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Atomwaffen: Der ultimative Terror

"Nur die Abrüstung aller Atomwaffen bringt die Weltsicherheit". Von Xanthe Hall

Im Folgenden dokumentieren wir das Referat, das Xanthe Hall (IPPNW) auf der Erfurter Tagung des Trägerkreises "Atomwaffen abschaffen" am 15. Juni 2002 gehalten hat. Die Zwischenüberschriften stammen teilweise von uns.


"Im Moment verschwinden die Diplomaten und Touristen, während die Journalisten aus Europa und Amerika in Scharen kommen. Viele von ihnen sind im Hotel Imperial in Delhi untergebracht Viele rufen mich an: Warum sind Sie immer noch da? Warum haben Sie die Stadt nicht verlassen? Halten Sie einen Atomkrieg nicht für möglich?

Ja, sicher, aber wohin soll ich gehen? Wenn ich weg gehe und wenn alle Freunde, alle Häuser, die Hunde, Eichhörnchen und Vögel, alles, was ich kenne und liebe, verbrannt sind - wie soll ich dann weiterleben? Wen soll ich lieben und wer wird mich lieben? ...

Die letzte Frage, die jeder Journalist stellt, ist immer dieselbe: 'Schreiben Sie ein neues Buch?' Diese Frage ist eine Verhöhnung. Ein neues Buch? Während die Monster, die diese Welt regieren, Musik, Kunst, Architektur, Literatur und die gesamte menschliche Zivilisation mit Füßen treten, soll ich eine neues Buch schreiben? Welchen Sinn hat jetzt noch ein Buch? Das ist eben das, was Atomwaffen anrichten, ob sie eingesetzt werden oder nicht Sie verletzen alles Menschliche, sie ändern den Sinn des Lebens. Warum tolerieren wir diese Waffen? Warum dulden wir die Männer, die mit ihren Atomwaffen die ganze Menschheit erpressen?"


Das sind die Worte der indischen Schriftstellerin Arhundati Roy. Ich empfehle, den Artikel in seiner Gesamtheit zu lesen. Er bringt zum Ausdruck, wie die Menschen durch Atomwaffen terrorisiert werden. Oder präziser gesagt: wie sie von den Menschen terrorisiert werden, die im Besitz von Atomwaffen sind.

Terror und atomare Bedrohung

Auch wenn ein unmittelbarer Krieg zwischen Indien und Pakistan vorerst gebannt zu sein scheint: Die Gefahr bleibt noch bestehen. Die jüngste Eskalation dieser seit Jahren hochgefährlichen Situation in Südostasien hat ihre Wurzeln in den USA. Der US-Krieg gegen den Terrorismus, der durch die Anschläge am 11. September ausgelöst wurde, hat weltweite Auswirkungen. Überall in der Welt werden Gruppen als Terroristen abgestempelt - in Kaschmir, in Palästina, in Kurdistan, in Kolumbien - auch wenn sie von Manchen als Freiheitskämpfer gesehen werden. Jetzt wird von den jeweiligen betroffenen Regierungen erklärt, dass sie dem Terrorismus ein und für alle Mal eine Ende setzen wollen. Jeder macht seinen eigenen Krieg gegen den Terrorismus. So ist es auch in Indien.

Die Definition von Terror ist laut Wörterbuch: "Schrecken; gewalttätiges, rücksichtsloses Vorgehen, das die Betroffenen in Angst und Schrecken versetzen soll; Gewalt-, Schreckensherrschaft". Der Begriff Terrorismus ist laut Meyers Neues Lexikon "eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche Formen politisch motivierter Gewaltanwendung vor allem durch revolutionäre oder extremistische Gruppen und Einzelpersonen, die auf Grund ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit gegenüber dem herrschenden Staatsapparat mit auf besondere hervorragende Vertreter des herrschenden Systems gezielten, meist grausamen direkten Aktionen die Hilflosigkeit des Regierungs- und Polizeiapparates gegen solche Aktionen bloßstellen, Loyalität von den Herrschenden abziehen und eine revolutionäre Situation schaffen wollen; sie unterscheiden sich durch die Verfügbarkeit bzw. Nichtverfügbarkeit von Macht und Herrschaft und die Form der Gewaltanwendung vom staatlich angeordneten oder,tolerierten Terror, der von Staatsorganen oder von durch diese gedeckten privaten Gruppen durchgeführt wird". Also ist der Terrorismus ursprünglich eine Reaktion auf den Terror des Staates. Und welcher Terror ist schlimmer als die ultimative Bedrohung durch Vernichtung mit Atomwaffen? Ist nicht der Sinn dieser sogenannten "politischen" Waffe, die Betroffenen in Angst und Schrecken zu versetzen; eine Schreckensherrschaft zu errichten?

