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Atomwaffeneinsatz ist völkerrechtswidrig

Zehn Jahre IGH-Rechtsgutachten gegen Kernwaffen

Von Wolfgang Kötter *

Werden demnächst in militärischen Konflikten auch Kernwaffen eingesetzt? Äußerungen führender Politiker und Militärs der Nuklearmächte wecken schlimmste Befürchtungen. Doch die Anwendung von Atomwaffen ist generell völkerrechtswidrig. Das hat der Internationale Gerichtshof (IGH) bereits vor 10 Jahren, am 8. Juli 1996, unmissverständlich festgestellt (siehe Infokasten).

Die Richter in Den Haag bestätigen in ihrem Gutachten ausdrücklich, dass auch Nuklearwaffen nicht außerhalb des Völkerrechts stehen. Gleich mehrere internationale Verträge sind in diesem Zusammenhang relevant. So beschränken zum Beispiel die Genfer Konventionen zum Schutz der Zivilbevölkerung die Anwendung von Waffen. Verboten sind Methoden der Kriegführung, die nicht zwischen militärischen Zielen, kämpfender Truppe und der Zivilbevölkerung unterscheiden. Ächtungen enthalten auch multilaterale Abrüstungsabkommen. Die Umweltkonvention verbietet militärische Naturveränderungen, und das Genfer Protokoll von 1925 ächtet die Luftvergiftung mit chemischen Substanzen. Die Konvention über inhumane Waffen untersagt unterschiedslos wirkende oder besonders grausame Kampfmittel. Grundsätzlich gilt die Angemessenheit der Waffenanwendung gegenüber den zu erwartenden zivilen Opfern. Alle diese Rechtsgrundsätze würde ein Einsatz von Atomwaffen fundamental verletzen. Darüber hinaus verpflichten der Teststoppvertrag und der Kernwaffensperrvertrag zur nuklearen Abrüstung. Nicht zuletzt ist das in der UNO-Charta formulierte Gewaltverbot universell und schließt somit auch die Nuklearwaffen ein.

Die Idee, ein Gutachten des IGH einzuholen, war von der "Internationalen Vereinigung Rechtsanwälte gegen Atomwaffen" (IALANA) bereits im Jahre 1988 geboren worden. Ihr schlossen sich die Vereinigung "Internationale Ärzte gegen den Nuklearkrieg" (IPPNW) und das "Internationale Friedensbüro" an. Die UNO-Vollversammlung ersuchte dann 1994 den IGH um ein Rechtsgutachten, inwieweit nicht nur die Anwendung, sondern auch die Androhung von Kernwaffen im Einklang mit dem Völkerrecht stehen. Zu dem Verfahren gingen beim IGH über vierzig schriftliche Stellungnahmen ein, und in einer Anhörung gaben 22 Staaten wie auch die Weltgesundheitsorganisation WHO Erklärungen zum Streitfall ab. Die vier offiziellen Nuklearmächte (USA, Russland, Großbritannien und Frankreich; China fehlte) bezeichneten Entscheidungen über den Kernwaffeneinsatz als ihr "souveränes Recht". Nach dem Grundsatz, erlaubt ist alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, verkündeten sie: Da kein Gesetz oder Vertrag Kernwaffen explizit verbiete, sei ihr Einsatz auch nicht völkerrechtswidrig. An dieser ignoranten Haltung hat sich seither nichts gebessert, im Gegenteil. Die Joint Chiefs of Staff der USA behaupten immer noch, der Einsatz von Atomwaffen sei "nicht grundsätzlich verboten". Nach einer Analyse der aktuellen US-amerikanischen Nukleardoktrin, die nicht weniger als sieben potentielle Einsatzszenarien für Atomwaffen vorsieht, schlussfolgern Wissenschaftler der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in ihrer jüngsten Studie, "dass die neue Rolle von Kernwaffen völkerrechtswidrig ist und die politischen Folgen der neuen Doktrin das internationale Nichtverbreitungsregime weiter untergraben werden." Die Menschheit habe die Wahl, den Trend zu mehr Atomwaffen umzukehren oder eine Welt mit immer mehr Atommächten zu akzeptieren", warnte jetzt ebenfalls UNO-Generalsekretär Kofi Annan vor der Genfer Abrüstungskonferenz. "Die internationale Gemeinschaft scheint schlafwandlerisch den zweiten Weg zu wählen", doch "wir müssen die Währung Atomwaffen abwerten." Der Richterspruch aus Den Haag zielt genau in diese Richtung. Er schränkt die Anwendungsoptionen für Nuklearwaffen juristisch bedeutend ein und erhöht deren politische Kosten. In der Konsequenz wäre jeder präventive Einsatz, wie auch ein nuklearer Erstschlag und die Anwendung in der übergroßen Mehrzahl aller vorstellbaren Situationen einer militärischen Auseinandersetzung widerrechtlich. Daraus folgt, dass eine Anwendung von Nuklearwaffen zur Vorbeugung wie auch als Antwort auf Terrorangriffe ein Bruch des Völkerrechts wäre. "Dass die Vereinigten Stabschefs der USA diese Tatsache in ihrer Darstellung der völkerrechtlichen Lage vollständig ignorieren", so die Frankfurter Friedensforscher, "gibt Anlass zur Sorge." Deutschland sei von der Renaissance der Atomwaffen doppelt betroffen. Die Bundesregierung sollte sich deshalb sowohl für den Ausschluss eines Kernwaffeneinsatzes durch die NATO als auch für den Abzug der US-amerikanischen Kernwaffen aus Europa engagieren.



