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen zur Abstimmung über das Raketenabwehrprojekt MEADS im Bundestag. Die Argumentation enthält viele aufschlussreiche Informationen. Politisch interessant ist der Text aber auch deshalb,
weil aus ihm hervorgeht, dass zwischen dem (sachlich begründeten)
Gewissen von Abgeordneten und ihrem konkreten Abstimmungsverhalten eine
tiefe Kluft besteht. Oder anders gesagt: Abstimmungen im Bundestag
bringen nicht unbedingt die Meinung des Bundestags zum Ausdruck. Das ist
demokratiepolitisch jammerschade, weil es der sattsam bekannten
"Politikverdrossenheit" neue Nahrung gibt. Politikwissenschaftlern und
Journalisten könnten aber neue Aufgaben zuwachsen, denn die
Interpretation von Parlamentsentscheidungen durch den Wähler/die
Wählerin wird immer anspruchsvoller und riskanter. Wie wird ein(e)
Abgeordnete(r) wohl abstimmen? Seiner/ihrer Haltung entsprechend? Wie
wird er/sie die Zustimmung bzw. Ablehnung eines Antrags hinterher
begründen, wenn er/sie vorher die Ablehnung bzw. Zustimmung desselben
Antrags begründet hat?
Möglicherweise wurde die Zustimmung der Grünen zum MEADS-Projekt auch durch ein paar Zugeständnisse erkauft, wie aus einer Zeitungsnotiz vom 26. Aprl hervorgeht (siehe Kasten unten auf dieser Seite).
Den Text der Grünen-Fraktion haben wir der Homepage des Grünen-Abgeordneten Winfried Nachtwei entnommen.
Bundestagsfraktion zur MEADS-Entscheidung
Veröffentlicht am Do, 21 April 2005
Der Haushaltsausschuss hat einer deutschen Beteiligung am
Raketenabwehrsystem MEADS zugestimmt. Die Bündnisgrünen haben die
Beteiligung an dem kostenträchtigen Programm als einzige kritisch
hinterfragt.
Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat sich am 20.04.2005 mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU und Bündnisgrünen für eine deutsche Beteiligung
an der Entwicklung des "Taktischen Luftverteidigungssystems MEADS"
ausgesprochen. Hierfür werden in den kommenden acht Jahren Mittel in
Höhe von insgesamt 886 Millionen € fällig. Über Art und Umfang der
Beschaffung muss ab 2009 entschieden werden.
Nachdem die Bündnisgrünen die für den 26. März vorgesehene
Beitrittsfrist noch einmal verschieben konnten, musste auf Drängen der
USA und Italiens bis Ende April eine Entscheidung Deutschlands
vorliegen. Parteirat und Bundestagsfraktion hatten sich nach intensiver
und kontroverser Debatte dafür ausgesprochen, eine deutsche Beteiligung
nicht zu blockieren.
Grüne konnten sich mit ihren Bedenken nicht durchsetzen
Die Bündnisgrünen haben monatelang für eine andere Entscheidung
gekämpft. Am Ende konnten wir uns nicht durchsetzen. Das ist
bedauerlich, denn wir halten die von uns angeführten sachlichen Gründe
weiterhin für zutreffend. Wir haben diese Gründe vorgetragen, weil wir
eine nicht hinterfragte und widerspruchslose Hinnahme des Projektes für
nicht vertretbar hielten. Da es im Zusammenhang mit dem MEADS-Projekt zu
keiner Erhöhung des Verteidigungshaushalts kommen wird, geht diese
Entscheidung am Ende zu Lasten anderer Beschaffungsprojekte und der
Soldaten der Bundeswehr.
Mehrere kritischen Studien sowie die Berichte des Bundesrechnungshofs
bekräftigten uns in unserer Haltung, dass der Einstieg in ein derart
ambitioniertes und kostenträchtiges Rüstungsprogramm einer gründlichen
Überprüfung der Prioritäten, Leistungsfähigkeit und Risiken bedarf. Wir
stellen nicht infrage, dass zu den notwendigen Fähigkeiten von
Streitkräften auch die Abwehr von wahrscheinlichen Luftbedrohungen
gehört. Ebenfalls steht außer Frage, dass Soldaten, die der Bundestag in
Auslandseinsätze im Rahmen des VN-Systems schickt, Anspruch auf
bestmöglichen Schutz gegen die wahrscheinlichsten Bedrohungen haben. Das
Argument jedoch, MEADS sei technologie- und industriepolitisch sowie
transatlantisch "interessant", kann angesichts der Haushaltslage nicht
allein ausschlaggebend sein. Zu den zentralen Fragen gehörten aus Sicht
der Fraktion:
-
Ist MEADS angesichts der wahrscheinlichen Risiken und der
vorhandenen Fähigkeiten militärisch notwendig, vordringlich und geeignet?
-
Sind die technischen und finanziellen Risiken von MEADS beherrschbar?
-
Ist MEADS angesichts anderer dringlicher Finanzierungslücken im
Personal- und Beschaffungshaushalt der Bundeswehr mit Vorrang zu behandeln?
-
Ist MEADS im Hinblick auf eine umfassende und vorbeugende
Sicherheitspolitik, die ausgewogene militärische,
diplomatisch-politische, zivile und polizeiliche Fähigkeiten benötigt,
zu rechtfertigen?
