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"Es ist an der Zeit, die Aussagen der IAEO kritisch zu hinterfragen"

Rede von Angelika Claußen, IPPNW-Vorsitzende, auf dem Tschernobylkongress

Vom 7. bis 9. April 2006 findet in Bonn-Bad Godesberg der IPPNW-Kongress "Zeit Bombe Atomenergie" statt. Anlass: der 20. Jahrestag der Explosion im Atomkraftwerk Tschernobyl. Im Folgenden dokumentieren wir die Eröffnungsrede der IPPNW-Vorsitzenden Dr. Angelika Claußen. Die Rede wurde auszugsweise in der Frankfurter Rundschau vom 6. April 2006 abgedruckt.



"Die Methode der Physik geht nur die Physiker an, die Auswirkungen alle Menschen. Was alle Menschen angeht, das können nur alle lösen."
(Aus: Franz Dürrenmatt, "Die Physiker")

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

Samstag, 26.April 1986, 1 Uhr, 23 Minuten, 40 Sekunden. Im Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl explodieren 180.000 Kilogramm hochradioaktives Material aus dem Inneren des Reaktors. Das entspricht der Menge von 1.000 Hiroshima-Bomben. Mindestens 200 verschiedene radioaktive Stoffe werden in die Atmosphäre katapultiert.

In den Morgenstunden: Der Hubschrauber, in dem der Fotojournalist der Novosti- Nachrichtenagentur Igor Kostin sitzt, schwebt über Block 4. Das Dach, die 3000 Tonnen schwere Stahlbetonplatte, ist weggerissen von der Explosion, umgeklappt wie ein Pfannkuchen. Auf dem Grund der Ruine erkennt Kostin nur schwach den rötlichen Schein des schmelzenden Reaktorkerns. An seinem Unterarm laufen heiße Schweißtropfen herab. Die Temperaturen sind hoch, dabei kann er nirgends eine Flamme sehen. Er öffnet das Seitenfenster, spannt seinen Fotoapparat und drückt ab. Ein Schwall heißer Luft dringt in die Kabine. Es kratzt sofort in seiner Kehle, er muss sich räuspern und kann kaum schlucken. Als er das Objektiv in Richtung Boden hält und die ersten Aufnahmen machen will, blockiert die Kamera. Er drückt mit aller Kraft auf den Auslöser, aber Fehlanzeige, der Mechanismus klemmt. Als er, zurück in Kiew, die Fotos entwickelt, sind fast alle Bilder schwarz, so als wäre die Kamera bei hellem Licht geöffnet und der Film belichtet worden. Marie Curie hatte beim Isolieren des Radiums die gleiche Erfahrung gemacht: Strahlung belichtet Filme und fotografische Platten. Nur das erste Bild, das Igor Kostin gemacht hatte, war weniger beschädigt. Es ist das einzige existierende Foto vom Unfall selbst.

Am dritten Tag nach der Katastrophe meldet die Prawda, das offizielle Organ der sowjetischen Regierung, lapidar: „ Im Kernkraftwerk Tschernobyl ist es zu einem Unfall gekommen. Einer der Reaktoren ist beschädigt.... Es werden Maßnahmen getroffen, eine Regierungskommission ermittelt.“ Die Sowjetunion lehnte damals jegliche Hilfe zur Behebung des Unglücks aus dem Westen ab.

In den ersten Tagen spielten die Piloten in den Militärhubschraubern eine entscheidende Rolle im Kampf gegen das atomare Ungeheuer. Sie warfen Blei und Sand sowie dekontaminierende Flüssigkeiten ab. Sie schafften die Baumaterialien für den Sarkophag heran. 300 Meter über dem Reaktor erreichte die Radioaktivität 1800 Röntgen oder Rem /Stunde. Die Piloten bekamen mitten im Flug Schwindelanfälle. Um ihre Sandsäcke in den brennenden Schlund des Kraftwerks zu werfen, streckten sie den Kopf aus der Kabine und arbeiteten auf Sicht.