Ohne Terrorismus zu verharmlosen oder gar zu billigen und ohne beurteilen zu wollen, ob es sich in konkreten Fällen um Freiheitskämpfer oder Terroristen, Guerilleros oder Partisanen handelt, sage ich aus meiner eigenen Erfahrung mit sogenanntem Terrorismus in England: Gewalt als Mittel der Befreiung von Unterdrückung lehne ich ab. Sie ist langfristig wenig effektiv, weil der Staat immer mehr Gewalt und mehr Terror ausüben kann. Dennoch ist es oft nachvollziehbar, warum Menschen Gewalt anwenden, wenn sie lange selbst Opfer der Gewalt sind. Der Frieden in Nordirland wurde nicht von der IRA herbei bombardiert. Im Gegenteil: Erst als die Menschen vor Ort auf beiden Seiten die Gewalt abgelehnt haben, als sie des ständigen Terrors müde waren und den Wunsch nach Frieden äußern konnten, war ein Friedensprozess möglich. Solange aber die Konfliktparteien nicht bereit sind, ihren Konflikt zu lösen, ist es für niemanden möglich, dies zu tun. Und meist fehlt diese Bereitschaft solange eine Partei glaubt, den Konflikt gewinnen zu können. Jede Seite muss erst erkennen, dass es keinen Sieger geben wird, bevor sie einen Ausweg aus der Situation suchen.

"Krieg gegen Terrorismus"

Indien glaubt fest daran, einen Krieg gegen Pakistan sowohl gewinnen als auch ohne Eskalation zu einem Atomkrieg führen zu können. Die nationalistische Regierung Indiens von der hinduistischen BJP wollte das Modell der USA in Afghanistan übernehmen: Sie wollte mit Luftschlägen auf Ziele im pakistanischen Kaschmir anfangen, danach Sondereinheiten mit Hubschraubern einsetzen, die die Terroristen verfolgen und ausschalten sollten. Nach den Anschlägen auf Inder in Kaschmir glaubte Indien, dass die Welt wohlwollend zuschauen würde, wie es sein Terrorproblem erfolgreich in den Griff bekommt. Israel darf es so machen, die USA auch, also warum nicht Indien? Eine gewisse Logik kann man hier nachvollziehen. Indien bekam statt dessen jedoch unglaublich viel Druck aus den USA, aus Russland, aus Großbritannien - also von drei der fünf offiziellen Atomwaffenstaaten.

Unmittelbar nachdem die Entwarnung in dieser konfrontation um die Welt gegangen war, erklärten die USA, dass sie im Krieg gegen den Terrorismus bereit seien, als Erste Atomwaffen als Präventivmaßnahme einzusetzen. Präsident George W. Bush sagte am vergangenen Montag: "Wir werden die neuen totahtären Kräfte mit all unserer Macht bekämpfen". Es kann nicht länger gut gehen, wenn die USA Ländern wie Indien sagen: Wir dürfen Krieg gegen den Terrorismus führen und sogar mit Atomwaffen drohen, Ihr aber dürft das nicht.

Vier Staaten, die Kriege gegen Terroristen führen, sind Atomwaffenbesitzer - USA, Indien, Israel, Russland. Nur im Fall Kaschmir hat auch der Gegner Indiens Atomwaffen. Pakistan hat keine Möglichkeit einen konventionellen Krieg gegen Indien zu gewinnen. Aber welche Möglichkeiten glaubt man zu haben, wenn man unterlegen ist? Guerillakrieg (hier die Definition: ein Kleinkrieg, den irreguläre Einheiten einer einheimischen Bevölkerung gegen eine Besatzungsmacht führen) oder Terrorismus, wo heimtückisch und versteckt agiert wird, mit einem hohem Maß an Selbstopferung und mit einem meist fanatischen Glauben an der Sache als eine gerechte. Oder man nutzt schließlich die Möglichkeit, mit Massenvernichtungswaffen zu drohen, in der Hoffnung, damit die andere Seite vom Krieg abzuschrecken. Natürlich gibt es andere, friedliche Wege, aber die werden leider selten erwogen. Und heute haben wir es ja oft mit einer Mischung aus Terrorismus und Massenvernichtungswaffen zu tun, oder zumindest mit einer Unterstützung des Terrorismus durch Staaten, die Massenvernichtungswaffen besitzen. Das ist mit Pakistan der Fall.

