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Wir müssen handeln, um ein zweites Hiroshima - beziehungsweise noch Schlimmeres - zu verhindern / We Must Act Now to Prevent Another Hiroshima -- or Worse

Die Explosionen in London sind eine Mahnung ... / The explosions in London are a reminder ... By Noam Chomsky

Von Noam Chomsky

Diesen Monat begehen wir den 60. Jahrestag der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki. Die Erinnerung birgt äußerst düstere Gedanken - aber auch die allerleidenschaftlichste Hoffnung, dass sich der Schrecken nie wiederholt.

In den vergangenen 60 Jahren ließen die Bomben von Hiroshima und Nagasaki die Vorstellungskraft der Welt erschauern - leider nicht genug, um die Entwicklung und Verbreitung von noch weit tödlicheren Massenvernichtungswaffen aufzuhalten.

Eine der damit verbundenen Ängste: Nuklearwaffen könnten früher oder später in die Hände von Terrorgruppen gelangen - eine Angst, die in der entsprechenden technischen Literatur bereits lange vor dem 11. September 2001 diskutiert wurde.

Die Explosionen vor kurzem in London und deren Opfer zeigen uns, wie der Teufelskreis Angriff/Reaktion auf unvorhersehbare Weise eskalieren könnte - vielleicht mit noch weit schrecklicheren Folgen als wir sie in Hiroshima und Nagasaki gesehen haben.

Die Supermacht, die die Welt beherrscht, nimmt sich das Recht heraus, nach Gutdünken Krieg zu führen. Ihre Doktrin heißt “antizipatorische Selbstverteidigung”, eine Doktrin, mit der alle gewünschten Eventualitäten abgedeckt sind - und alle Mittel der Zerstörung.

Die Militärausgaben der USA sind in etwa so hoch wie die der gesamten restlichen Welt. 38 nordamerikanische Unternehmen verkaufen Waffen (eines davon mit Sitz in Kanada). Sie bestreiten mehr als 60% des Weltwaffenexports (ein Export, der seit 2002 um 25% gewachsen ist).

Es gab und gibt Bemühungen, den seidenen Faden, an dem unser Überleben hängt zu verstärken. Die wichtigste Komponente ist in diesem Zusammenhang der Atomwaffensperrvertrag (NPT) - seit 1970 in Kraft. Regelmäßig, alle fünf Jahre, findet eine NPT-Überprüfungskonferenz statt - zuletzt im Mai 2005 bei den Vereinten Nationen in New York.

Aber der Atomwaffensperrvertrag steht vor dem Kollaps, hauptsächlich, weil die Atommächte ihren Verpflichtungen aus Artikel VI des Vertrags nicht nachkommen. Der Artikel sieht vor, dass die Atommächte sich - in “good faith“ - um eine Abschaffung der Atomwaffen bemühen. Wenn es darum geht, sich vor den Verpflichtungen aus Artikel VI zu drücken, gehen die USA mit schlechtem Beispiel voran. Wie Mohamed ElBaradei, Chef der Internationalen Atombehörde (IAEA), feststellte: Die “zögerliche Haltung einer Partei bei Erfüllung ihrer Verpflichtungen erzeugt auch bei andern ein Zögern”.

Der frühere US-Präsident Jimmy Carter macht die USA als “Hauptschuldigen für die Erosion des NPT” verantwortlich. “Während sie behaupten, die Welt vor Proliferations-Bedrohungen im Irak, in Libyen, Iran oder Nordkorea zu schützen, weichen Amerikas Führer nicht nur von den Beschränkungen ab, die ihnen der bestehende Vertrag auferlegt, sie hegen sogar (bestätigte) Pläne, neue Waffen zu entwickeln und zu testen, wie etwa antiballistische Raketen, “Bunkerknacker”, die tief in die Erde eindringen und vielleicht auch die ein oder andere neue “kleine Bombe”. Sie stehen nicht zu den Schwüren der Vergangenheit und drohen nun mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen gegen Staaten, die keine Atomwaffen besitzen”.

