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Raketenstreit:

Was will Putin?

Von Kai Ehlers

Der G8-Gipfel vom Anfang Juni brachte neben einigen unverbindlichen Harmoniebezeugungen in Sachen Klimaschutz, Afrikahilfe und anderem eine für alle Seiten verblüffende Wendung: Störenfried Wladimir Putin, auf dessen Abwehr der US-amerikanischen Raketenpläne sich die politische Berichterstattung im Vorweg des Gipfels bereits eingeschossen hatte, überraschte George W. Bush während des Gipfels mit dem Vorschlag, Russland und die USA könnten alternativ zu Standorten in Polen und Tschechien einen gemeinsamen Stützpunkt in Aserbeidschan aufbauen. Ein gemeinsamer Raketenstützpunkt in Aserbeidschan sei effektiver, so Putin, weil näher am Ort möglicher Raketen-Startplätze, er sei flexibler, weil nicht sofort in eine unbekannte Entwicklung hinein investiert werden müsse, sondern der schon vorhandene Standort aufgerüstet werden könne, wenn es sich als notwendig erweise und schließlich könne von dort aus das gesamte Europa und nicht nur, wie von Polen oder Tschechien aus, ein Teil Europas gesichert werden.

George W. Bush war, trotz diverser Vorgespräche so überrascht, dass es bei ihm – auch noch nach Tagen – nur zum Kommentar: „interessanter Vorschlag“ reichte; die Europäer zeigen sich entspannt durch Putins „Rückkehr zur Verständigung“, von der Sache her gibt man sich skeptisch, ob die in Aussicht genommene aserbeidschanische Basis „nicht zu nah an den Schurkenstaaten“ liege, wie Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer kommentierte. In den deutschen Medien herrscht der Tenor vor, Putins Vorschlag sei eine Finte, mit der er vom schlechten Image Russlands ablenken wolle.

Aber nein, Putins Vorschlag ist keine Finte, sowenig wie sein Auftritt vor der NATO-Konferenz vor ein paar Monaten eine Aggression war: Vor dem Hintergrund der Grundorientierung Putins, Russland stabilisieren und die Selbstachtung des Landes als Subjekt des Weltgeschehens, konkret als Faktor der Integration Eurasiens wieder herstellen zu wollen und zum Impulsgeber einer multipolaren neuen Weltordnung zu machen, ist der Vorschlag als ernst gemeinter Zug zu begreifen, der darauf zielt:
  • die konkrete Bedrohung Russlands minimieren,
  • die Spaltung des Bündnisses zwischen EU und Russland durch einen zwischen ihnen entstehenden US-Einflussgürtel zu verhindern,
  • die Ernsthaftigkeit der US-Begründung überprüfbar zu machen, nach der die Raketen dem Schutz Europas dienen sollen
  • und schließlich einen innenpolitischen Wegweiser für eine über Putins Amtszeit hinausweisende strategische Orientierung aufzustellen, die lautet:
    Internationale Kooperation auf Augenhöhe, statt Unterordnung unter eine globale US-Hegemonie.
Zur Frage der tatsächlichen Bedrohung erschien Anfang Mai ein Artikel in der russischen Zeitschrift „Iswestija“, früher Flaggschiff der Parteipresse, soeben von Gazprom übernommen, in dem unter der Überschrift: „Raketenschutzschild: maskiert als Schutz, aufgebaut für den Überfall“, die Lage aus Sicht des russischen Militärs geschildert wird. Danach haben die USA bereits jetzt eine Situation geschaffen, dass sie über seegestützte „Tomahawk“-Abfangraketen „praktisch jeden Ort Russlands vom Atlantik, vom Nordmeer und vom Pazifik aus innerhalb von Sekunden erreichen können.“ (siehe Schaubild) Die Vorverlagerung der Abschußmöglichkeiten wäre eine zusätzliche Verdichtung und zeitliche Verkürzung dieses US-Netzes auf Vorabinformation, die aus der Radarüberwachung zu beziehen wären.