Diese Fragen müssen trotz der jetzt erfolgten Zustimmung zur deutschen
Beteiligung an der Entwicklung von MEADS weiter gestellt werden, nicht
zuletzt auch im Hinblick auf die 2009 anstehende Entscheidung über die
Beschaffung. Dabei muss auch die weitere Begleitung des Projektes durch
den Bundesrechnungshof eine wichtige Rolle spielen.
Von Seiten der SPD, der CDU/CSU und der FDP wurden die von uns und
anderen Kritikern vorgebrachten Einwände und Bedenken zu keinem
Zeitpunkt öffentlich unterstützt. Besonders erbärmlich ist das Verhalten
der FDP, die lange jegliche Kritik an dem Vorhaben vermissen ließ, und
am Ende aus parteitaktischen Gründen dagegen stimmte. Die FDP hatte in
der Vergangenheit das Projekt vorbehaltlos mitgetragen.
Zum Hintergrund:
Beim Taktischen Luftverteidigungssystem MEADS handelt es sich um ein
bodengestütztes Luftverteidigungssystem, das zur Abwehr von
Luftfahrzeugen, Marschflugkörpern, Drohnen und taktischen ballistischen
Raketen mit einer Reichweite bis 1.000 Kilometern bereitgehalten werden
soll. Das System dient in erster Linie zum Schutz eigener oder
verbündeter Truppen in Auslandseinsätzen. Es soll das alte HAWK-System
und mittel- (2015) bis langfristig (2025) das PATRIOT-System ablösen.
MEADS soll in den kommenden acht Jahren von den USA, Italien und
Deutschland entwickelt werden. Andere Bündnispartner haben bislang noch
kein Interesse gezeigt. Frankreich hatte sich 1996 in letzter Sekunde
aus dem Projekt zurückgezogen. Der Kostenrahmen für die Entwicklung
beläuft sich auf 886 Mio. €, davon 816 Mio. € für den operativen Teil
des internationalen Programms, 31 Mio. € Verwaltungskostenanteil
(NAMEADSMA) und 39 Mio. € nationaler Entwicklungsanteil. Weitere 140
Mio. € sollen in den kommenden Monaten für die Entwicklung eines
nationalen Zweitflugkörpers auf der Grundlage der Eurofighter-Waffe
IRIS-T bewilligt werden. Gleichzeitig soll in Kürze über die Fortsetzung
der Kampfwertanpassung des PATRIOT-Systems entschieden werden.
Die exakte Höhe der zu erwartenden Beschaffungskosten von MEADS
(Entscheidung gegen 2009; erste Ausbildungsgeräte 2012, Zulauf der
Einsatzsysteme ab 2014) ist zurzeit noch nicht bekannt. Mindestangaben
bei einem Erstbedarf von 12 Feuereinheiten belaufen sich nach Angaben
des Verteidigungsministeriums auf 2,85 Milliarden € . Der
Bundesrechnungshof und andere Experten befürchten, dass die Kosten
doppelt oder dreifach so hoch ausfallen könnten.
Die Arbeiten an dem von den USA, Italien und Deutschland geplanten
"Taktischen Luftverteidigungssystems MEADS" begannen 1996. Das Projekt
stand sowohl in den USA als auch in Europa mehrfach auf der Kippe. Auch
die Weizsäcker-Kommission hatte im Mai 2000 erhebliche Zweifel an der
Vordringlichkeit des Vorhabens geäußert. Auf Wunsch der USA wurde das
Programm deutlich modifiziert. Die Definitionsphase wurde 2001 durch
eine dreijährige Risikostudie verlängert. Nach ihrem Abschluss haben die
USA und Italien im September 2004 den Entwicklungsvertrag unterzeichnet.
Quelle: www.nachtwei.de
MEADS macht auch selig
Jüngst wurde im Bundestag das Raketenabwehrsystem MEADS auf die Flugbahn gebracht. Die SPD war zufrieden, da keine zusätzlich miese Stimmung beim US-Kooperationspartner aufkommt. Das ist den Grünen zu danken. Die waren einst strikt gegen das ebenso untaugliche wie unnütze Projekt. Nun nickten sie. Kaum getan, sickerte durch, was die Grünen gefügig gemacht haben soll. Es war die pure Lust an Frieden und Abrüstung. Für ihr Nicken sollen die kleinen Koalitionäre rund zehn Millionen Euro in die zivile Krisenprävention umgeleitet haben. Zugleich schob man die Ausstattung des »Tiger«-Helikopters mit neuen Lenkraketen ein wenig in die Zukunft. (Das fiel Struck leicht, da er das Geld sowieso nicht hat.) Wichtiger scheint, dass er den Grünen zugestand, die Anzahl der Panzerminen um die Hälfte zu reduzieren. (Logisch, wer braucht die Dinger in Afghanistan oder am Horn von Afrika?!) Nächster Erfolg: Die Luftwaffe will ihre Clusterbomben abschaffen. (Nicht gleich, doch dann, wenn man das Tornado-Träger-Flugzeug ausmustert.) Na also – die Welt wird friedlicher. Dank MEADS! (Hei.)
Aus: Neues Deutschland, 26. April 2005
Zu weiteren Beiträgen zum Thema Raketenabwehr
Zur Seite "Rüstung und Rüstungsexport"
Zur Bundeswehr-Seite
Zurück zur Homepage