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Wann endet ein Krieg?

Referat am Antikriegstag 1. September 2004, DGB-Haus München

Von Peter Strutynski*

Bevor wir uns mit der im Titel dieses Vortrags gestellten Frage "Wann endet ein Krieg?" befassen, ist es angebracht, sich über den Beginn eines Krieges Gedanken zu machen. Ich werde also zunächst ein paar Ausführungen zum Krieg selbst sowie den ihm verwandten Begriffen "Gewalt" und "Frieden" machen. Im zweiten Teil wende ich mich den Kriegsursachen zu, deren Vermeidung uns zugleich zu den Friedensbedingungen hinleiten. Zum Schluss möchte ich auf die Perspektiven des Irak zu sprechen kommen, wobei wir uns darüber im Klaren sein müssen, dass der Krieg dort nicht vorbei ist.

I Frieden, Krieg und Gewalt

Ausnahmsweise möchte ich mit einem lateinischen Zitat beginnen: "Inter bellum et pacem nihil est medium", schrieb der römische Politiker und Staatsrechtler Cicero in seiner "Philippica" und meinte damit, dass Krieg und Frieden zwei exakt voneinander trennbare und unterscheidbare Zustände seien. Dazwischen gebe es nichts Vermittelndes.[1]

Eine solche Abgrenzung orientiert sich am Einsatz von Waffengewalt sowie an den klassischen Akten der Kriegserklärung bzw. des Friedensvertrags. Diese Definitionsbestimmung entspricht zweifellos dem - juristischen - Bedürfnis nach Tatbestandsklarheit. Aus Erfahrung wissen wir aber, dass sich das wirkliche Leben nicht immer daran hält. Auch zur Zeit Ciceros konnte die klare Trennung von Krieg und Frieden nicht die ganze Realität der Staats- und Staatenpraxis erfassen, die zwischen Krieg und Frieden ja noch andere Mittel einsetzte wie militärische Drohungen, Repressalien, Blockaden, Embargos usw.

Häufig haben auch Staaten, die angegriffen wurden, zum Aggressor diplomatische Beziehungen aufrechterhalten, um über (Geheim-)Verhandlungen eine Eskalation der Kampfhandlungen und des Einsatzes von Waffengewalt abzuwenden. Solche Beziehungen waren auch hilfreich zur Beendigung von Kriegen (Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen zwischen dazu berechtigten Abgesandten beider Kriegsparteien. Schwerlich wird man in solchen Fällen von "Frieden" im Krieg sprechen können.

Es war darüber hinaus lange Zeit üblich, den Begriff des Krieges nicht anzuwenden, wenn bei einer Aggression der Angegriffene keinen Widerstand leistete. Nach Carl von Clausewitz etwa beginnt ein Krieg erst mit der Verteidigung. "Wenn wir uns die Entsehung des Krieges philosophisch denken, so entsteht der eigentliche Begriff des Krieges nicht mit dem Angriff, weil dieser nicht ... den Kampf als (vielmehr) die Besitznahme zum absoluten Zweck hat, sondern er entsteht erst mit der Verteidigung, denn diese hat den Kampf zum unmittelbaren Zweck, weil abwehren und kämpfen offenbar eins ist." (Clausewitz, zit. nach EE, S. 187/1)

Mit anderen Worten: Nicht die Waffengewalt ist entscheidend für diesen Kriegsbegriff, sondern die Gegenseitigkeit der Gewaltanwendung. Auch wenn uns das heute absurd vorkommen mag: Lebt diese Vorstellung in manchen Staaten oder Regierungen nicht bis zum heutigen Tag fort? Haben sich die USA nicht geweigert, auf militärische Aggressionen, Interventionen oder Blockaden wie die gegen Libyen, Grenada und Nikaragua in der zweiten Hälfte der 80er Jahre des letzen Jahrhunderts den Begriff des Krieges anzuwenden? Von "Krieg" wurde auch nicht gesprochen im Falle der - in den 90er Jahren fast täglichen - US-amerikanischen und britischen Luftangriffe gegen Ziele im Irak. Und wir erinnern uns noch gut daran, wie beim Beginn der NATO-Luftangriffe auf Jugoslawien im Frühjahr 1999 Bundeskanzler Schröder in einer Regierungserklärung behauptete, dies sei kein Krieg.

Auf der anderen Seite wird häufig Gebrauch gemacht vom Kriegsbegriff in Bezug auf Angelegenheiten, die zwar auf schwerwiegende Konflikte hinweisen, die Grenze zur militärischen Gewaltanwendung aber nicht erreichen. Denken wir etwa an den inflationären Gebrauch von Vokabeln wie "Handelskrieg", "Autokrieg", "Medienkrieg" in den Wirtschaftsteilen und Feuilletons der Tagespresse. "Weltwirtschaftskrieg" lautete gar der Titel eines Bestsellers von Edward N. Luttwak (1994). In all diesen Fällen sollte besser vom Zustand "organisierter Friedlosigkeit" (Dieter Senghaas) gesprochen werden, die zwischen Staaten oder unter Wirtschaftskonkurrenten existiert.

Auch der "Kalte Krieg", der von 1947 bis 1989 zwischen den beiden Hegemonialmächten USA und Sowjetunion und ihren jeweiligen Militärbündnissen herrschte, war ein eigenartiger "Krieg". Eric Hobsbawm greift zur Rechtfertigung dieser Bezeichnung in seiner historischen Darstellung des "kurzen" 20. Jahrhunderts [2] auf eine Stelle im 13. Kapitel des "Leviathan" von Thomas Hobbes hin: "Krieg besteht nicht nur aus Schlachten oder Kampfhandlungen, sondern auch aus einer Zeitspanne, in der der Wille, sich zu bekriegen, ausreichend vorhanden ist." Und nach Hobsbawm war der Kalte Krieg so eine Zeitspanne: Die Menschen wuchsen auf im Schatten einer globalen atomaren Auseinandersetzung, von der man glaubte, dass sie jederzeit ausbrechen könnte. Nur die Angst vor einem gegenseitigen Vernichtungsschlag, so schien es, hinderte beide Seiten daran, einen globalen Krieg anzuzetteln.

