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Spekulation mit dem Hunger

Durch strenge Regulierung ließen sich schädliche Geschäfte mit Getreide unterbinden

Von Uwe Kerkow *

Spekulationen sind nicht die Ursache des jüngsten globalen Preisanstieges bei Getreide – doch sie sorgen für eine gefährliche Verschärfung der Lage.

»Hunger macht reich«, stellte anlässlich des heftigen Preisanstiegs bei Getreide vor zwei Jahren ein Nachrichtenmagazin fest. 2008 war der Preis für Weizen trotz hervorragender Ernten von 150 auf über 400 US-Dollar die Tonne geklettert. Die Zahl der Hungernden stieg von 850 Millionen auf über eine Milliarde Menschen. Doch wer sein Geld rechtzeitig in Warentermingeschäfte mit Agrarrohstoffen gesteckt hatte, konnte prächtig verdienen: Der Preis für Reis etwa schoss kurzfristig regelrecht durch die Decke. Zeitweise mussten über 800 Dollar die Tonne gezahlt werden. In vielen Ländern Afrikas und Asiens brachen Hungerrevolten los.

Getreidevorräte sind stark zurückgegangen

Nun ist es wieder so weit: Die Brände in Russland, schwächere Ernten in Kasachstan, der Ukraine und mit Sicherheit auch in Pakistan sowie eine insgesamt durch Fleischkonsum und Biosprit angeheizte Nachfrage erinnern die Spekulanten daran, dass das weltweite Nahrungsmittelangebot begrenzt ist. Die UN-Organisation für Landwirtschaft und Ernährung senkte ihre Prognose für die Welt-Weizenproduktion Ende August für 2010 auf etwa 2240 Millionen Tonnen. Das sind 40 Millionen Tonnen weniger, als noch im Juni vermutet wurde. Die Vorräte an Weizen, Mais und Sojabohnen sind weltweit auf den niedrigsten Stand seit 24 Jahren abgesackt. Weizen ist um die Hälfte teurer als letztes Jahr und auch die Gerstepreise sind in die Höhe geschnellt. Die Preise für Sojabohnen und Reis haben erst gar nicht mehr auf ihr ursprüngliches Niveau zurückgefunden. In Mosambik gibt es bereits die erste Brotrevolte der aktuellen Preisrunde. 2008 hatte Thailand einen Exportstopp für Reis verhängt, was die Lage weiter verschärfte. Jetzt geht Russland bei Weizen den gleichen Weg und Indien hortet Getreide in großem Stil.

Angesichts dieser Entwicklung nehmen die Sorgen um die Welternährung zu – aber auch die Kritik an Banken und Investmentgesellschaften, die sich auf Kosten der Notleidenden bereichern. »Die hohen Preise treffen vor allem die Ärmsten in den Entwicklungsländern, die bis zu 80 Prozent ihrer Einkommen für Nahrung ausgeben«, gibt Germanwatch-Vorstand Klemens van de Sand zu bedenken. Der Deutsche Gewerkschaftsbund geht einen Schritt weiter und hält fest: »Steigende Preise können sich ärmere Weltregionen, aber auch ärmere Schichten in den Industrieländern nicht leisten. Hungersnöte und Armut werden wieder folgen. Politische Unruhen sind jetzt schon vorprogrammiert.« Die Gewerkschafter schließen mit einem Appell: »Spekulationen sind an sich schlimm genug, aber mit Lebensmitteln ethisch und moralisch unerträglich. Die Politik ist gefordert, die Spekulationen mit Rohstoff- und Lebensmittel-Termingeschäften endlich zu verbieten.«

So berechtigt die Kritik ist – noch fehlen Vorschläge, wie man des Problems Herr werden kann. Bisher trat nur der Bonner Agrarökonomen Joachim von Braun an die Öffentlichkeit mit seiner Idee einer »virtuellen Getreidereserve«: eines Fonds im Volumen von 20 bis 30 Milliarden Dollar, der in Krisensituationen einspringen müsse. Mit dem Geld könne man etwa die Hälfte der international gehandelten Menge von Weizen, Reis und Mais kaufen, schätzt von Braun. Der Fonds würde so zu einer »Zentralbank« für Getreide.

Doch der Plan hat Schwächen: Zum einen bedarf er internationaler Koordination und die zusätzliche Nachfrage nach Kontrakten würde die Preise noch treiben. Zum anderen befanden sich 2009 Papiere im Wert von 4400 Milliarden Dollar im Umlauf. Zum Vergleich: Der Wert der weltweiten Weizenernte, belief sich auf etwa 125 Milliarden Dollar, keine drei Prozent der Kontraktsumme.

