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"Ein Nuklearkrieg wäre innerhalb eines Tages vorbei"

Die australische Friedensaktivistin Helen Caldicott über Kernenergie und enttäuschte Abrüstungshoffnungen


Helen Caldicott wurde am 10. April in der Berliner Urania für ihr Lebenswerk mit dem Nuclear-Free-Future Award ausgezeichnet. 1971 alarmierte die australische Kinderärztin die Öffentlichkeit über anhaltende französische Atombombentests im Pazifik. In den USA gehörte sie 1978 zu den Gründern der »Ärzte in sozialer Verantwortung« (Physicians for Social Responsibility) und den International Physicians for The Prevention of Nuclear War. Auf Einladung der deutschen IPPNW-Sektion beteiligte sie sich vom 8. bis 10. April an der Tschernobyl-Konferenz in Berlin. Das Interview führte für "Neues Deutschland" (ND) Dago Langhans.

ND: Nach dem Ende des sogenannten Kalten Krieges rechneten Millionen Menschen mit weitreichenden Abrüstungsschritten, insbesondere auch im Bereich der atomaren Bewaffnung. Was ist daraus geworden?

Caldicott: Diese Friedensdividende ist niemals eingelöst worden. Die damals Herrschenden wussten nicht mit der neuen Situation umzugehen. George Bush I. hatte zunächst angeboten, einige taktische Nuklearwaffen einseitig abzubauen, um den Dialog mit der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow zu fördern. Doch dann trat Bill Clinton, der George Bush als Präsident der USA folgte, auf den Plan. Clinton hat sich um die Nuklearrüstung überhaupt nicht gekümmert. Er hatte während des Vietnamkrieges nicht gedient und stand extrem unter Druck durch das Pentagon. Von den Militärstrategen wurde er nicht als starker Militärführer anerkannt. Ihm gegenüber stand auf russischer Seite ein angeschlagener Präsident Boris Jelzin, ein schwerer Alkoholiker, der voraussichtlich niemals auf irgendwelche Vorschläge Clintons zur Abrüstung eingegangen wäre.

Beim Gipfeltreffen 1987 zwischen Gorbatschow und dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan im isländischen Reykjavik war eine Vereinbarung zum Abbau der Atomwaffen an Reagans Weigerung gescheitert, sein Star-Wars-Projekt aufzugeben. Damals waren achtzig Prozent der US-Bevölkerung für die Abschaffung von Nuklearwaffen. Trotz diverser kleinerer Abrüstungsschritte gibt es derzeit in den Arsenalen der USA und Russlands rund 25 000 Wasserstoffbomben, von denen sind geschätzte 2500 direkt per Knopfdruck von jeder Seite innerhalb von nur drei Minuten einsatzfähig. Interkontinentalraketen brauchen eine halbe Stunde, um ihre Ziele zu erreichen. Ein Nuklearkrieg wäre innerhalb eines Tages vorbei. Nichts hat sich also in den vergangenen Jahren verändert. Im Gegenteil: Es ist sogar schlimmer geworden. Das aktuelle START-Folgeabkommen zwischen Barack Obama und Wladimir Putin beziehungsweise Dmitri Medwedjew wurde vom US-Senat nur deswegen ratifiziert, weil Obama zugestanden hatte, 84 Milliarden US-Dollar für die Modernisierung des US-Nuklearwaffenarsenals zur Verfügung zu stellen. Trotzdem hat der republikanische Senator Jon Kyl aus Arizona im letzten Dezember gegen diesen Vertrag votiert. Für mich sind das deutliche Belege für die mangelnde Durchsetzung des Abkommens.

»Eine Welt ohne Atomwaffen ist möglich«, hatte Obama im April 2009 in Prag versprochen. Wie sieht es nun damit aus?

