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Der Westen braucht ein funktionierendes Verteidigungssystem / The West Needs a Defense System That Works

Von Condoleezza Rice und Robert Gates

Im Folgenden dokumentieren wir einen Namensartikel von US-Außenministerin Condoleezza Rice und US-Verteidigungsminister Robert Gates, der im englischen Original im Daily Telegraph (26.04.07) und in einer deutschen Übersetzung zunächst in der Süddeutschen Zeitung vom 26. April 2007 erschien. Die Übersetzung besorgte der Amerika Dienst.



Die transatlantische Gemeinschaft und Russland sind sechzehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges keine Gegner mehr. In einigen Bereichen sind wir sogar Partner. Wir sehen uns beide mit einer Reihe von gemeinsamen Herausforderungen konfrontiert. Die bedrohlichste dieser Herausforderungen ist die Möglichkeit, dass ein gefährlicher Staat ballistische Flugkörper, bestückt mit nuklearen oder anderen Massenvernichtungswaffen, einsetzt und unsere Bürger als Geißel nimmt – oder ihnen noch Schlimmeres zufügt. Täuschen Sie sich nicht: Es handelt sich um eine reale Herausforderung.

Trotz unserer Bemühungen, zu denen auch bemerkenswerte Erfolge in Libyen und die Zerschlagung des Netzwerks von A.Q. Khan zählen, werden Massenvernichtungswaffen und die Fähigkeiten zur Herstellung von Raketen weiter verbreitet. Wir hegen die ehrliche Hoffnung, dass die aktuellen diplomatischen Bestrebungen zur Bewältigung der von Staaten wie Nordkorea und Iran ausgehenden Herausforderungen erfolgreich sein werden. Mit Pjöngjang haben wir einige Fortschritte erzielt, und obwohl sich Teheran der internationalen Gemeinschaft noch immer widersetzt, gibt es Anzeichen dafür, dass der diplomatische Druck Wirkung zeigt.

Wir können den Erfolg allerdings nicht garantieren, und Regierungen tragen die Verantwortung für den Schutz ihrer Bürger. Die Logik des Kalten Krieges einer "gegenseitig zugesicherten Zerstörung" ergibt im heutigen strategischen Umfeld wenig Sinn. Heute streben wir Sicherheit an, die auf mehr basiert als der düsteren Annahme, dass wir die zerstören können, die uns zerstören wollen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Bedrohung durch Raketen aus dem Iran real ist und zunimmt. Zudem handelt es sich nicht nur um eine Bedrohung für die Vereinigten Staaten, sondern auch für Europa und Russland. Wenn wir einige Jahre in die Zukunft blicken, dann zeichnen sich wahrscheinlich weitere Bedrohungen durch Raketen ab.

Mit diesen neuen Realitäten vor Augen entwickeln und stationieren wir ein maßvolles Raketenabwehrsystem. Unser Ziel ist die Aufstellung eines Systems, dass nicht nur die Vereinigten Staaten und ihre Streitkräfte schützen kann, sondern auch Freunde und Bündnispartner wie jene in der transatlantischen Gemeinschaft.

Wir sprechen von der transatlantischen Gemeinschaft, weil wir gelernt haben, dass unsere Sicherheit nicht teilbar ist, dass Amerika nicht sicher ist, wenn seine Bündnispartner nicht sicher sind. Die Vereinigten Staaten können dies nicht im Alleingang tun. Um unsere gemeinsame Sicherheit zu gewährleisten, muss die Verteidigung weit vor dem Auftreten einer vollständig entwickelten Bedrohung aufgebaut sein.

Wir haben uns deshalb mit der Idee an einige unserer Bündnispartner gewandt, begrenzte Raketenabwehrfähigkeiten zu stationieren: Zehn Abfangraketen in Polen sowie eine Radareinrichtung in der Tschechischen Republik. Die Vereinigten Staaten könnten ihr eigenes Staatsgebiet zwar auch ohne diese Fähigkeiten verteidigen, ihre Aufstellung würde sie allerdings befähigen, auch einen Großteil Europas abzudecken und zugleich besseren Schutz für unser eigenes Land zu bieten.