Diese Unschärfen und Zweideutigkeiten bei der Verwendung der vermeintlich so klar voneinander zu unterscheidenden Begriffe Krieg und Frieden verweisen uns darauf, dass es offenbar doch Übergangsformen zwischen beiden "Zuständen" gibt, Übergangsformen, die wir möglicherweise mit Hilfe eines weiteren Begriffs zu fassen kriegen: Die Rede ist von der "Gewalt", die uns in einer großen Variationsbreite erscheint.

Gewalt wird von Norman Paech als "Skalenmaßstab auf dem Aggressionskontinuum zwischen Krieg und Frieden" bezeichnet. (EE, 187/2). Es handelt sich also um einen Frieden und Krieg umspannenden, umfassenden Begriff. Die Gewalt reicht vom
  • eindeutigen Einsatz militärischer Waffen
  • über die Anwendung politischer und ökonomischer Druck- und Erpressungsmittel
  • und über die Ausnutzung ökonomischer Abhängigkeiten
  • bis zu dem, was die moderne Friedensforschung als "strukturelle Gewalt" bezeichnet hat.[3]
Indem nun der Friedensbegriff nicht mehr nur an die Überwindung des Krieges, sondern an die Überwindung der "strukturellen Gewalt" gebunden wird, erfährt er eine Erweiterung. Er wird unterschieden nach negativem Frieden (im Sinne von: Abwesenheit von Krieg) und positivem Frieden (im Sinne von: Erreichen sozialer Gerechtigkeit).

Auch wenn diese Unterscheidung heute in der Friedenswissenschaft allgemein akzeptiert ist, heißt das noch lange nicht, dass damit Klarheit geschaffen wäre. Was heißt "positiver Friede", wann ist soziale Ungerechtigkeit wirklich überwunden? In welchem Zusammenhang steht die Forderung nach Herstellung gleicher Lebenschancen und gleichberechtigter politischer Partizipation mit der sozio-ökonomischen Situation einer Gesellschaft bzw. mit den in der Gesellschaft vorhandenen unterschiedlichen Auffassungen von sozialer Gerechtigkeit? Kann Frieden in diesem Sinn in einer Gesellschaft hergestellt werden bei andauernder und sogar noch sich vertiefender struktureller Gewalt im globalen Maßstab?

Trotz dieser Schwierigkeiten hat die Erweiterung des Friedensbegriffs den Blick dafür geschärft, dass staatliche Politik nicht nur dann gut ist, wenn sie einen krieglosen Zustand bewahrt, sondern dass sie auch auf die latenten Gefahren achtet, die den krieglosen Zustand gefährden können. Solche Gefahren erwachsen beispielsweise aus dem Wettrüsten (insbesondere auch auf waffentechnologischem Gebiet), aus der Militarisierung von Gesellschaften, der selbst zerstörerischen Ausbeutung natürlicher Ressourcen, der Umweltzerstörung oder der Explosivität des ungleichen Nord-Süd-Verhältnisses, um nur einige Bereiche zu nennen.

Unter dem Aspekt der Operationalisierbarkeit der Begriffe von Frieden und Krieg bliebt indessen die klassische Unterscheidung nach wie vor tragfähig. Das Tertium Comparationis, der entscheidende Vergleichspunkt sämtlicher Formen und Typen von Kriegen ist und bleibt der Waffeneinsatz.[4] Der bewaffnete Konflikt, egal ob es sich um einen Präventivkrieg, einen Befreiungskrieg, einen Bürgerkrieg, einen Partisanenkrieg, einen Luftkrieg usw. handelt, der bewaffnete Konflikt ist das aliud, das Andere gegenüber dem Frieden.

So gesehen war auch der "Kalte Krieg" ein Friedenszustand, allerdings ein sehr prekärer und stets gefährdeter.[5] Gerade im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen, insbesondere seit der Erfindung der Atomwaffen, hat der negative Friedensbegriff (Frieden als Abwesenheit von Krieg), einen hohen Stellenwert, einen höheren jedenfalls, als ihm von der kritischen Friedensforschung zugewiesen wird. In der Friedensforschung begann man den negativen Friedensbegriff zu kritisieren in einer Zeit, als der negative Friede weitgehend gesichert schien. Das war so unter den Verhältnissen der Blockkonfrontation, als zumindest in der entwickelten Welt eine kriegerische Auseinandersetzung unwahrscheinlich geworden war. Nach der Zunahme militärischer Konflikte in der Welt in den 90er Jahren mit all ihren verheerenden Wirkungen lernt man den negativen Frieden wieder mehr schätzen.

II Kriegsursachen und Friedensbedingungen

Kriege entstehen nicht dadurch, dass sich Menschen nicht mögen oder dass den Menschen ein natürlicher Aggressionstrieb eingeschrieben sei, gegen den man nichts ausrichten könne. Beides mag zu Antipathien, Vorurteilen, Hass und zu gelegentlichen Auseinandersetzungen bis hin zu Gewalttaten führen. Diese sind aber begrenzt und beherrschbar, auch im Zuge der Affektkontrolle, zu der die Menschen in jeder Gesellschaft angehalten werden.

Wenn wir von Krieg sprechen, meinen wir bewaffnete Gewaltauseinandersetzungen auf einer anderen Ebene: Es geht um politisch angeordnete, organisierte, zentral gelenkte militärische oder paramilitärische Gewalt, die gegen einen oder mehrere Gegner eingesetzt wird, um sich zu verteidigen oder aber um bestimmte Interessen durchzusetzen. Aus der Geschichte kennen wir zahlreiche Beispiele dafür, dass Herrscher/Regierungen Kriege angezettelt haben, um fremde Völker zum Zwecke der Versklavung oder Ausbeutung zu unterwerfen, um das eigene Territorium auszudehnen, um bestimmte strategische Punkte (z.B. Verkehrswege) zu besetzen, um sich fremde Rohstoffe zu sichern oder um die Kontrolle über ganze Regionen oder Kontinente auszuüben.