Israel und die Bombe

Salman Rushdie fragt: Ist es wirklich wahrscheinlich, dass Pakistan "eine Atomwaffen an seinen eigenen Bauch kleben, in einen vollen Basar, der sich Indien nennt, hereinspazieren, und sich zum größten Selbstmordattentäter aller Zeiten machen würde?" Ja, es wäre möglich. Wenn nämlich in einem konventionellen Krieg gegen Indien Pakistan Kaschmir verlieren würde, oder wenn infolge einer Niederlage die Wut der Pakistani gegen Musharraf zu einem islamistischen Putsch führen würde und die Atomwaffen in die Hände jener gelangten, die an Selbstopferung als ein hohes Ziel glauben. Es ist möglich, wenn Pakistan glaubt, dass seine staatliche Existenz bedroht wäre. Vor allem ist es möglich, weil in einem Krieg alles möglich ist. Sonst hätte es nicht Hiroshima gegeben und noch weniger Nagasaki.

Die israelische Bombe gilt im Lande als "ultima ratio" (letzte Option), sollte die vollständige Vernichtung Israels drohen. Dies lässt die Regierung wissen, ohne offiziell zuzugeben, dass Israel Atomwaffen besitzt. In der Presse nannte man sie die "Samson-Option", nach der biblischen Geschichte von Samson, der die Säulen des Königspalastes einriss um die Philister zu vernichten. Dabei starb natürlich auch er selbst. Kein anderer Staat beschäftigt sich so viel mit dem Thema Selbstverteidigung und Sicherheit seiner Existenz bis hin zu Selbstmordgedanken wie Israel. Die Wahrnehmung extremer arabischer. Feindlichkeit macht für Israel seine militärische Stärke unabdingbar. Viele in der Welt glauben fest daran, dass Israel seine Atomwaffen wirklich nur in der letzten Minute einsetzen würde. Sie reden vom "Holocaustsyndrom" und "Opfergefühlen", die dazu beitragen, dass die Israelis sich absichern wollen. Es gibt Berichte, dass auf die erste israelische Atombombe "Nie Wieder" geschrieben wurde. Dennoch spricht die Tatsache, dass es so viel taktische und miniaturisierte Atomwaffen besitzt eher dafür, dass sich Israel den Einsatz der Atomwaffen auf einem Schlachtfeld gut vorstellen kann. Auch wenn die israelische Regierung in Wirklichkeit in der Atomwaffenoption einen reinen militärischen Vorteil sieht, wird diese gegenüber der israelischen Bevölkerung als ultimatives Selbstmordattentat verkauft und damit gebilligt.

Täter und Opfer

Die palästinensischen Opfer werden zu Tätern. Mit dem Terror, den sie durch tägliche Selbstmordattentate verbreiten, erzeugen sie nur noch mehr Paranoia bei den Israelis. Sie machen Israel zum Opfer und damit wiederum zum Täter. Wer damit angefangen hat, weiß der Kuckkuck. Und dabei redet keiner über die Atomwaffen, die mitten im Pulverfass stationiert sind. Laut einem Bericht vom "Globe-Intel" vom 29. März 2002 stehen zwei israelische Kampfflugzeugstaffeln mit taktischen Atomwaffen in Alarmbereitschaft in Galiläa, nur Minuten von Syrien entfernt. Zudem seien auf den Golanhöhen an der Grenze zu Syrien nukleare Minen verlegt worden. Diese Atomminen sind laut Globe-Intel Neutronenbomben ähnlich und sollen Menschen töten, während die Infrastruktur intakt bleibt.

