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Antikriegstag auf dem "Russenfriedhof"

"Blumen für Stukenbrock" ruft zum Gedenken an sowjetische Kriegsgefangene

Von Hans Canjé *

Die Wehrmacht hat fürchterliche Verbrechen in der Sowjetunion zu verantworten. Millionen Rotarmisten sind in deutscher Kriegsgefangenschaft umgekommen. In einem ehemaligen Lager in Nordrhein-Westfalen wird jährlich an sie erinnert.

»STALAG 362 VI/K«, das war im faschistischen »Ordnungssystem« die amtliche Bezeichnung für das größte in Deutschland eingerichtete Lager für sowjetische Kriegsgefangene in Stukenbrock nahe Paderborn. Bis zum 1. März 1945 haben insgesamt 307 679 Rotarmisten das Lager durchlaufen. Auf dem nahe gelegenen »Russenfriedhof« sind in 36 Massengräbern von je 110 Meter Länge rund 65 000 an den Folgen von Hunger, Krankheiten oder der Fronarbeit vornehmlich im Bergbau umgekommene sowjetischen Gefangenen begraben.

In den Nachkriegsjahren verfielen die Gräber, wie die öffentliche Erinnerung an die 3,5 Millionen in deutscher Kriegsgefangenschaft ums Leben gekommenen sowjetischen Soldaten – nach den europäischen Juden die größte Opfergruppe des deutschen Faschismus. »Dies ist ein Ort, an dem man sich erinnern muss, wenn der Nazismus einmal zur Rechenschaft gezogen wird«, schrieb der Reporter John M. Mecklin am 6. April 1945, als Truppen der US-amerikanischen Armee das Lager erreichten und noch 9000 Gefangene befreiten, die unter erbärmlichsten Umständen, dem Tod nahe, dahinvegetierten.

Es ist das Verdienst vor allem des Mitte der 1960er Jahre von Kommunisten, Sozialdemokraten und Christen gegründeten Arbeitskreises »Blumen für Stukenbrock«, dass die Erinnerung an das Kriegsgefangenlager und das damit verbunden Schicksal der zu Tode Gequälten wieder in das öffentliche Gedächtnis geholt wurde. Ende der 1940er Jahre als – wie es in einer Publikation des Landschaftsverbandes Lippe- Westfalen heißt – der »Antibolschewismus der Nationalsozialisten relativ nahtlos in den Antikommunismus des Kalten Krieges« überging, war das nicht »gesellschaftsfähig«. Die Initiatoren, die jährlich zum Antikriegstag zur Mahn- und Gedenkveranstaltung in Stukenbrock aufriefen, galten lange als »fünfte Kolonne Moskaus«.

Das hat sich im Laufe der Jahre geändert. Im vergangenen Jahr, zum 45 Antikriegstag in Stukenbrock, hielt der DGB-Vorsitzende Michael Sommer die Gedenkrede. Am Samstag, so heißt es im Aufruf des Arbeitskreises zum diesjährigen Gedenken, will man zum sowjetischen Soldatenfriedhof kommen, »weil wir nicht vergessen wollen, was dort für Verbrechen an Menschen in der Zeit von 1941 bis 1945 geschahen«. Nach einer Friedhofsführung und Kranzniederlegung werden Silvio Peritore vom Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma und der Sprecher des Bundesausschusses Kasseler Friedensratschlag, Lühr Henken, Reden halten.

Die Veranstaltung findet in einer für das auf dem ehemaligen Lagergelände errichten Dokumentationsstätte Stalag 326 VI/K angespannten Situation statt. Wie ein Sprecher des Fördervereins sagte, muss sie, »wenn sich nichts ändert, in einem halben Jahr dicht machen«. Der Grund: Die ehrenamtlich Mitarbeiter sehen sich nicht mehr in der Lage, ihr Engagement fortzusetzen. Die stetig steigende Nachfrage beispielsweise von Schulklassen erfordere Kapazitäten, »die wir alleine nicht schaffen können«.

»Letztlich schwebe das Damoklesschwert einer kompletten Schließung, zumindest aber einer Teilöffnung« über der Erinnerungsstätte, heißt es in einem Bericht der örtlichen Presse über eine außerordentliche Versammlung des Fördervereins. Nach den Worten eines CDU-Landtagsabgeordneten droht damit »die bedeutsame und aufopferungsvolle Arbeit von zwei Jahrzehnten im sprichwörtlichen Sennesand zu verlaufen«. Deshalb wurde die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft, in einem Brief aufgefordert, sich für eine dauerhafte finanzielle Unterstützung der Einrichtung einzusetzen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 7. September 2013


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