Ein Mahnruf des missachteten Gewissens
62 Jahre nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki
Von Franz Alt *
Heute vor 62 Jahren warfen US-Soldaten erstmals in der Menschheitsgeschichte eine Atombombe.
Ihr Ziel war die südjapanische Stadt Hiroshima. Nur drei Tage später fiel die zweite Atombombe auf
Nagasaki. Am 6. August 1945 starben in Hiroshima 140 000 Menschen, kurz danach in Nagasaki 73
000.
Die USA-Regierung rechtfertigt ihren brutalen Einsatz bis heute mit dem Argument, dass nur durch
die beiden Atombomben der Zweite Weltkrieg im Fernen Osten rasch beendet werden konnte. Bis
zum Jahr 2007 sind noch einmal doppelt so viele Menschen an den Spätfolgen nuklearer
Verstrahlung gestorben – insgesamt über 400 000. Und das Sterben geht bis heute weiter.
Vor kurzem hatten mich die Bürgermeister von Hiroshima und Nagasaki zu Vorträgen eingeladen.
Mein Thema hieß: »Vom Atomzeitalter ins Solarzeitalter«. Wichtigere Orte zu diesem Thema gibt es
wohl nicht. Wer in Hiroshima und Nagasaki mit Strahlungsopfern spricht oder die beiden
eindrucksvollen Gedenkstätten besucht, dem öffnet sich das Tor zur Hölle auf Erden. Im August
1945 geschah ein Massenmord, wie ihn sich die Welt bis dahin nicht vorstellen konnte. Innerhalb
von Sekunden lösten sich Zehntausende von Menschen in Nichts auf, waren allenfalls ein Häufchen
Asche oder für den Rest ihres Lebens verstrahlt und verkrüppelt – nicht wissend, dass ihr Krebs
auch vererbbar sein kann. Diese schreckliche Vermutung ist für viele japanische Mediziner heute zur
Gewissheit geworden. Anders können sie sich die hohe Sterberate auch bei Jüngeren nicht erklären.
Am meisten erschüttert hat mich jedoch eine Zahl, die der Oberbürgermeister von Hiroshima nannte:
Jedes Jahr sterben heute noch über 3000 Menschen an den Folgen atomarer Verstrahlung aus dem
Jahr 1945. Kurz vor meinem Vortrag in Nagasaki schob mir der stellvertretende Oberbürgermeister
einen handgeschriebenem Zettel zu, auf den er die aktuelle Zahl der in seiner Stadt bisher durch
atomare Verstrahlung getöteten Menschen geschrieben hatte: 140 144! Der Physiker Ernest
Sternglas, ein Schüler Albert Einsteins, hat errechnet, dass sich nach den Atombombenabwürfen die
Krebsraten in ganz Japan erhöht haben.
62 Jahre danach liegen Hiro-shima und Nagasaki nicht nur hinter uns, sondern noch immer vor uns.
Wir wissen durch die Diskussion um die Atombombe für Nordkorea und eventuell auch für Iran um
den engen Zusammenhang zwischen der so genannten friedlichen Nutzung der Atomkraft und dem
Bau der Atombombe. In Atomkraftwerken wird der Stoff für die Bombe produziert. Ohne AKW gibt es
keine Atombombe. Wir müssen damit rechnen, dass Atombomben eines Tages auch in die Hände
von Terroristen gelangen, wenn wir das Atomzeitalter nicht hinter uns lassen.
Die Katastrophe von Tschernobyl liegt erst 20 Jahre zurück. Die Internationale Organisation Ärzte
gegen Atomkrieg schätzt, dass durch Tschernobyl bis heute 80 000 Menschen gestorben sind. Aber:
In Tschernobyl wurde etwa 50 mal mehr Radioaktivität freigesetzt als in Hiroshima und Nagasaki
zusammen. Das heißt: Auch Tschernobyl liegt nicht hinter uns, sondern vor uns!
Die Oberbürgermeister von Hiroshima und Nagasaki haben sich schon vor über 20 Jahren
geschworen, dass der atomare Massenmord in ihren Städten von der Menschheit niemals
vergessen oder verdrängt werden darf, und gründeten die weltweite Organisation »Bürgermeister für
den Frieden«, der sich inzwischen über 1700 Bürgermeister und Städte aus 122 Ländern
angeschlossen haben – darunter auch beinahe 300 Städte aus Deutschland. Das Ziel der
Organisation, die über 100 Millionen Menschen vertritt: eine atomwaffenfreie Welt bis zum Jahr
2020.
Hiroshimas Oberbürgermeister Tatadoshi Akiba ist optimistisch: »Da es möglich war, die Bio- und
Chemiewaffen abzuschaffen, ist es natürlich auch möglich, die gefährlichsten Waffen, die
Atomwaffen, abzuschaffen.« Wie wichtig das Erreichen dieses Ziels ist, zeigt die jüngste
Einschätzung der Internationalen Atomenergieorganisation in Wien. Danach war die Gefahr eines
Atomkriegs noch nie so groß wie heute. Tatadoshi Akiba: »Keine andere Stadt der Welt soll jemals
das Schicksal von Hiroshima oder Nagasaki erleiden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen aber
noch viel mehr Städte und Dörfer unserem Bündnis beitreten. Bitte helfen Sie uns auch in
Deutschland dabei. Denn nur durch viel Druck auf die mächtigen nationalen Politiker der
Atombombenbesitzer können wir erreichen, dass die heute weltweit 27 000 Atomsprengköpfe
vernichtet werden. Damit kann die gesamte Menschheit mindestens 20 mal ausgelöscht werden.«
»Es gibt«, sagte mir der stellvertretende Bürgermeister von Nagasaki zum Abschied, »nicht die
geringste Rechtfertigung für die atomare Geiselnahme von Städten.« Hiroshima und Nagasaki
bleiben 62 Jahre nach den ersten Atombombenabwürfen in der Geschichte der Menschheit ein
Mahnruf des missachteten Gewissens.
Hier geht es zur Website von Franz Alt: www.sonnenseite.com
* Aus: Neues Deutschland, 6. August 2007
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