Diese Eskalation der militärischen Vorbereitungen sei Folge eines Eil-Berichts des Mossad- Chefs Efraim Halefy an Israels Ministerpräsident Ariel Sharon, von "glaubwürdigen Geheimdienstinformationen", über eine Intervention Syriens und des Irak in der Westbank und in Gaza. Zudem berichte Mossad von Hunderten von Selbstmordpiloten unter Befehl von Saddam Husseins Sohn Qusay` deren Maschinen mit biologischen und chemischen Waffen ausgestattet seien.

Damit kommen wir wieder zum Irak und zum Bösewicht Saddam Hussein. In meinen Augen ist die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes von Atomwaffen gegen Irak binnen zwei bis drei Jahren durch die USA sehr hoch. Es wird, wie Nagasaki, ein Atomtest von einer neuen Art von Atomwaffe, die tief in die Erde eindringen kann und mit auswählbarer Sprengkraft (dial-a-yield) ausgestattet ist. Die Druckwelle der unterirdischen Explosion wird einen großen Krater erzeugen, aber nicht die Zerstörung einer ganzen Stadt. Dafür wird der radioaktive Niederschlag sehr hoch sein, weil der Feuerball dabei durch die Erdoberfläche bricht und große Menge Erde und Trümmer in die Luft schleudert. Der Atompilz setzt sich typischerweise aus einer schmalen Säule und einer rasch aufsteigenden Wolke aus radioaktivem Staub zusammen. Dies bedeutet, dass die verheerenden Auswirkungen einer solchen Bombe vielleicht nicht sofort wahrzunehmen sind, dennoch wird die akute Strahlenkrankheit binnen Stunden und Tagen einsetzen und die Langzeitfolgen werden ausgesprochen schlimm sein. Wir müssen damit rechnen, dass wie schon im 2. Golfkrieg die Öffentlichkeit darüber nichts erfahren wird - weder wird es Informationen über die Verwendung dieser Waffen noch Bilder oder Berichte über ihre verheerenden Auswirkungen geben.

Natürlich ist das alles nur Spekulation. Aber alleine die Entwicklung einer sogenannten "Bunker Buster" bzw. "Mini-Nuke", - und das Geld für die Forschung ist bereits vom US-Congress bewilligt, - beißt, dass mit dem Gedanke über ihren Einsatz zumindest gespielt wird.

"Das Präzisionszielen kann die atomare Sprengkraft, die zur Zerstörung solcher Ziele nötig ist, weitgehend reduzieren. Nur relativ wenige Ziele benötigen eine hohe Atomsprengkraft. Die Vorteile von niedriger Sprengkraft sind: reduzierte Kollateralschäden, Rüstungskontrollvorteile für die USA und die Möglichkeit, dass solche Waffen zu geringeren Kosten und mit mehr Zuverlässigkeit zu haben sind, als die im aktuellen Arsenal." So Stephen Younger, stellvertretender Direktor von Los Alamos.

Hier geht es nicht um Täter und Opfer, Selbstmord oder Abschreckung. Es geht um reines militärisches und politisches Kalkül. Dieser Atomterror der herrschenden Weltmacht USA vermittelt allen anderen Staaten nur eins: der Besitz von Atomwaffen lohnt sich, der Einsatz von Atomwaffen ist denkbar.

Paul Robinson, Direktor des Sandia-Labors:
"Die USA brauchen zweifellos neue Atomwaffen... weil sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Zerstörungskraft der Waffen, die aus dem Kalten Krieg übriggeblieben sind, für die Zwecke der Abschreckung in einer multipolaren Welt mit hohem Proliferationsniveau zu groß ist Wenn wir die Situation nicht ändern, schrecken wir uns nur selbst ab."

Kehren wir zurück zur Definition von Terrorismus. Der 11. September hat die Hilflosigkeit des Staatsapparates verdeutlicht und die US-Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Um das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat wieder zu gewinnen, muss dieser seine absolute Macht zeigen. Es bedarf viel mehr als eines andauernden Krieges gegen Al-Quaida. Man braucht eine Machtdemonstration in der Größe von Hiroshima. Nur ist ein solcher Einsatz tabu. Daher brauchen die USA eine einsetzbare Atomwaffe.

Indien und Pakistan haben dieser Strategie der USA fast eine Ende gesetzt. Ein Atomkrieg in Südasien hätte die Welt wieder aus der Verdrängung dieser Gefahr erwachen lassen und die Menschen daran erinnert, dass nur die Abrüstung aller Atomwaffen, auch die der USA, eine Weltsicherheit bringt.


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