Das Resultat sieht sehr schlecht aus. Der militärisch-industrielle Komplex der USA hat Obama als obersten Befehlshaber kooptiert. Als ein hochintelligenter Mensch ist der US-Präsident stets um einen Ausgleich unterschiedlicher Positionen bemüht und er gibt eher nach. Die Vereinigten Staaten bräuchten einen Präsidenten vom Format eines durchsetzungsfähigen Franklin D. Roosevelt. Unglücklicherweise ist Barack Obama nicht so ein Mensch. Er agiert im Auftrag von Rüstungsgiganten wie Lockheed Martin, Boeing, Raytheon, Northrop Grumman und anderen.

Sie behaupten also, der Einfluss der Rüstungsindustrie ist nach wie vor ebenso ungebrochen wie zu der Amtszeit der Bush-Krieger vom Schlage eines Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz oder Perle?

Es macht Angst, dass sich nichts geändert hat. Der Grund besteht darin, dass diejenigen die das Pentagon wirklich führen, nach wie vor aus der Waffenindustrie stammen. Schauen Sie sich doch die NATO-Osterweiterung an. Diese liegt durchaus im Interesse der Rüstungslobby. Lockheed Martin zum Beispiel hatte in den Ländern massiv für die NATO-Mitgliedschaft geworben und durch die anhaltende Militarisierung die eigenen Absatzchancen gesichert und ausgebaut.

Sie beziehen sich in diesem Zusammenhang auf die baltischen Staaten und Polen?

Genau diese Länder. Aber wieso ist Russland nicht zur NATO gekommen? Russland wurde nicht eingeladen. Es ist mehr als dreist, Russland auszuschließen. Der Zweite Weltkrieg wurde einst an der russischen Front mit immensem Blutzoll gewonnen. Eine Erklärung besteht darin, dass solchen Unternehmen wie Lockheed Martin ohne entsprechende Feindbilder extreme Gewinne entzogen würden. Oder einfacher formuliert: Wie sieht die politische und wirtschaftliche Logik der Rüstungsproduktion aus? Wenn ein Flugzeug abstürzt, wird ein neues gebaut. Die militärische Überlegenheit der USA erfordert die beständige Schaffung neuer Gegner. Der aktuelle Trend ist die Einkreisung Chinas mit Militärstützpunkten. In meinem Buch »Atomgefahr USA« beschreibe ich, wie China in die offiziellen Zielplanungen des Pentagon geraten ist. Dem liegt der Irrglaube zugrunde, dass die geostrategische Region des Pazifik ein ursprünglich US-amerikanisches Hoheitsgebiet ist. Mich regt so etwas als Australierin besonders auf. So eine Art von Weltpolizei braucht niemand. Aber auch niemand bringt den Mut auf, dagegen vorzugehen. Insbesondere die NATO ist vollkommen kraftlos, wenn es darum geht, Gegenakzente zu setzen.

In bestimmten Situationen ist es vielleicht doch so, dass Regionalmächte durchaus ihren eigenen Weg gehen. Die derzeitige militärische NATO-Intervention in Libyen wäre ohne das französische Vorpreschen so wohl nicht eingetreten.

Der Hintergrund ist die anstehende Präsidentschaftswahl in Frankreich. Präsident Nicolas Sarkozy ist ähnlich populär beziehungsweise unpopulär wie zu ihrer Zeit Maggie Thatcher in Großbritannien. Und leider kann man durch den Beginn eines Krieges die Beliebtheit steigern, wie der zwischen Großbritannien und Argentinien geführte Falklandkrieg von 1982 gezeigt hat.

Um auf die derzeitige Nuklearkatastrophe in Japan zu sprechen zu kommen. Aus deutschem Blickwinkel sieht es so aus, als ob das Nuklearzeitalter seinem Ende entgegen geht.

Die Entwicklung in Ihrem Land ist einzigartig und nicht vergleichbar. Das hängt mit der langjährigen politischen Geschichte des Widerstandes gegen die Atomtechnologie in Deutschland zusammen. In diesem Zusammenhang muss ich immer an meine frühere Freundin, die Grünen-Mitbegründerin Petra Kelly, erinnern. Meine Prognose lautet, dass die Katastrophe in Fukushima – hören Sie die Ähnlichkeit mit Hiroshima? – das Ende der Nukleartechnologie und des Uranabbaus einleitet. Das hat natürlich auch unmittelbare Folgen für die Atomwaffenindustrie.