In den Jahren seit Hiroshima wäre der seidene Faden mehrmals beinahe gerissen. Der wohl berühmteste Fall ist die sogenannte “Kubakrise” im Oktober 1962 - “der gefährlichste Moment in der Geschichte der Menschheit”, wie der Historiker Arthur Schlesinger im Oktober 2002 auf einer Retrospektiv-Konferenz in Havanna feststellte. Schlesinger war Berater des damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy.

“Um Haaresbreite entging die Welt dem atomaren Desaster”, erinnert sich auf derselben Konferenz Robert McNamara, Verteidigungsminister unter Kennedy. In der Mai/Juni-Ausgabe der Zeitschrift Foreign Policy wiederholt McNamara seine Mahnung und warnt erneut vor “apocalypse soon”.

Die “derzeitige US-Atomwaffenpolitik ist unmoralisch, illegal und in militärischer Hinsicht unnötig und furchtbar gefährlich”, so McNamara, sie berge “inakzeptable Risiken - sowohl für andere Nationen wie für die eigene Nation”, zum einen das Risiko eines “versehentlichen, unachtsamen Nuklearangriffs” - ein Risiko, das laut McNamara “inakzeptabel hoch” ist -, zum andern das Risiko eines nuklearen Angriffs durch Terroristen. McNamara gibt der Einschätzung des ehemaligen Verteidigungsministers unter Bill Clinton, William Perry, Recht: “Die Wahrscheinlichkeit eines Atomschlags gegen US-Ziele noch innerhalb dieses Jahrzehnts liegt bei über 50%”.

Eine ähnliche Einschätzung teilen viele bekannte Strategieanalysten. In seinem Buch ‘Nuclear Terrorism’ schreibt Graham Allison, ein Harvard-Spezialist für internationale Beziehungen, es herrsche “Konsens in der ‘national security community’”, (zu der er selber zählt), dass ein Angriff mit einer “schmutzigen Bombe” “unausweichlich” sei. Auch ein Atomwaffenangriff sei sehr wahrscheinlich - falls das spaltbare Material (als wichtigster Bestandteil zum Bau dieser Waffen) nicht gesammelt und gesichert werde.

Alllison schreibt in seinem Buch auch über die Teilerfolge, die es in diesem Bereich seit den frühen 90gern gab -, siehe die damaligen Initiativen von Senator Sam Nunn und Senator Richard Lugar. Aber seit den ersten Tagen der Bush-Administration erlitten diese Programme einen herben Rückschlag. Senator Joseph Biden drückt es so aus: Die Programme wurden durch “ideologische Idiotie” lahmgelegt.

Die Führung in Washington legte die Programme zur atomaren Nonproliferation ad acta und konzentrierte Energie und Ressourcen lieber darauf, die USA in den Krieg zu treiben - mittels eines unglaublichen Betrugs - um anschließend mit dem Management der Katastrophe beschäftigt zu sein, die sie im Irak angerichtet hatte.

Gewalt - die Anwendung derselben beziehungsweise ihre Androhung - stimuliert die Weiterverbreitung von Atomwaffen und sorgt für die Verbreitung des Jihadi-Terrors.

In der Washington Post schreibt Susan B. Glasser über den “Krieg gegen den Terror” zwei Jahre nach der Invasion. Auf höchster Ebene, so Glasser, “konzentriert man sich” jetzt bei der Bewertung des Kriegs “auf die Frage, wie man mit dem Aufstieg einer neuen Generation von Terroristen umgehen soll, die in den vergangenen beiden Jahre ihr Training im Irak erhielten.” “Top-Offizielle unserer Regierung konzentrieren sich zunehmend auf das sogenannte ‘bleed out’. Damit meint man die Rückkehr Hunderttausender Jihadisten - die im Irak ein sehr gutes Training durchliefen -, überall in ihre Heimatländer im Nahen/Mittleren Osten und Westeuropa. “Eine neue Unbekannte in einer neuen Gleichung” nennt dies ein früherer hoher Offizieller der Bush-Administration. “Denn, wenn man diese Leute nicht einmal im Irak identifizieren kann, wie will man sie erst in London oder Istanbul ausmachen?”