Reale Gegenwerte der Ernte

Deshalb hier einige Vorschläge: In der EU und in den USA neigt man derzeit dazu, Positionsobergrenzen festzulegen – von einem bestimmten Papier darf nur eine begrenzte Menge in Umlauf gebracht werden. Solche Limits müssen sich am tatsächlichen Angebot orientieren und den Märkten Volumina diktieren, die an die realen Gegenwerte der Ernten angepasst sind. Aber sie müssen auch den Liquiditätsbedarf zwischen Ernte und Verbrauch des Getreides berücksichtigen. Für die Mühlen und die Lebensmittelindustrie sind Warentermingeschäfte nämlich ein wichtiges Hilfsmittel, um sich gegen überraschende Preis- und Währungsschwankungen abzusichern und die Kosten für ihre Rohstoffe im Voraus kalkulieren zu können. Als Ergänzung sind spezielle Steuern auf Geschäfte mit Agrarprodukten in Betracht zu ziehen. Die könnten am einfachsten umsatzbezogen (wie etwa die Tobin-Steuer) erhoben werden. Und auch Gewinne könnten natürlich (zusätzlich) besteuert werden.

Darüber hinaus bietet das Ordnungsrecht interessante Möglichkeiten. Um Spekulation zu begrenzen, könnte man den Kreis der Marktteilnehmer auf ein vernünftiges Maß zurückführen. Zumindest sind Vorschriften zur Eigenkapitaldeckung wichtig. Auch müssten Investoren verpflichtet werden, einen bestimmten Prozentsatz ihrer Kontrakte physisch – als eingelagertes Getreide – zur Verfügung stellen zu können. Hedgefonds, die solchen Regeln nicht unterworfen sind, haben in Nahrungsmittelmärkten nichts zu suchen.

Schließlich spricht nichts dagegen, die staatlichen Vorräte (strategische Nahrungsmittelreserve) für die Preisstabilisierung einzusetzen. In Phasen stark steigender Preise gilt es zu verkaufen. Wenn das Angebot dagegen reichlich ist, kann eingekauft werden. Bei zehnjährigen Lagerzeiten – wie etwa in Deutschland für Weizen üblich – dürfte dies kein Problem sein. Dass es sich hierbei nicht um Hirngespinste handelt, zeigen jüngste Forderungen der Lebensmittelindustrie an die EU, die Notlager für Gerste freizugeben. Als Argument wurden Bedenken bei der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Viehzucht ins Feld geführt. Übrigens gilt: Wenn die Spekulanten wissen, dass die Staaten nötigenfalls intervenieren, lässt die Gier von ganz alleine nach, weil die exorbitanten Profite ausbleiben würden.

Auswirkungen auch auf die Fleisch- und Milchpreise

Wer glaubt, es geht hier nur um Entwicklungsländer, irrt. Steigende Futtermittelpreise wirken sich auch auf die Fleisch- und Milchpreise aus. Denn unsere Nutztiere werden überwiegend mit Getreide und Soja ernährt. Die globalen Fleischpreise sind denn mittlerweile auch auf einem 20-Jahres-Hoch angelangt, was früher oder später auch die VerbraucherInnen in den Industrienationen zu spüren bekommen werden.

Mit den beschriebenen Maßnahmen ließen sich Spekulationen, nicht aber die grundlegenden Faktoren (steigende Nachfrage und Energiepreise) für die kletternden Nahrungsmittelpreise in den Griff kriegen. Hier helfen nur Investitionen in die Landwirtschaft. Und um diese auszulösen, sind moderat steigende, aber verlässlich höhere Preise der wichtigste Anreiz.

Lexikon

Futures sind an Börsen gehandelte Terminkontrakte. Der Verkäufer des Kontraktes verpflichtet sich, eine bestimmte Menge – etwa einer Rohware – zu einem bestimmten Termin für einen festgelegten Preis zu liefern. Solche Verträge dienten ursprünglich Lieferanten und Verarbeitern der Rohware dazu, sich gegen Preisschwankungen abzusichern. Heute wird bei den allermeisten Geschäften am Ende gar keine Ware geliefert, sondern die Differenz zwischen dem vereinbarten Futures-Preis und dem Marktwert der Rohware mit Geld ausgeglichen. Da die Futures handelbar sind, für sie nur ein Bruchteil des Warengeschäftes bezahlt werden muss, sind sie für Hedgefonds ein ideales Spekulationsobjekt. Zumal jede Änderung des Marktpreises der Rohware sich um ein Vielfaches im Preis der Futures niederschlägt (Hebelwirkung). Umgekehrt kann auch der starke Anstieg des Wertes der Futures die Marktpreise der Rohware nach oben treiben – ohne dass es dafür einen realen Grund, etwa Ernteausfälle, gibt. ND



* Aus: Neues Deutschland, 8. September 2010


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