Also langfristig wäre das möglich. Sie meinen jedoch, wir sind bereits jetzt an der Schwelle zum Ende des Nuklearzeitalters...

Die Konsequenzen, die sich aus der Entsorgung des Nuklearmülls ergeben, werden bis zum Ende der Menschheit weiter bestehen. Die Atomenergie allerdings als Quelle der Energiegewinnung ist ein Auslaufmodell. Bedrohung durch Nuklearwaffen: Testflug einer atomwaffenfäh Bedrohung durch Nuklearwaffen: Testflug einer atomwaffenfähigen pakistanischen Rakete

Gemeinsam mit dem ehemaligen Diplomaten Craig Eisendraht haben Sie sich im Jahr 2007 mit dem Thema Weltraumrüstung beschäftigt.

Wir haben gemeinsam ein Buch mit dem Titel »War in Heaven – The Arms Race in Outer Space« (Krieg im Himmel – Das Wettrüsten im Weltraum) herausgegeben. Die Militarisierung des Weltraumes ist boshaft, unverantwortlich und kriminell. Nach einem Weltraumvertrag der Vereinten Nationen von 1967 ist die militärische Nutzung des Weltraumes verboten. Dieser Vertrag wurde von den USA und Israel im Gegensatz zu allen anderen Staaten nicht ratifiziert. Im Sprachgebrauch der Pentagon-Strategen ist die Rede von »High Frontier«, also einer letzten zu durchbrechenden Grenze. Für Rüstungsunternehmen wie Lockheed Martin stellt der Weltraum militärtechnologisch ein neues Frontgebiet dar.

Gibt es angesichts einer schwerwiegenden und sich vertiefenden globalen Finanzkrise überhaupt noch ausreichende Finanzmittel, um aufgeblähte Militärhaushalte inklusive solcher Projekte wie der Weltraumrüstung zu rechtfertigen?

Das US-Ministerium des Todes verfügt über eine Billion Dollar Etat. Aber niemand macht sich stark, um dagegen anzukämpfen.

Wie Sie selbst allerdings erlebt haben, gab es in den 80er Jahren in den USA eine überwältigende Mehrheit in der Bevölkerung, die die Abschaffung der Nuklearwaffen gefordert hat.

Das stimmt. Mit dem Ende des Kalten Krieges allerdings nahmen die Menschen in den 90er Jahren an, ein Ende der Atomrüstung wäre erreichbar. Diese Entwicklung ist nicht eingetreten. Die ökonomische Stärke der Rüstungskonzerne spiegelt sich wider in verharmlosenden Darstellungen durch sogenannte Experten in den Medien. Diese Misere muss mit Gegeninformationen aufgebrochen werden. Das ist unsere Aufgabe. Gerade jetzt.

Miss Caldicott, danke für das Gespräch und Gratulation zu der Auszeichnung.

Am 25. März, zwei Wochen nach Beginn der Nuklearkatastrophe in Japan, veröffentlichte Helen Caldicott auf der Website ifyoulovethisplanet.org:

»Um es wirklich deutlich zu machen: Für die Nuklearindustrie stehen Milliardensummen an Dollars auf dem Spiel. Wie ich bereits früher geschrieben habe, wurden weltweit mit einem Teil dieser Gelder Regierungen, ein Großteil der Medien und vor allem viele einfache Menschen hereingelegt, zu glauben die Atomtechnologie sei sauber und grün. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Die Industrie wird die Pfründe niemals kampflos aufgeben...«

Bücher von H. Caldicott
  • Nuclear Madness, 1979
  • If You Love This Planet, 1992
  • A Desperate Passion, 1996 (Autobiografie)
  • Metal of Dishonor, 1997
  • The New Nuclear Danger, 2001 (Atomgefahr USA, 2003) Mit Craig Eisenhardt: War in Heaven, 2007
  • Nuclear Power is Not The Answer, 2006
Internet: helencaldicott.com, nuclearfreeplanet.org, ifyoulovethisplanet.org



* Aus: Neues Deutschland, 23. April 2011


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