Unsere Strategie besteht darin, unsere Fähigkeit zu verbessern, einen Raketenangriff zu erkennen, uns vor ihm zu schützen und ihn so durch Abschreckung zu verhindern. Raketenabwehrsysteme sind Teil einer zeitgemäßen Abschreckung und der Förderung von Stabilität. Wir haben das vorigen Sommer erlebt, als wir unser System zum ersten Mal als Reaktion auf die Vorbereitungen Nordkoreas zum Abschuss von Raketen aktiviert haben. In diesem Fall ermöglichte es das Raketenabwehrsystem der politischen Führung unseres Landes, aus einem breiteren und flexibleren Spektrum an Reaktionsmöglichkeiten auf einen potenziellen Angriff auszuwählen. Eine effektive Verteidigung verringert auch den Anreiz für Staaten, überhaupt den Besitz von Raketen anzustreben, da ihr militärischer Nutzen gemindert und so unsere Ziele der Nichtverbreitung gefördert werden.

Seit den ersten Programmen und Tests in den Achtziger- und Neunzigerjahren sind wir weit vorangekommen. Seit 2001 hatten wir bei 34 Versuchen 26 erfolgreiche "Hit-to-Kill-Treffer". Und 15 der letzten 16 Flugtests in den letzten beiden Jahren waren erfolgreich. Angesichts dieser Erfolge sind wir zuversichtlich, dass diese Systeme funktionieren werden und dass sie eine pragmatische, dem 21. Jahrhundert angemessene Lösung für eine neue Bedrohung darstellen, der wir uns alle gegenüber sehen.

Das System, das wir uns vorstellen, ist begrenzt, und die Raketen sind nicht mit Gefechtsköpfen ausgestattet. Es zielt auf einen potenziellen Feind mit einem kleinen Arsenal ab, der versucht, unsere Bürger zu erpressen, Chaos zu stiften und unseren gemeinsamen Willen zu brechen.

Die Entwicklung eines solchen eingeschränkten Systems ist realistisch. Die Kritiker dieser Vorgehensweise sollten ebenfalls realistisch sein: Dieses System ist völlig unnütz im Einsatz gegen ein riesiges Arsenal nuklearer und ballistischer Flugkörper wie das russische. Gerede über ein neues "Wettrüsten" mit Russland ist anachronistisch und wirklichkeitsfremd: Die Vereinigten Staaten und Russland reduzieren ihre strategischen nuklearen Gefechtsköpfe im Rahmen des Moskauer Vertrags auf das niedrigste Niveau seit Jahrzehnten.

Das Thema Sicherheit sollte – muss – kooperativ, auf multilateraler Ebene erörtert werden. Deshalb haben die Vereinigten Staaten in den letzen Jahren sowohl mit Russland als auch mit ihren Bündnispartnern ausführlich über ihre neuen Pläne gesprochen. Diese Gespräche fanden unter anderem auch in Moskau, innerhalb der NATO und zuletzt am 19. April im NATO-Russland-Rat statt. Die NATO und Russland haben in den letzten sieben Jahren gute, praktische Zusammenarbeit in Bezug auf die regionale Raketenabwehr geleistet. Wir freuen uns darauf, diese Zusammenarbeit sowohl in der NATO als auch mit Russland fortzusetzen und auszubauen.

Präsident Bush hat gegenüber Präsident Putin erneut unseren Wunsch zur Zusammenarbeit mit Russland im Rahmen der Raketenabwehr zum Ausdruck gebracht, und eine US-Delegation hat am 17. April in Moskau neue Vorschläge für eine potenzielle Partnerschaft mit Russland auf diesem Gebiet unterbreitet. Wir planen beide einen Besuch in Moskau, um unsere Konsultationen mit Russland weiterzuverfolgen und voranzubringen - Verteidigungsminister Gates schloss seinen Besuch am 24. April ab und Außenministerin Rice wird nächsten Monat nach Russland reisen.

Unsere kollektive Verteidigung ist zu wichtig, als dass sie Angstmacherei, Schlagwörtern aus der Vergangenheit oder Versuchen, einen Keil zwischen uns zu treiben, zum Opfer fallen darf. Die NATO spielt bei der Raketenabwehr eine Rolle. Das gilt auch für bilaterale Übereinkommen zwischen den Vereinigten Staaten, ihren Bündnispartnern und hoffentlich auch mit Russland.

Wir sehen uns alle einer sich abzeichnenden gemeinsamen Bedrohung gegenüber, und die Vereinigten Staaten haben eine praktische Lösung vorgeschlagen. Insbesondere Europa sollte – aufgrund seiner eigenen jüngeren Geschichte - wissen, dass die Zeit zur Zusammenarbeit jetzt gekommen ist, nicht erst wenn die Bedrohung Gestalt annimmt.