Heute erleben wir einerseits eine Renaissance rein ökonomisch begründeter Gewaltkonflikte, vor allem wenn es um den Zugang zu Diamanten oder andere Edelmetalle oder um Wasser oder Energiequellen (z.B. Erdöl, Erdgas) geht. Andererseits nehmen bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen in Ländern der sog. Dritten Welt zu, die von Privatarmeen (im Auftrag eines Konzerns beispielsweise) oder von rivalisierenden Clans und mafiosen Banden ausgetragen werden. Diese Art von Kriegen ernährt die Krieger unmittelbar: Mit der Kalaschnikow in der Hand sichert man sein Überleben in einer ansonsten völlig verarmten und vernachlässigten Gesellschaft und einem zerfallenden Staat.

Dass die Analyse der Kriegsursachen eine notwendige Voraussetzung zur Friedensgestaltung und zur (künftigen) Kriegsprävention ist, ist keine neue Erkenntnis. Bis zur Aufklärung (also vor gut 250 Jahren) bestand allgemein die Auffassung von der Schicksalhaftigkeit von Kriegen., die in der sündigen Natur des Menschen angelegt sei. Die europäischen Aufklärer verbreiteten einmal die Einsicht in die Schädlichkeit von Kriegen (und zwar Schädlichkeit für das Volk), zum anderen erkannten sie den Einfluss widersprechender Interessen auf die Entscheidung zwischen Krieg und Frieden. Außerdem verurteilten sie die bis dahin üblichen Kabinetts- und Handelskriege (die nur dem absoluten Herrscher bzw. seinem Hofstaat nutzte). Krieg ließen sie nur als "Verteidigungskrieg" gegen äußere Bedrohungen gelten.

In der Kritik an den absolutistischen Kriegen war bereits implizit eine Analyse der Kriegsursachen enthalten. Letztlich waren es ökonomische Motive - Habgier, Bereicherung, Raub -, die die feudalabsolutistischen Regime zu kriegerischen Aggressionen bewegten. Entsprechend wurden erstmals auch Bedingungen formuliert, wie Frieden herzustellen sei. Der französische Aufklärer Holbach schrieb 1769 in seinem berühmten "Essay über die Vorurteile": "Der Friede wird von unserem Adel als ein gewaltsamer Zustand angesehen; der Friede versetzt ihn in eine schimpfliche Untätigkeit, da ihm ein lächerliches Vorurteil einredet, er müsse töten oder überhaupt nichts tun, und es sei seiner nicht würdig, nützlicher Tätigkeit nachzugehen... Um glücklich zu sein, müssen die Völker frei sein, müssen sie nur das Gesetz zu fürchten haben. Nützlich sind die Soldaten dem Vaterland nur dann, wenn sie selbst Bürger und frei geworden, dem Gesetz unterworfen sind und nicht den Launen eines Hofes, der ihr Blut grundlos vergeudet und das Gemeinwohl dafür opfert." (zit. nach. EE, S. 195/1)

Ausgesprochen populär geworden (schon damals) und bis zum heutigen Tag viel gelesen ist die Schrift des deutschen Philosophen Immanuel Kant "Vom ewigen Frieden" (1795).[6] Darin entwickelt er seine Anschauungen von den Voraussetzungen einer friedlichen Entwicklung der Menschheit. Er nennt drei positive Bedingungen:
  1. Das Staatsbürgerrecht muss das einer republikanischen Verfassung sein (d.h. repräsentative Demokratie und Rechtsstaat)
  2. Das Völkerrecht soll auf dem Föderalismus freier Staaten gründen (und nicht etwa eine Art Weltrepublik oder Universalmonarchie darstellen)
  3. Das Weltbürgerrecht solle auf die Bedingungen einer internationalen Hospitalität eingeschränkt sein, also rechtlich gesicherter Gastfreundschaft (damit wäre Kolonialisierung als inhospitables Verhalten verboten).
Fast ebenso interessant wie diese drei Definitivartikel sind die sechs "Präliminarartikel", die Kant seiner Schrift voranstellt. In ihnen werden die negativen Bedingungen eines dauerhaften Friedens beschrieben, also Verhaltensweisen oder Zustände, die beseitigt werden müssen, um den "unendlichen Krieg" zu beseitigen.
Diese Präliminarartikel sind:
  1. Friedensverträge dürfen keine Geheimvorbehalte enthalten (denn sie könnten Anlass für neue Kriege werden).
  2. Ein Staat darf nicht durch Heirat, Kauf oder Schenkung oder Vererbung erworben werden können (das funktioniert ja selbst in Österreich schon lange nicht mehr).
  3. Berufsarmeen müssen beseitigt werden.
  4. Staatsschulden dürfen nicht für Rüstung und Kriegführung gemacht werden. (Aktiv gewendet hieße das für Finanzminister Hans Eichel: Schuldenabbau hat beim Militäretat zu beginnen.)
  5. Kein Staat darf sich in innere Angelegenheiten eines anderen gewalttätig einmischen.
  6. Kein Krieg darf mit Mitteln und Methoden geführt werden, die ein wechselseitiges Vertrauensverhältnis in einem künftigen Frieden unmöglich machen. (d.h. also "faire" Kriegführung, ehrenhafte Behandlung des Gegners usw.)
Das sind alles sehr modern anmutende Prinzipien, die zum Teil erst im Laufe des 20. Jh. in das Völkerrecht (z.B. Art. 2 der UN-Charta) und das Kriegsvölkerrecht (Genfer Konventionen) Eingang gefunden haben.