Putins Alternative, in Aserbeidschan eine gemeinsame Raketenabwehr zu betreiben, ändert nach diesen Angaben also nichts Wesentliches an den technischen Voraussetzungen der militärischen sog. Sicherheitslage, die wären von einem polnisch-tschechischen Standort aus die gleichen wie von Aserbeidschan aus. Dabei ginge es im Wesentlichen um gegenseitige informationelle Transparenz. Die politischen Bedingungen der Kooperation sind jedoch in beiden Fällen vollkommen anders: Der Aufbau von US-Raketenstationen in Polen und Tschechien, selbst wenn es in Kooperation mit Russland geschähe, liefe darauf hinaus, US-Präsenz in den anti-russischen Problemstreifen zwischen EU und Russland zu holen und einen Dauerkonflikt zwischen EU und Russland zu institutionalisieren; in Aserbeidschan dagegen befände man sich gewissermaßen auf neutralem Gelände und zudem unmittelbar vor den Toren der Kräfte, die es nach übereinstimmenden Positionen von USA, Russland und EU im Zaum zu halten gilt. Für diese Sicht spricht auch, dass Aserbeidschans Präsident Alijew keine Probleme mit einer solchen Nutzung der schon bestehenden russischen Station Cabla sieht.

Damit rückt der dritte Aspekt ins Licht, der in Putins Vorschlag liegt: An der Reaktion auf seinen Vorschlag kann sich zeigen, wie ernst die Begründung der US-Amerikaner zu nehmen ist, dass es bei der Aufstellung der Raketen um einen Schutz Europas vor Bedrohungen aus den „Schurkenländern“ gehe: In einem Stützpunkt Cabla in Aserbeidschan wäre eine Abwehr möglicher Raketengefahren aus dem „Schurkenbereich“ nicht nur schneller und sicherer, weil näher am Ort möglicher für gefährlich gehaltener Abschussrampen, sie beträfe nicht nur das ganze Europa und wäre auch – wie Putin ausdrücklich hervorhebt – weit im Vorfeld möglich, sie wäre als Projekt globaler Sicherheit auch gemeinsam von den USA, Russland und der EU, statt in Konkurrenz und in Konfrontation zueinander praktizierbar.

Dies alles bedeutet, Putin versucht, die technische Bedrohung, die darin besteht, dass die USA heute in der Lage sind, Russlands atomares strategisches Antwort-Potential praktisch auszuschalten, durch eine politische Lösung einzumanteln.

Ob die USA sich darauf einlassen – ist eine andere Frage, über die die Welt bald genauer bescheid wissen wird, Aber dann ist auch klar, welchen Zielen die US-Raketenaufrüstung tatsächlich dienen soll.

So gesehen ist Putins Vorschlag für einen gemeinsam betriebenen Raketenstützpunkt in Aserbeidschan – auch dieses wieder zusammen mit dem Auftritt vor der Nato-Tragung in München zu sehen – ein Vermächtnis an seinen Nachfolger, wer immer er sei, konsequent an einer Politik zur Entwicklung einer multipolaren Ordnung festzuhalten, die auf Kooperation und Kräfteausgleich, statt auf Unterordnung unter die Weltherrschaft der USA oder Wettrüsten und militärische Konfrontation setzt.

In die gleiche Richtung zielt Putins Auftritt auf dem russischen Wirtschaftsforum in St. Petersburg einen Tag nach Heiligendamm, von dem Putin zwei sich ergänzende Botschaften aussandte, die von der westlichen Presse flugs als „doppelte Signale“ gekennzeichnet wurden: Er bekräftigte Russlands Interesse, sich der WTO anzuschließen und deren Regeln unterzuordnen, kritisierte aber zugleich den Protektionismus der westlichen Gründerstaaten der WTO; er lud globales Kapital zu Investitionen in Russland ein, insbesondere in den Energiesektor, ließ aber keinen Zweifel daran, dass Russland Öl und Gas in der Verfügungsgewalt von Roßneft und Gazprom, den beiden halbstaatlichen Energiegiganten behalten werde.

Angesichts all dieser Auftritte Putins kann man nur wiederholen, dass die Welt in Zukunft mit einem selbstbewussten Russland zu rechnen hat, auch wenn es militärisch nicht an die USA heranreicht.

Kai Ehlers, Hamburg; Website: www.kai-ehlers.de


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