"... dass die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen generell gegen diejenigen Regeln des Völkerrechts verstoßen würden, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts. Allerdings kann der Gerichtshof angesichts der gegenwärtigen Lage des Völkerrechts und angesichts des ihm zur Verfügung stehenden Faktenmaterials nicht definitiv die Frage entscheiden, ob die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen in einer extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiel stünde, rechtmäßig oder rechtswidrig wäre."

"Es besteht eine völkerrechtliche Verpflichtung, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, die zu nuklearer Abrüstung in allen ihren Aspekten unter strikter und wirksamer internationaler Kontrolle führen."

Aus dem Rechtsgutachten des IGH vom 08.07.1996


Atomwaffenarsenale weltweit (2006)

Land Anzahl
Russland ca. 16000
USA 10104
China 200
Frankreich 350
Großbritannien 200
Israel 115 - 190
Indien 50 - 60
Pakistan 40 - 50
KDVR 5 - 15
gesamt ca 27.000


Quelle: Bulletin of the Atomic Scientists, No. 4/2006

* Dieser Beitrag erschien - unwesentlich gekürzt - unter dem Titel "Gefahr eines Nuklearkrieges ist nicht gebannt" im "Neuen Deutschland vom 8. Juli 2007


Lexikon

Als im April im Haager Friedenspalast der 60. Geburtstag des Internationalen Gerichtshofs begangen wurde, rief Kofi Annan die Staaten der Vereinten Nationen nachdrücklich dazu auf, sich der Rechtsprechung des IGH zu unterwerfen: "Das internationale Recht bietet den Rahmen für Zusammenarbeit und Koexistenz", so der UN-Generalsekretär. Staaten, die nicht dazu bereit seien, sollten zumindest Sonderabkommen erwägen, um so Streitigkeiten schlichten zu lassen. Erst ein Drittel aller UN-Mitglieder hat die Zuständigkeit des Gerichts pauschal anerkannt.

Der IGH – zu unterscheiden vom Internationalen Strafgerichtshof, der seit 2003 ebenfalls in Den Haag bei der Ahndung von Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch Einzelpersonen zur Rechenschaft ziehen kann – ist Nachfolger des ständigen Gerichtshofs des Völkerbundes. Er gilt als wichtigstes Rechtsorgan der Vereinten Nationen. Seine Richter fällen zum einen bei Streitigkeiten zwischen Staaten auf der Grundlage des Völkerrechts Urteile – bisher 92 – und verfassen zum anderen Gutachten zu aktuellen völkerrechtlichen Fragen; hier liegen 25 vor. Nur die UN-Vollversammlung und 20 weitere UN-Organe können den IGH zur Erstellung eines Rechtsgutachtens auffordern. Seine oft erst nach langjährigen Verfahren verkündeten Urteile bei bilateralen Streitfällen sind für die betroffenen Parteien rechtsverbindlich, sofern sie das Gericht anerkannt haben. Eine Berufung ist dann nicht möglich. Über eigene Sanktionsmöglichkeiten verfügt das IGH aber nicht. Völkerrechtsgutachten ha-ben ohnehin nur empfehlenden Charakter. Die 15 unabhängigen Richter sind keine politischen Vertreter ihres Heimatlandes und werden jeweils in Fünfer-Gruppen für neun Jahre durch die Vollversammlung und den Weltsicherheitsrat bestimmt. Die Zusammensetzung des IGH soll "die wichtigsten Zivilisationsformen und die Hauptrechtssysteme der Welt" repräsentieren.

Olaf Standke

Aus: Neues Deutschland, 8. Juli 2006


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