Das Hauptaugenmerk der friedenswissenschaftlichen Literatur heute, sofern sie sich überhaupt mit dem Thema Krieg und Kriegführung befasst, richtet sich auf die "Ökonomie der Kriege". [7] Dahinter verbirgt sich keine an den "Klassikern" Hilferding, Luxemburg oder Lenin orientierte neue Imperialismustheorie, die den imperialistischen Krieg aus der politischen Zuspitzung der Widersprüche imperialer kapitalistischer Mächte und somit aus den Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Ökonomie erklärt, sondern eine weniger ambitionierte Theorie der Wirkungsmechanismen von vielen kleineren und größeren "Kriegsökonomien".

Im Grunde genommen geht es dabei um die angemessene Beschreibung schon länger beobachteter Phänomene wie
  • die "Privatisierung" des Krieges durch Warlords (die Unternehmer, militärischer Befehlshaber und politischer Führer in einer Person sind),
  • den Zerfall staatlicher Strukturen oder
  • die Selbstversorgung der Kriegsparteien durch Drogen- oder Diamantenhandel, Schutzgelder oder durch Finanzströme aus der Diaspora angemessen beschreiben zu können.
  • Hierzu gehört auch der wichtige Hinweis auf die zunehmende Bedeutung von Kleinwaffen (das alte Schnellfeuergewehr, Maschinenpistolen und andere Handfeuerwaffen, Landminen). Sie sind - zusammen mit der Tendenz zur Barbarisierung der Kampfhandlungen - hauptverantwortlich für die steigenden Zahlen (para-)militärischer und ziviler Opfer in den gegenwärtigen Kriegen der Welt, wirken also stellenweise wie Massenvernichtungsmittel.
Die inneren Funktionsmechanismen solcher Kriegsökonomien sind noch keine Erklärung für ihre Entstehung. Eine ungefähre Vorstellung von den Ursachen der "neuen Kriege" erlaubt die Beobachtung, dass die teilnehmenden Kämpfer vom Krieg unmittelbar profitieren - gleichgültig auf welcher Seite sie sich befinden, denn selten gibt es "Sieger" und "Verlierer" im herkömmlichen Verständnis von Krieg.

Die Teilnahme am Krieg ist für viele junge Männer in Konfliktregionen die einzig möglich erscheinende Existenzgrundlage. "Die moderne reguläre Ökonomie kann die nachwachsende Generationen nicht absorbieren. Daher werden sie in das Niemandsland informeller Ökonomien abgedrängt und stehen als unerschöpfliche Reservearmee (wirtschafts-)kriminellen Akteuren zur Verfügung."[8]

Selbstverständlich stehen auch Warlords und bewaffnete Clans oder Gangs bereit, und die Waffen stehen dank eines nicht versiegenden Zustroms aus den Waffenschmieden der Metropolen fast ubiquitär zur Verfügung. "In einer Position von Perspektivlosigkeit gewinnt allgemein die Verfügung über Gewaltmittel, z.B. ein automatisches Gewehr, eine außerordentliche Attraktivität. Denn mit einem Gewehr in der Hand erfährt man, dass man von anderen Menschen respektiert wird ... Gewalt mittels Kleinwaffen droht allgemein zum Mittel zu werden, sich gegen den gesellschaftlichen Ausschluss zu wehren, dort wo der Staat nicht mehr in der Lage ist, das Monopol legitimer Gewalt zu gewährleisten."

Fast sieht es so aus, als würden sich damit die Ursachen für gegenwärtige und künftige Gewaltkonflikte fundamental von den Ursachen vergangener Kriege unterscheiden. War es früher - vereinfacht gesagt - ein Interessenkomplex aus Kapital, Kabinett und Militär (dem der Segen einer missionierenden Kirche nicht fehlte), der zu Kriegsabenteuern drängte, wenn entsprechende Gewinne in klingender Münze oder in politischer Macht winkten, so sind es heute eher die Armen und Ausgeschlossenen, die über die Beteiligung an der kriminellen Kriegsökonomie wenigstens die Brosamen der regulären Ökonomie zu ergattern suchen. Hauptnutznießer bleiben aber auch hier die Warlords, Clanführer und Stammesfürsten sowie die - meist im Hintergrund bleibenden - Händler und Weißwäscher illegaler Waren, die einen Zugang zur oder einen festen Platz in der regulären Ökonomie besitzen.

Soziale Schieflagen und Verwerfungen sowie der grundlegende Ausschluss von Besitz (in der Dritten Welt: Landbesitz) sind vielleicht die wichtigste, nicht aber die einzige Quelle gewaltsamer Konflikte.

In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts ist eine fast schon inflationäre Anzahl von Arbeiten erschienen, in denen die globalen Probleme und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts beschrieben wurden. Sie stehen alle mehr oder weniger in der Tradition des seinerzeit Aufsehen erregenden Berichts des Club of Rome über die "Grenzen des Wachstums" (1972). Die in diesen teilweise düsteren und endzeitgestimmten Büchern dargestellten Probleme sind ökologischer, ressourcialer, ökonomischer und sozialer Natur. Und es gibt kaum eine Studie, die nicht mit der "Katastrophe" eines dramatischen Bevölkerungswachstums beginnt. Dort finden ganz distanzlos Vokabeln Eingang wie "Bevölkerungsexplosion", "-druck", "-welle" oder "Bevölkerungsbombe". Nur um dem Vorwurf der Eindimensionalität und des Malthusianismus zu entgehen, werden neben dem Bevölkerungswachstum andere Problemdimensionen angeführt wie die ökologische Belastbarkeit der Erde oder die Endlichkeit oder Begrenztheit des Öko-Systems.

So richtig diese Fragestellungen auch sind: Im Zusammenhang mit dem Bevölkerungsproblem geraten sie in ein schiefes Licht. Die Frage heute kann ja nicht lauten: Wie viele Menschen verträgt die Erde?, sondern die Frage muss sein: Wie viel Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung verträgt die Menschheit? Tatsache ist nämlich, dass die Umweltzerstörung nicht in erster Linie von den bevölkerungsreichsten Ländern der Dritten Welt ausgeht, sondern von der verschwenderischen Wirtschaftsweise der hochentwickelten und bevölkerungsarmen Industriestaaten. [9] Erst eine solche Sicht widersteht der suggestiven Wirkung des in bester Absicht geführten Ökologie-Diskurses, der über den Kreislauf von "Bevölkerungswachstum-Umweltzerstörung-Noch mehr Bevölkerungswachstum" allzu schnell zu den aktuellen und künftigen - bewaffneten - Konflikten vorstößt und deren Ursachen eben doch wieder in der "Dritten Welt" und in deren "Kinderreichtum" verortet - eine zutiefst antihumane Sichtweise.