Originaltext: The West Needs a Defense System That Works; Daily Telegraph, 26. April 2007


The West Needs a Defense System That Works

By Secretary of State Condoleezza Rice and Secretary of Defense Robert Gates

Sixteen years after the end of the Cold War, the transatlantic community and Russia are not adversaries. Indeed, on a number of issues, we are partners. We both face a number of common challenges, among the most threatening is the possibility that a dangerous state will use ballistic missiles, tipped with nuclear or other weapons of mass destruction, to hold our societies hostage – or worse.

Despite our best efforts, including notable successes in Libya and breaking up the A.Q. Khan network, weapons of mass destruction and missile capabilities continue to proliferate. We sincerely hope that the diplomatic efforts now underway will succeed in addressing the challenges we face from states like North Korea and Iran. We have made some progress with Pyongyang, and though Tehran still defies the international community, there are signs that it is feeling the diplomatic pressure.

However, we cannot guarantee success, and governments have a responsibility to defend their people. The logic of Cold War “Mutual Assured Destruction” does not make sense in today’s strategic environment. Today, we seek security based on more than the grim premise that we can destroy those who seek to destroy us. We need to be clear that the missile threat from Iran is real and growing, and it is a threat not just to the United States, but to Europe and Russia as well. Looking a few years ahead, other such missile threats will likely emerge as well.

It is with these new realities in mind that we are developing and deploying modest missile defenses. Our goal is to field systems capable of protecting not only the United States and our forces, but also friends and allies like those in the transatlantic community.

We speak of the transatlantic community because we have learned that our security is not divisible; that if our allies are not secure, America is not secure. America cannot “go it alone.” To ensure our common security, we need defenses in place well before a threat fully emerges.

Accordingly, we have approached some of our allies with the idea of deploying limited missile defense capabilities: 10 interceptor missiles in Poland and a radar installation in the Czech Republic. While the United States can defend its own territory without these additional capabilities, fielding them would enable us to extend coverage to most of Europe while providing improved protection at home.

Our strategy is to strengthen our ability to detect, defend against, and thus deter a missile attack. Missile defenses are part of contemporary deterrence and promote stability, as we saw last summer, when we activated our system for the first time in response to North Korean missile launch preparations. In that case, our missile defense system allowed our national leadership to consider a wider, more flexible range of responses to a potential attack. Effective defenses also reduce incentives for states to acquire missiles in the first place, by undermining their military utility and thus promoting our nonproliferation goals.

We have come a long way from early programs and tests in the 1980s and 90s. Since 2001, we have had 26 successful hit-to-kill intercepts out of 34 attempts. And 15 of the last 16 flight tests have been successful in the past couple of years. Given this trend of success, we are confident that these systems will work, and that they will represent a practical 21st century solution to the new threat we all face.

The system we have in mind is limited, and the missiles have no warhead at all. It is oriented against a potential enemy with a small arsenal, attempting to blackmail our people, sow chaos, and sap our collective will.

Development of such a limited system is realistic. Critics of this approach should also be realistic: This system is of no use against a huge nuclear and ballistic missile arsenal, such as that possessed by Russia. Talk of a new “arms race” with Russia is anachronistic and not grounded in reality: America and Russia under the Treaty of Moscow are reducing our strategic nuclear warheads to levels not seen in decades.

Security should be—must be—discussed in a cooperative, multilateral way. That is why the United States has consulted extensively about our plans over the last few years both with Russia and our Allies, including in Moscow, within NATO, and at the NATO-Russia Council, most recently on April 19. NATO and Russia have had good, practical cooperation on theater missile defense for the past seven years. We look forward to continued and expanded cooperation both in NATO and with Russia.

President Bush has reaffirmed to President Putin our desire to cooperate with Russia on missile defense, and a U.S. delegation offered new proposals for potential partnership with Russia in this area in Moscow on April 17. We both have planned visits to Moscow to follow up and advance our consultations with the Russians – Secretary Gates recently completed a visit on April 24, and Secretary Rice will be visiting next month.

Our collective defense is too important for us to fall prey to scare tactics, slogans from the past, or attempts to drive wedges between us. NATO has a role in missile defense. So do bilateral arrangements between America, our Allies, and hopefully also with Russia.

We all face an emerging common threat, and America has proposed a practical solution. Europe, above all, must know – based on its own modern history - that the time to cooperate is now, not when the threat is imminent.

Featured in the Daily Telegraph (online edition)
April 26, 2007

Website des US--Außenministeriums: http://www.state.gov/secretary/rm/2007/apr/83862.htm



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