Der Boston Globe zitiert den amerikanische Terrorspezialisten Peter Bergen: “Der Präsident hat Recht, der Irak ist tatsächlich eine der Hauptfronten im Krieg gegen den Terrorismus, nur dass wir diese Front erst geschaffen haben”.

Chatam House - Großbritanniens wichtigste ‘Foreignaffairs’-Institution - veröffentlichte kurz nach den Bombenanschlägen von London eine Studie. Diese zieht ein Fazit, das eigentlich auf der Hand liegen sollte - von der britischen Regierung aber dennoch empört zurückgewiesen wird: “Großbritannien ist besonders gefährdet, da es der engste Verbündete der USA ist und mit bewaffneten Truppen bei der Militärkampagne zum Sturz der Taliban in Afghanistan mitgewirkt hat sowie im Irak” (und Großbritannien sei) “Beifahrer” der amerikanischen Politik. Großbritannien fährt hinter dem Fahrer auf dem Motorrad mit.

Wie wahrscheinlich ist eine Apokalypse in naher Zukunft? Niemand kann das genau sagen. Fest steht jedoch, die Gefahr ist so groß, dass kein vernünftiger Mensch bei dem Gedanken ruhig bleiben kann. Spekulationen bringen wenig, Aktion hingegen sehr viel. Ganz im Gegenteil - wir müssen dringend auf die Gefahr eines zweiten Hiroshima reagieren, vor allem hier in den USA. Washington ist führend, wenn es darum geht, den zerstörerischen Wettlauf voranzutreiben - indem es seine historisch einzigartige militärische Dominanz immer weiter ausdehnt. Auch Großbritannien spielt eine wichtige Rolle - weil es zu allem nickt, was sein engster Verbündeter anrichtet.

(Übersetzung: Andrea Noll)

* Noam Chomsky ist Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Autor zahlreicher Artikel und Bücher.
Der Artikel erschien am 6. August im "Independent".

Quelle: ZNet 17.08.2005; ZNet Deutschland: www.zmag.de



We Must Act Now to Prevent Another Hiroshima -- or Worse

The explosions in London are a reminder of how the cycle of attack and response could escalate

by Noam Chomsky;


This month's anniversary of the bombings of Hiroshima and Nagasaki prompts only the most somber reflection and most fervent hope that the horror may never be repeated.

In the subsequent 60 years, those bombings have haunted the world's imagination but not so much as to curb the development and spread of infinitely more lethal weapons of mass destruction.

A related concern, discussed in technical literature well before 11 September 2001, is that nuclear weapons may sooner or later fall into the hands of terrorist groups.

The recent explosions and casualties in London are yet another reminder of how the cycle of attack and response could escalate, unpredictably, even to a point horrifically worse than Hiroshima or Nagasaki.

The world's reigning power accords itself the right to wage war at will, under a doctrine of "anticipatory self-defense" that covers any contingency it chooses. The means of destruction are to be unlimited.

US military expenditures approximate those of the rest of the world combined, while arms sales by 38 North American companies (one in Canada) account for more than 60 per cent of the world total (which has risen 25 per cent since 2002).

There have been efforts to strengthen the thin thread on which survival hangs. The most important is the nuclear Nonproliferation Treaty (NPT), which came into force in 1970. The regular five-year review conference of the NPT took place at the United Nations in May.

The NPT has been facing collapse, primarily because of the failure of the nuclear states to live up to their obligation under Article VI to pursue "good faith" efforts to eliminate nuclear weapons. The United States has led the way in refusal to abide by the Article VI obligations. Mohamed ElBaradei, head of the International Atomic Energy Agency, emphasizes that "reluctance by one party to fulfill its obligations breeds reluctance in others".