Zu kurz gegriffen schiene es mir aber auch, wenn man Armut, Umweltzerstörung und Ressourcenknappheit als die Kriegsursachen der Zukunft hinstellt. Die armen Teufel in Afrika, die - auf der Flucht vor Dürre, Hungersnot oder Epidemien - hilflos und entkräftet umherirren, zetteln weder Revolten noch Bürgerkriege an. Zu wirklich kriegerischen Konflikten kommt es nur dann, wenn in den Krieg "investiert" wird - Kalaschnikows und G-3-Gewehre müssen auch erst beschafft werden.

In den Krieg investieren rivalisierende Regierungen, Stammesführer oder mächtige Cliquen dann, wenn es für sie um den Zugang zu wichtigen Ressourcen geht, von deren Erhalt oder Erlangen ihre Pfründen und gesellschaftlichen Privilegien abhängen. Der Kampf um den Zugang zu Trinkwasser beispielsweise (ein großes Problem nicht nur im Nahen Osten) oder zu Öl- oder anderen Energiequellen oder zu anderen wertvollen Rohstoffen wird zwischen solchen organisierten "Interessengruppen" ausgetragen. Die Bevölkerungen sind da häufig nur Manövriermasse und Rekrutierungsbasis für bewaffnete Streitkräfte auf der einen oder anderen Seite. Dies ist der Nährboden für das Wirken privater Armeen, die im Dienste ihrer Auftraggeber ohne Rücksicht auf Völkerrecht und Genfer Konvention ihren Job verrichten.[10]

Insofern Transnationale Konzerne oder die Regierungen führender Industriestaaten als klandestine Auftraggeber fungieren, haben wir es heute mit einer veränderten Wirkungsweise kolonialer Eroberungen zu tun. Nicht mehr die territoriale Unterwerfung und Einverleibung fremder Länder, d.h. unterentwickelter Staaten ist das Ziel imperialer Politik, sondern die selektive Kontrolle über lukrative Standorte zur Ausbeutung wichtiger Ressourcen. Das können Ölquellen in Nigeria, das können Diamantenfelder im Kongo sein. Diese Art der "kapitalistischen Landnahme" (Rosa Luxemburg) ist nicht mehr an Kolonien interessiert, sondern an der selektiven Aneignung ihrer verwertbaren "Filetstücke". Diese werden militärisch (mit Privatarmeen) abgesichert, die übrigen Gebiete mit ihren Menschen bleiben außen vor und werden von jeglicher Entwicklung abgekoppelt.

Davon unterscheiden sich scheinbar jene Konflikte, in die sich die westlichen Großmächte mithilfe der NATO direkt einmischen. Hier fließen häufig ökonomische, geostrategische oder politische Motive ineinander, auch wenn etwa die ökonomischen Gründe selten sichtbar werden.

Trifft diese Analyse zu, dann wäre zumindest ein Indiz dafür geliefert, dass die "klassischen" Kriegsursachen oder besser: Motive zum Krieg nicht aus der Welt verschwunden sind. Sie dürften im 21. Jahrhundert dann wieder fröhliche Urständ feiern, wenn sich die ökonomische Konkurrenz um Ressourcen, Märkte und Renditen zwischen den führenden Industrieländern der Triade (Nordamerika/USA, Europa/Deutschland, Ostasien/Japan und/oder China) verschärfen wird. Der Zustand der politisch-militärischen Unipolarität mit den nahezu allmächtigen USA als allein übrig gebliebener Supermacht, der die Bipolarität des Kalten Kriegs abgelöst hat, dürfte also vorübergehender Natur sein und in nicht allzu großer Ferne von einer Tripolarität abgelöst werden. Auf jeden Fall sollte man vor lauter "Kriegsökonomie" im Kleinen, die den Fokus auf die privatisierten Kleinkriege in der Dritten Welt richtet und dabei die Politik der großen Mächte aus den Augen verliert, nicht das Zusammenwirken von Ökonomie und Politik im Großen vergessen.

Das Kriegsgeschehen des 21. Jahrhunderts wird vor allem von den Handlungen und Unterlassungen der führenden Weltmächte bestimmt werden. Insofern also nichts Neues unter der Sonne. Für uns in den Metropolen heißt das aber auch, dass wir die Hauptverantwortung dafür tragen, ob in der Welt Kriege begonnen, geführt oder beendet werden.

III Grundsätze und Probleme der Friedensgestaltung - auch im Irak

Vor dem Hintergrund der veränderten weltpolitischen Lage nach dem Ende der Blockkonfrontation legte der damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali ein bemerkenswertes und viel beachtetes strategisches Konzept zur Friedensgestaltung vor. In der "Agenda für den Frieden" (1992)[11] werden Möglichkeiten der Kriegs- und Konfliktprävention (z.B. durch vorbeugende Diplomatie) sowie eine breite Palette von Frieden schaffenden und Frieden sichernden Maßnahmen (auch militärischen) systematisch dargestellt und entsprechende Mittel zu deren Durchsetzung gefordert.