Als die ferngesteuerten Maschinenroboter, die u. a. das Dach von den Graphitblöcken reinigen sollten, „streikten“, also wegen der hohen Radioaktivität nicht funktionierten, wurde eine riesige Armee menschlicher Roboter eingesetzt, die Liquidatoren. Da waren z.B. die sog. „Dachkatzen“, das sind die Liquidatoren, die in 40 Sekunden mit einer Schaufel bewaffnet radioaktiven Schutt in das Loch von Block 4 des Reaktors werfen mussten. Es war ein total aussichtsloser Kampf gegen die Radioaktivität. (1)

Viele Liquidatoren, schätzungsweise zwischen 50.000 – 100.000, (2) sind gestorben, und 90% von ihnen sind schwer erkrankt (3). In absoluten Zahlen ausgedrückt bedeutet das: 540.000 – 900.000 junge Männer sind infolge von Tschernobyl schwer erkrankt. Sie haben ihr Leben, ihre Gesundheit geopfert. Sehr wahrscheinlich wäre das Ausmaß der radioaktiven Kontamination ohne ihre Arbeit auch in Europa viel größer gewesen. Wir sind wir ihnen, meine ich, zu tiefstem Dank verpflichtet.

Jetzt 20 Jahre später, erleben wir eine zweite Katastrophe: Die Folgen der zweiten großen atomaren Katastrophe des 20 Jhdts. werden vertuscht und verleugnet. Wie die Hibaksha, die Opfer von Hiroshima, so werden auch die Opfer von Tschernobyl alleine gelassen und aus dem Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gestrichen. „Kein Grund zur Beunruhigung“, so lautete die zentrale Botschaft des Tschernobylforums, das unter der Federführung der IAEO, der internationale Atomenergiebehörde im September 2005 in Wien tagte.

Doch die Sprache, die von den Pressesprechern und Wissenschaftlern des Tschernobylforums und der IAEO benutzt wird, ist verräterisch: Nur 4.000, jedoch gut behandelbare Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen seien aufgetreten. Und das bei insgesamt 18 Mill. Menschen, die radioaktiven Strahlen exponiert waren.

Zu den Liquidatoren heißt es in der Presseerklärung der IAEO vom August 2005: „Die Studien, die zu Krebs- und Todesraten unter den Liquidatoren durchgeführt wurden, zeigten keine direkte Korrelation zwischen einer Strahlenexposition und erhöhten Krebs- oder Todesraten. Eher kann eine Korrelation zwischen den psychologischen Problemen und deren Status als Liquidatoren gezogen werden, obwohl der Kollaps der Sowjetunion und die ökonomischen Probleme in Russland, Ukraine und Belarus auch Faktoren für psychologischen Stress sein können.“

Statt Anteilnahme und Verbundenheit mit den Opfern eine wissenschaftlich verbrämte Verhöhnung der Opfer. Nicht die Radioaktivität, die als radioaktive Wolke die Menschen von außen kontaminierte und die radioaktive verseuchte Nahrung stellen die Ursachen der vielfältigen Krankheiten dar, sondern psychische Probleme und Armut.

Ich frage sie: Wie kann es sein, dass die IAEO, die 2005 den Friedensnobelpreis erhielt, also offensichtlich eine angesehene, seriöse Organisation, wie kann diese Organisation bei einer atomaren Explosion entsprechend der Stärke von 1000 Hiroshima-Bomben von nur 50 Todesopfern und 4.000 zu erwartenden Toten sprechen?

Es ist an der Zeit, die Aussagen der IAEO kritisch zu hinterfragen! Es ist an der Zeit, die Politik der IAEO in Bezug auf die wissenschaftliche Untersuchung der Tschernobylfolgen und der dahinter stehenden Ziele kritisch zu analysieren! Vor 20 Jahren hatten viele von Ihnen hier, so möchte ich unterstellen, gehofft, dass nach dieser großen Katastrophe sowohl die Energiekonzerne und als auch die Politik umsteigen würden. Atomausstieg und Energiewende waren die Schlagworte, in welchen sich diese Hoffnungen kristallisierten. Bis heute waren jedoch weder Politik noch die Energiekonzerne bereit, diese Hoffnungen der Bevölkerung einzulösen. Und das obwohl seit 1986 in Umfragen beständig 2/3 der Bevölkerung den Atomausstieg befürworten. Auch der Atomkonsens, der im Jahr 2000 zwischen der rot-grünen Bundesregierung und den Energiekonzernen vereinbart wurde, ist entgegen den damaligen Regierungsverlautbarungen kein Ausstieg. Das geht aus den Äußerungen der Atomindustrie klar hervor:
Im Umweltbericht 2000 des Atomkraftwerksbetreibers RWE wird zum Ergebnis der sog. Konsensverhandlungen treffend vermerkt: Ich zitiere:
"Mit dem erzielten Konsens zwischen Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen sind Rahmenbedingungen geschaffen worden, die den Betrieb der Kernkraftwerke zukünftig ohne politisch motivierte Störungen ermöglichen."