President Jimmy Carter blasted the United States as "the major culprit in this erosion of the NPT. While claiming to be protecting the world from proliferation threats in Iraq, Libya, Iran and North Korea, American leaders not only have abandoned existing treaty restraints but also have asserted plans to test and develop new weapons, including Anti-Ballistic missiles, the earth-penetrating 'bunker buster' and perhaps some new 'small' bombs. They also have abandoned past pledges and now threaten first use of nuclear weapons against non-nuclear states".

The thread has almost snapped in the years since Hiroshima, repeatedly. The best known case was the Cuban missile crisis of October 1962, "the most dangerous moment in human history", as Arthur Schlesinger, historian and former adviser to President John F Kennedy, observed in October 2002 at a retrospective conference in Havana.

The world "came within a hair's breadth of nuclear disaster", recalls Robert McNamara, Kennedy's defense secretary, who also attended the retrospective. In the May-June issue of the magazine Foreign Policy, he accompanies this reminder with a renewed warning of "apocalypse soon".

McNamara regards "current US nuclear weapons policy as immoral, illegal, militarily unnecessary and dreadfully dangerous", creating "unacceptable risks to other nations and to our own", both the risk of "accidental or inadvertent nuclear launch", which is "unacceptably high", and of nuclear attack by terrorists. McNamara endorses the judgment of William Perry, President Bill Clinton's defense secretary, that "there is a greater than 50 per cent probability of a nuclear strike on US targets within a decade".

Similar judgments are commonly expressed by prominent strategic analysts. In his book Nuclear Terrorism, the Harvard international relations specialist Graham Allison reports the "consensus in the national security community" (of which he has been a part) that a "dirty bomb" attack is "inevitable", and an attack with a nuclear weapon highly likely, if fissionable materials -- the essential ingredient -- are not retrieved and secured.

Allison reviews the partial success of efforts to do so since the early 1990s, under the initiatives of Senator Sam Nunn and Senator Richard Lugar, and the setback to these programs from the first days of the Bush administration, paralyzed by what Senator Joseph Biden called "ideological idiocy".

The Washington leadership has put aside non-proliferation programs and devoted its energies and resources to driving the country to war by extraordinary deceit, then trying to manage the catastrophe it created in Iraq.

The threat and use of violence is stimulating nuclear proliferation along with jihadi terrorism.

A high-level review of the "war on terror" two years after the invasion "focused on how to deal with the rise of a new generation of terrorists, schooled in Iraq over the past couple of years", Susan B Glasser reported in The Washington Post.

"Top government officials are increasingly turning their attention to anticipate what one called 'the bleed out' of hundreds or thousands of Iraq-trained jihadists back to their home countries throughout the Middle East and Western Europe. 'It's a new piece of a new equation,' a former senior Bush administration official said. 'If you don't know who they are in Iraq, how are you going to locate them in Istanbul or London?'"

Peter Bergen, a US terrorism specialist, says in The Boston Globe that "the President is right that Iraq is a main front in the war on terrorism, but this is a front we created".

Shortly after the London bombing, Chatham House, Britain's premier foreign affairs institution, released a study drawing the obvious conclusion -- denied with outrage by the Government -- that "the UK is at particular risk because it is the closest ally of the United States, has deployed armed forces in the military campaigns to topple the Taliban regime in Afghanistan and in Iraq ... [and is] a pillion passenger" of American policy, sitting behind the driver of the motorcycle.

The probability of apocalypse soon cannot be realistically estimated, but it is surely too high for any sane person to contemplate with equanimity. While speculation is pointless, reaction to the threat of another Hiroshima is definitely not.

On the contrary, it is urgent, particularly in the United States, because of Washington's primary role in accelerating the race to destruction by extending its historically unique military dominance, and in the UK, which goes along with it as its closest ally.

* The author is a professor of linguistics at the Massachusetts Institute of Technology and the author, most recently, of Hegemony or Survival: America's Quest for Global Dominance
This article was published August 6, 2005 by the lndependent/UK

Source: ZNet, August 17, 2005; www.zmag.org



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