Zur Zielsetzung der Agenda heißt es programmatisch: "Unser Ziel muss sein,
  • (...) bereit zu sein, bei der Friedenskonsolidierung in ihren verschiedenen Formen behilflich zu sein: durch den Wiederaufbau der Institutionen und Infrastrukturen der von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zerrissenen Nationen und durch die Herstellung von friedlichen, allseits vorteilhaften Beziehungen zwischen den vormals kriegführenden Nationen;
  • und im weitesten Sinne zu versuchen, die tiefsten Konfliktursachen auszuräumen: wirtschaftliche Not, soziale Ungerechtigkeit und politische Unterdrückung. Es zeichnet sich neuerdings mehr und mehr eine allen Nationen und Völkern der Welt gemeinsame ethische Erkenntnis ab, die in völkerrechtlichen Bestimmungen ihren Niederschlag findet, welche ihr Entstehen häufig der Tätigkeit der Vereinten Nationen verdanken."
Auch die zwei Jahre nach der "Agenda für den Frieden" erschienene "Agenda für Entwicklung"[12] thematisiert die ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen für eine gedeihliche Entwicklung der Staaten in der sog. Dritten Welt. Dem UNO-Dokument liegt ein umfassender Entwicklungsbegriff zu Grunde, der verschiedene Dimensionen einschließt:
  1. Frieden (sozusagen als Grundlage für alles),
  2. wirtschaftliches Wachstum, dessen Früchte der gesellschaftlichen Wohlfahrt und dem technologischen Fortschritt zugute kommen sollen,
  3. Umwelt- und Ressourcenschutz,
  4. soziale Gerechtigkeit,
  5. Demokratie, Partizipation und "gute Staatsführung".
Diese fünf Dimensionen sind untrennbar miteinander verbunden und können demnach auch nur durch eine Entwicklungspolitik "aus einem Guss" bearbeitet werden:
"Jede einzelne Dimension der Entwicklung ist für den Erfolg der jeweils anderen unerlässlich und von entscheidender Bedeutung für das zentrale Konzept des auf den Menschen ausgerichteten Fortschritts. Eine erfolgreiche Entwicklung ist nicht möglich, wenn eine Dimension für sich allein verfolgt wird, und keine dieser Dimensionen kann aus dem Entwicklungsprozess ausgeschlossen werden. Ohne Frieden kann die menschliche Tatkraft auf lange Sicht nicht produktiv eingesetzt werden. Ohne Wirtschaftswachstum wird es an den Ressourcen fehlen, die notwendig sind, um die Probleme anzupacken. Ohne eine gesunde Umwelt wird die Produktivität die Grundlagen für den menschlichen Fortschritt verzehren. Ohne soziale Gerechtigkeit werden die Ungleichheiten alle noch so großen Anstrengungen zur Herbeiführung positiver Veränderungen zunichte machen. Ohne politische Mitbestimmung in Freiheit werden die Menschen ihr eigenes und ihr gemeinsames Schicksal nicht mitgestalten können." ("Agenda für Entwicklung", Ziffer 211)

Es ist klar, dass die in den beiden zentralen Dokumenten der Vereinten Nationen der 90er Jahre entworfenen Strategien für Frieden und Entwicklung auf alle unterentwickelten Gesellschaften und Konfliktregionen zutreffen, gleichgültig ab es sich um Vorkriegs- oder Nachkriegssituationen handelt. Dies sollte auch den Regierenden in den USA bekannt sein oder bekannt gemacht werden. Neben der Diskussion um die Kriegslüge "irakische Massenvernichtungswaffen" gab es im vergangenen Jahr (2003) eine zweite große Debatte in den USA. In ihr ging es darum, dass die militärische Supermacht USA zwar Kriege führen und militärisch gewinnen kann, dass sie aber über keine oder nur wenige Mittel verfügt, eine stabile zivile Nachkriegsordnung zu schaffen. Am 25. Juni 2003 veröffentlichte der sehr einflussreiche Council of Foreign Relations einen Bericht über den Nachkriegs-Irak. Prominente Autoren: der ehemalige UN-Botschafter Thomas Pickering und der ehemalige Verteidigungsminister John Schlesinger (der in der Zwischenzeit verstorben ist). Ihr wichtigstes Ergebnis:[13]
  1. Die USA hätten keine "klare und deutliche Vorstellung zur Gestaltung der politischen Landschaft" nach dem Fall des Saddam-Regimes gehabt;
  2. Da dieser Krieg kein Einzelfall sei (!), müsse "Friedenssicherung" zu einer "nationalen Kompetenz" werden.
Die Ironie der Geschichte ist nur, dass auf Geheiß von US-Präsident Bush am 30. September 2003 das zehn Jahre zuvor gegründete US Army Peacekeeping Institute für immer seine Pforten schließen musste.

Aber es gibt noch andere Institute, die sich mit Konflikten und ihrer Bearbeitung befassen, z.B. das regierungsabhängige US Institute of Peace. Im April d.J. (2004) brachte es eine Studie [14] heraus, deren Ergebnis eine schallende Ohrfeige für die US-Administration darstellt. Sie zeigt nämlich, dass die US-Streitkräfte und die US-Zivilverwaltung im Irak nichts aus der bisherigen Kritik gelernt hat. Eine zentrale Aussage der Studie geht dahin, dass die militärischen Kampfeinheiten der USA weder ausgebildet noch ausgerüstet seien für die Kontrolle von Aufständen und für die wichtige Nachkriegs-Aufgabe Recht durchzusetzen. Als Ergebnis dieses Defizits entsteht eine "öffentliche Sicherheitslücke", die von Plünderern, Kriminellen, Extremisten, Paramilitärs und Terroristen ausgenutzt werden könne. Weiter heißt es darin: "Ein Grund für diese Sicherheitslücke ist das totale Fehlen jeglicher ziviler Kapazitäten der USA, um organisierte Polizeieinheiten mit besonderer Ausrüstung einzusetzen, die nötig wären, um zentrale öffentliche Ordnungsfunktionen zu übernehmen (…)." (Übersetzung: Pst)

Diese Kritik (die im Übrigen nicht den Irakkrieg kritisiert, sondern darauf abzielt, mehr Mittel für die Ausbildung von Polizei- und Justizkräften für Nachkriegs-Schauplätze einzufordern) ist aber wahrscheinlich noch schmeichelhaft angesichts des Fiaskos, das die US-Besatzung im Irak insgesamt angerichtet hat.