Dr. Otto Majewski, Spitzenmanager der Atomindustrie, merkte süffisant an, die Grünen seien dem "drolligen Missverständnis" erlegen, dass der Atomkonsens eine Ausstiegsvereinbarung sei. Geregelt werde in dem Abkommen indes der "reibungslose Betrieb der bestehenden Atomkraftwerke."

Ein Blick auf die Bilanzen zweier ausgewählter Energiekonzerne zeigt, wer die Gewinner sind:
2005 stieg der Nettogewinn des Atomkonzerns RWE um 4,4 Prozent auf 2,23 Milliarden Euro. RWE-Chef Harry Roels kündigte an, alle „gesetzlich abgesicherten” Möglichkeiten zur Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerksblöcke Biblis A und B in Anspruch nehmen zu wollen. (4) Und Deutschlands größter Energieversorger und Atomkraftwerksbetreiber E.ON fuhr 7,3 Milliarden Euro Gewinn ein. Etwa 71 Prozent mehr als ein Jahr zuvor (5), Verlierer sind Bürgerinnen und Bürger, sie bezahlen die Rechnung an die großen Energiekonzerne.

Diese haben mittlerweile die sog. „Renaissance der Atomenergie“ eingeläutet, obwohl die Uhr für unser überkommenes Energiesystem, das Bündnis aus fossilen und atomaren Energien, immer hörbarer tickt.

Sie reden vom Klimaschutz, wenn es um die Durchsetzung neuer Atomkraftwerke in Finnland, Frankreich oder anderswo geht, nicht jedoch, wenn sie in Deutschland 24 neue fossile Großkraftwerke planen. Wer auf diese Weise beliebig mit den Maßstäben der Energiepolitik spielt und die Öffentlichkeit über seine tatsächlichen Motive täuscht, kann kein ernsthafter Diskussionspartner sein.

Und eine andere Entwicklung, die mit der Energie und Energiesicherheit zu tun hat, macht vielen Menschen zunehmend Angst: die beiden Kriege gegen den Irak, die das Ziel hatten, die Ressource Öl für die westliche Führungsmacht USA zu sichern. Das Rocky Mountain Institut errechnete für das Jahr 2000, also vor dem Krieg gegen Afghanistan und gegen den Irak eine interessante Zahl bezüglich der militärischen Präsenz der USA zur Sicherung des Öls. Schon damals wurde pro Fass Öl 67 Dollar an Schutzgeld, also an militärischen Kosten, ausgegeben.

Welche Zukunft entwerfen hier Energie – und Ölkonzerne und die ihnen wohl gesonnenen Regierungen bezüglich der Zukunft der Menschheit? Deregulierung, spekulative Gewinnen, Ressourcenkriege um immer knapper werdendes Öl und Gas, nicht zuletzt auch Uran?

An dieser Stelle möchte ich auf Robert Jungk verweisen, den großen Friedensforscher und Publizisten. Sein erstes Buch, das er 1952 über das nukleare Wettrüsten schrieb, hatte den Titel: „Die Zukunft hat schon begonnen“. Es hat bis heute und gerade jetzt nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Unsere Zukunft hat schon begonnen! Denn die Alternativen zu Atomenergie und fossiler Energie sind längst erfunden und erfolgreich verwirklicht! Unabhängige Organisationen für Solar- und regenerative Energien rüttelten die Öffentlichkeit zunächst auf und bekamen hohe Sympathiewerte. Städte und Gemeinden starteten hierzulande Solarprogramme. Die Bewegung der „Erneuerbaren Energien“ hat sich auch global ausgebreitet, nicht zuletzt zeugt davon die Tatsache, dass die Chinesische Regierung 2005 die Konferenz „Renewables“ in Beijing veranstaltete. Indien, Südafrika, Kenia, um nur einige zu nennen, bekunden ebenfalls starkes Interesse und stiegen in konkrete Projekte mit regenerativer Energieversorgung ein. Aber die Renaissance der Atomenergie ist nötig, so flüstern es uns die Welt weit operierende Energiekonzerne ein. Ihre Kampagne ist in höchstem Maße irrational, sie gleicht einer „politischen Neurose“!

Manchmal, so befürchte ich, dass uns heute fast noch mehr als ein erneuter Supergau im Atomkraftwerk, als ein erneuter Ressourcenkrieg, unsere eigene Resignation gefährdet. Eine Resignation, die uns kraftlos und kleinlaut werden lässt. Die uns vergessen lässt, wie viel des Weges wir an Aufklärung und Widerstand wir schon gegangen sind. Eine Resignation, die vergessen lässt, dass wir, die Bürgerinnen, die Menschen die Lösungen für Energie- und Ressourcenkriege schon längst in der Hand haben.