Die US-Administration hat mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte seit der offiziellen Erklärung, der Irakkrieg sei beendet - das war am 1. Mai letzten Jahres. [15] Wenn ich im Folgenden zehn der schwerwiegendsten "Fehler" der Besatzer aufzähle, muss mitgedacht werden, dass das Hauptverbrechen natürlich darin bestand, diesen völkerrechtswidrigen Krieg überhaupt angezettelt zu haben:
  1. Zulassung von Plünderungen großen Stils (viele Iraker ahmten anfänglich nur nach, was GIs mit der Zerstörung und Plünderung der Präsidentenpaläste vorgemacht hat).
  2. Auswahl der falschen irakischen Gefolgsleute, indem man ausschließlich auf bestimmte Kreise im Exil setzte, die man selbst jahrelang hochgepäppelt hatte (bestes Beispiel: Ahmed Chalabi). [16]
  3. Ethnisierung bzw. Konfessionalisierung der irakischen Gesellschaft (Sunniten/Schiiten).
  4. Bevorzugung bestimmter, der US-Regierung nahe stehender Konzerne, indem man ihnen die lukrativsten Aufträge zuspielte.
  5. Der sichere Zugriff auf die wichtigsten ökonomischen Ressourcen des Landes: So wurde am Ende des offiziellen Teils des Krieges z.B. das Ölministerium geschützt, während man ringsum die Krankenhäuser und Museen sich selbst überließ.
  6. Der offenbar von oben gebilligte, wenn nicht sogar angeordnete Einsatz von Foltermethoden in US-Gefangenenlagern. Die systematische Demütigung und Entwürdigung irakischer Gefangener mochte vielleicht deren Willen brechen, brachte aber die ganze arabische Welt gegen die Peiniger auf.
  7. Der Einsatz unverhältnismäßiger Kampfmittel in der sog. Nachkriegszeit (z.B. Luftangriffe auf Falludscha, Nadschaf und andere Städte).
  8. Die weitere Inanspruchnahme der obersten militärischen Gewalt, auch nachdem die Macht an eine - allerdings wieder handverlesene - irakischen Übergangsregierung übertragen wurde.
  9. Die Verweigerung wirksamer Mitbestimmung der Internationalen Gemeinschaft, sprich der Vereinten Nationen (vgl. die Resolutionen 1483 vom Mai 2003, 1511 vom Oktober 2003 und 1546 vom Juni 2004) [17]
  10. Die der irakischen Wirtschaft verordnete Schocktherapie, die aus einer schnellen Privatisierung staatlicher Vermögenswerte und in der abrupten Liberalisierung von Handel, Kapitalfluss und Preisgestaltung bestand. Diese Meinung vertrat der angesehene Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Joseph Stieglitz in einer ungewohnt scharfen Kritik im März 2004.[18]
Diese sich häufenden schwerwiegenden "Fehler" [19] der USA sind eigentlich schwer zu erklären, verfügen doch die USA über die weltweit größte Erfahrung im Umgang mit besiegten Regimen oder Staatsvölkern. Keine andere Macht hat in den letzten 50 Jahren so viele Kriege geführt und so viele Länder angegriffen wie die USA.

Häufig waren diese Interventionen damit begründet worden, den angegriffenen Ländern und ihren Bewohnern "Demokratie" bringen zu wollen. Zwei US-amerikanische Politikwissenschaftler an der New York University haben Anfang d. J. eine Studie veröffentlicht, in der nun der Nachweis erbracht wird, dass der Export der Demokratie in keinem einzigen Fall wirklich erfolgreich gewesen war.[20] Als Grund nennen die Forscher: Die USA seien nicht in erster Linie an Demokratie interessiert, sondern daran, dass der Staat, in den interveniert wurde, eine Politik verfolgen sollte, die den Interessen der USA entspricht. ("...the United States … has been motivated less by a desire to establish democracy or reduce human suffering than to alter some aspect of the target state's policy.") Mit der Inthronisation des US-Vertrauten Hamid Karsai zum afghanischen Präsidenten - dessen reale Vollmachten aber kaum über die eines Oberbürgermeisters von Kabul hinausgehen - wurde dieses Ziel zweifellos erreicht, das "Demokratie"-Ziel indessen bislang verfehlt.

Der Ausgang im Irak ist noch offen. Eines lehrt aber die Erfahrung bereits jetzt: Demokratie und Frieden können in einem besetzten Land nicht gedeihen, sie können vor allem nicht mittels eines Angriffskrieges dem überfallenen Land "gebracht" werden. Kurz: Die USA können Kriege militärisch gewinnen, sie können aber keinen Frieden gestalten. Anderthalb Jahre nach der Intervention in den Irak sind die Besatzungsmächte isolierter als je zuvor. Die wirkliche Autorität im Land liegt weder bei den Besatzungstruppen noch bei der von US-Regierung und UNO zusammengeflickten irakischen Interimsregierung. Das seit Monaten herrschende Chaos und Blutvergießen kann nur durch eine völlig neue Politik gegenüber dem Irak beendet werden. Dazu gehört neben dem raschen Abzug aller Besatzungstruppen die vollständige Rückgabe der Souveränität an den Irak, die baldige Durchführung freier, allgemeiner und gleicher Wahlen (unter Aufsicht der UN), der Beginn von Reparationszahlungen der Kriegsallianz (in erster Linie der USA und Großbritanniens) an den Irak. Das Friedens- und Entmilitarisierungsabkommen für die beiden Städte Nadschaf und Kufa zwischen den beiden schiitischen Geistlichen, dem Großajatollah Ali el Sistani und dem Prediger Muktada al Sadr, zeige, wie es im Irak insgesamt gehen könnte: "Die Moscheen den Gläubigen - Irak den Irakern - die Besatzung nach Hause!" [21] Das alles ist noch keine Garantie für einen baldigen Frieden. Es wäre aber ein Schritt dahin.

Fußnoten
  1. Im Folgenden beziehe ich mich vor allem auf das Kapitel "Frieden und Krieg" in der "Europäischen Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften", hrsg. von Hans Jörg Sandkühler,, Band 2, Hamburg 1990, S. 186/2-205/2 (Autor: Norman Paech).
  2. Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, hier S. 285 ff
  3. Der Begriff wurde von Johan Galtung geprägt. Im Unterschied zur personalen Gewalt umfasst die "strukturelle Gewalt" verschiedene Formen sozialer Ungerechtigkeit, Abhängigkeit und Ausbeutung. "Gewalttätig" sind diese Strukturen, weil sie dem Menschen ein ihm mögliches Niveau seiner körperlichen und geistigen Verwirklichung verweigern.
  4. Die Arbeitsgruppe Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität Hamburg definiert Krieg noch exakter. 1) Es muss sich um eine mit Waffengewalt geführte Auseinandersetzung zwischen zwei (oder mehr) Gruppen handeln, von denen mindestens eine als reguläre staatliche Streitmacht auftritt. 2. Die Tätigkeiten dieser Gruppen müssen organisiert und zentral gelenkt sein. 3. Die Auseinandersetzungen müssen eine gewisse "Kontinuität" aufweisen. Trifft eine der genannten drei Bedingungen nicht zu, so handelt es sich um einen "bewaffneten Konflikt". Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI verlangt darüber hinaus von einem richtigen Krieg mindestens 1.000 Tote.
  5. Eric Hobsbawm, a.a.O., behauptet dagegen, dass in der Zeit des Kalten Kriegs "objektiv" keine Kriegsgefahr bestanden hätte.
  6. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Königsberg 1795. Dokumentiert auf der Homepage der AG Friedensforschung: /fb5/frieden/themen/Theorie/kant.html
  7. Vgl. zum Folgenden Peter Strutynski, Nichts Neues unter der Sonne? - Die Kriege des 21. Jahrhunderts. In: Forum Wissenschaft, 4/2001, S. 59-63.
  8. Peter Lock, Stichpunkte zur Ökonomie heutiger Kriege. In: Ralph-M. Luedtke, Peter Strutynski (Hrsg.), Dem Krieg widerstehen. Beiträge zur Zivilisierung der Politik, Kassel 2001, S. 28-34, hier: S. 33.
  9. Ralf E. Ulrich, Globale Bevölkerungsdynamik. In: Peter J. Opitz (Hrsg.), Weltprobleme im 21. Jahrhundert, München 2001, S. 21-51, hier: S. 38.
  10. Vgl. hierzu Werner Ruf , Zur Privatisierung von Gewalt. In: P. Strutynski, R. M. Luedtke (Hrsg.), Pazifismus, Politik und Widerstand. Analysen und Strategien der Friedensbewegung, Kassel 1999, S. 16-27
  11. Die "Agenda für den Frieden" ist als Volltext auf der Homepage der AG Friedensforschung an der Uni Kassel abzurufen unter: /fb5/frieden/themen/UNO/agenda.html.
  12. Die "Agenda für Entwicklung" " ist als Volltext auf der Homepage der AG Friedensforschung an der Uni Kassel abzurufen unter: /fb5/frieden/themen/UNO/agenda-entw.html.
  13. Iraq: The Day After. Report of an Independent Task Force Sponsored by the Council on Foreign Relations, 2003
  14. US Institute of Peace, Building Civilian Capacity for U.S. Stability Operations. The Rule of Law Component. SPECIAL REPORT 118, April 2004. Im Internet: http://www.usip.org/pubs/specialreports/sr118.html.
  15. US-Präsident Bush verkündete das Ende der Hauptkampfhandlungen in seiner berühmten Rede auf dem Flugzeugträger "USS Abraham Lincoln". Die Rede ist hier dokumentiert: /fb5/frieden/regionen/Irak/bush-abrahamlincoln.html.
  16. "Die Wahrheit über Ahmed Chalabi / The Truth about Ahmed Chalabi". Im Internet: /fb5/frieden/regionen/Irak/chalabi.html
  17. Alle drei Resolutionen finden sich auf der Homepage der AG Friedensforschung:
    1483 (2003): /fb5/frieden/regionen/Irak/un-sr-res-1483.html
    1511 (2003): /fb5/frieden/regionen/Irak/un-sr-res-1511-dt.html
    1546 (2004): /fb5/frieden/regionen/Irak/un-sr-res-1546.html
  18. Joseph Stiglitz, Iraks nächster Schock - Schocktherapie / Iraq's Next Shock Will be Shock Therapy. Im Internet: /fb5/frieden/regionen/Irak/stiglitz.html
  19. In der Diskussion des Referats wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass auch ein anderes Besatzungsregime, das diese "Fehler" möglicherweise vermieden hätte, zu Krieg und Besatzung nicht legitimiert gewesen wäre.
  20. George W. Downs, Bruce Bueno de Mesquita, Gun-Barrel Democracy Has Failed Time and Again. In: Los Angeles Times, 4. Februar 2004. Der Artikel und eine deutsche Zusammenfassung sind auf der Homepage der AG Friedensforschung dokumentiert: /fb5/frieden/regionen/USA/interventionismus.html
  21. So formulierte es eine Presseerklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag anlässlich des Antikriegstages 2004. In der Diskussion des Referats wurde die Parole "Irak den Irakern" kritisiert. Man stelle sich nur einmal vor, wie diese Parole, auf Deutschland übertragen, klingen würde: "Deutschland den Deutschen"! In der Tat eine Unmöglichkeit. "Irak den Irakern" hat indessen keinen völkischen Hintergrund, sondern drückt lediglich den Wunsch aus, dass die Einwohner des Irak über ihr Land, seine Reichtümer und seine Zukunft eigenverantwortlich entscheiden dürfen.
Peter Strutynski, AG Friedensforschung an der Universität Kassel, Sprecher des "Bundesausschusses Friedensratschlag".
Das Referat wurde auf einer Veranstaltung mit dem Titel "Wann endet ein Krieg?" der DGB-Jugend am 1. September 2004 (DGB-Haus München) gehalten.



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