Wir scheinen vergessen zu haben, dass die Mächtigen nur so lange mächtig sind, wie sie unsere Zustimmung haben.

In meinem Arztberuf ist die Fähigkeit zur Anteilnahme und Verbundenheit mit dem Patienten, die sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und sehr konkreter praktischer Hilfe paart, vonnöten. Erst mit beiden gemeinsam lassen sich die Heilungskräfte bei dem betroffenen Patienten wieder mobilisieren. Dies erfordert oft eine große Geduld und die Fähigkeit, trotz möglicher Rückschläge Zuversicht zu bewahren, um so die ersten kleinen Veränderungen in Richtung Gesundheit wahrzunehmen. Eine ärztliche Haltung, die der Krankheit den Krieg erklärt, ist hingegen für den Patienten schädlich, ja mitunter sogar tödlich.

Aus der absoluten Verzweiflung und hilfloser Ohnmacht heraus führten die Liquidatoren vor 20 Jahren den Krieg gegen die Radioaktivität. Die Weltmacht Nr. 1, die USA, führt heute an vielen Orten auf der Erde, einen anders gearteten Krieg. Es ist der Krieg gegen den Terror und gegen die Proliferation, die Weiterverbreitung von Atomwaffen, und das mit der Drohung, selbst Atomwaffen einzusetzen. Ich spreche hier den Konflikt um die mögliche Atombewaffnung des Irans an. Die wirklichen, hinter dem Vorwand des Terrors schon jetzt sehr deutlich sichtbaren Konflikte sind ganz anderer Art: Sie heißen Machterhalt, Vorherrschaft über die ganze Welt, Zugang zu den Ölreserven und anderen Rohstoffreserven und Geld. Es geht darum, in welche Richtung die stürmischen Globalisierungsprozesse laufen. „Was alle Menschen angeht, das können nur alle lösen.“

Die Fähigkeit zu Anteilnahme und Mitfühlen, die Verbundenheit mit den Opfern, ist die Stärke, die Ihnen, die Sie hier versammelt sind, die Kraft und den Mut zur Veränderung gibt.

Mit unserem Kongress Zeitbombe Atomenergie. 20 Jahre Tschernobyl haben wir dieses Ziel in den Fokus genommen. Bei uns begegnet sich wissenschaftliche Expertise mit dem zivilgesellschaftlichen Engagement der Bürgerinnen und Bürger und den Menschen aus Bewegungen. Wir haben den Kongress von der Themenstellung her bewusst breit angelegt:

Zwei der Kongressblöcke befassen sich mit den Tschernobylfolgen und den gesundheitlichen Folgen des Einsatzes von Atomenergie, Ein dritter Block beleuchtet die Tatsache, dass Atomenergie und Atomwaffen zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Sie stellen eine Zeitbombe dar, im wahrsten Sinne des Wortes. Das zeigt das Beispiel der drohenden Kriegsgefahr im Nahen und Mittleren Osten, jetzt im Iran.

Unser vierter Themenblock ist die Gegenbewegung der Energiekonzerne, die sog. Renaissance der Atomenergie und was wir dagegen tun können. Welche Strategien brauchen wir, damit wir nicht noch einmal, wie in den 80er und 90er Jahren zurückgeworfen werden.

Der Themenstrang regenerative Energien stellt unsere Zukunftsvision dar. Zukunftsvisionen helfen uns, Resignation und Ängste zu überwinden.

Ich wünsche Ihnen allen /uns allen einen spannenden und anregenden Kongress, mit vielen neuen Begegnungen, Ideen für kommende gemeinsame Aktivitäten, denn auch dafür wird Platz und Zeit sein in den Workshops am Samstag Nachmittag und Sonntag morgen. Hören Sie zu, machen Sie mit.

Die Zukunft, unsere Zukunft, für ein neues solares Zeitalter hat schon begonnen!

Fußnoten

(1) Igor Kostin, Tschernobyl, Nahaufnahme, Verlag Antje Kunstmann GmbH , München 2006)
(2) Prof. Lengfelder, Universität München, persönliche Mitteilung
(3) Laut Angaben der russischen Regierung
(4) Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. März 2006
(5) (Stern.de vom 09.03.06)
Quelle: www.tschernobylkongress.de


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