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Kooperative Beseitigung von Atomwaffen geht weiter

Russland und die USA einigen sich auf eine Verlängerung des Programms

Von Wolfgang Kötter *

Der Republikaner Richard Lugar aus Georgia und sein Demokratischer Kollege Sam Nunn aus Indiana sind nicht nur zwei in den USA weithin geschätzte Ex-Senatoren, sondern sie personifizieren ebenfalls eine heutzutage nur noch schwer vorstellbare konstruktive Kooperation zwischen den beiden rivalisierenden Parteien. So sind sie Namensgeber eines seit mehr als zwei Jahrzehnten betriebenen "Programms zur kooperativen Bedrohungsverminderung", das die Gefahr der Verbreitung von herrenlosen Nuklearwaffen und -materialien durch internationale Zusammenarbeit verringern soll. Beide initiierten im US-Kongress ebenfalls das Gesetz „Initiative gegen die nukleare Bedrohung“ (Nuclear Threat Initiative - NTI), das Haushaltsmittel für ein Hilfsprogramm zur Sicherung von Nuklearmaterial im ehemaligen Ostblock bereitstellt. Lange sah es allerdings so aus, als müsste das Programm beendet werden, wenn es am 16. Juni ausläuft und kein Nachfolgeabkommen zustande kommt.

Noch im Herbst vergangenen Jahres hatte Russlands Außenministerium erklärt, der Vorschlag der USA, das Nunn-Lugar-Programm zu verlängern, entspreche nicht der Vorstellung Moskaus davon, wie die Kooperation in diesem Bereich aufgebaut werden sollte. Die gegenwärtige Regelung sei unausgewogen, diskriminierend und es fehle ein moderner rechtlicher Rahmen. Dem entgegnete US-Präsident Obama: „Russland hat erklärt, der Vertrag entspreche nicht den heutigen Realitäten. Machen wir doch, dass er ihnen entspricht. Wir sind optimistisch und halten dies für möglich“. Dementsprechend haben die US-amerikanische Vizeaußenministerin Rose Gottemoeller und ihr russischer Amtskollege Sergej Rjabkow, unterstützt von Vertretern ihrer jeweiligen Verteidigungsministerien, in den vergangenen Monaten intensiv über eine Transformation des Programms verhandelt. Ende Mai dann kam der Durchbruch. „Alle wichtigen politischen Probleme konnten zur Zufriedenheit beider Seiten gelöst werden“, verkündete Pentagonsprecher Kennet Handelman gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Itar-Tass. Verbleibende Hindernisse seien eher administrativer als politischer Art. Grundsätzlich soll die Zusammenarbeit bei der Gefahrenbeseitigung und Vernichtung von Massenvernichtungswaffen sowie deren Komponenten und Ausgangsmaterialien in der Zukunft fortgesetzt und sogar über den bilateralen Rahmen hinaus auf weitere Staaten, darunter auch im Nahen Osten und in Afrika, ausgeweitet werden.

Das Ergebnis kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn das Nunn-Lugar-Programm gehört zu den erfolgreichsten bilateralen Unternehmen auf dem hochsensiblen Gebiet von Sicherheit und Abrüstung. Das Programm umfasst eine Vielzahl von Aktivitäten gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen in Russland, der Ukraine, in Weißrussland und Kasachstan. Eingeschlossen ist ebenfalls die Rückführung von Nuklearmaterial nach Russland aus anderen Transformationsländern Osteuropas wie Albanien, Bulgarien, Polen, Tschechien und Ex-Jugoslawien. Aus den Mitteln des Programms wurden Hunderte Verlegungen von Atomwaffen gesichert sowie die Bewachung von Nuklearwaffen-Lagern verstärkt und modernisiert. Dank dem Programm sind die Ukraine, Kasachstan und Weißrussland heute atomwaffenfrei. Insgesamt erhielt Russland nach US-amerikanischen Angaben rund 8 Mrd. Dollar Unterstützung zur Realisierung derartiger Aktionen und die Obama-Regierung plant, das Budget im kommenden Jahr sogar noch etwas aufzustocken.

Flankierend zu den offiziellen Aktivitäten des US State Departments und des Energieministeriums kümmert sich die Initiative unter anderem darum, bestehende Kernwaffendepots zu sichern und ausgemusterte Nuklearwaffen zu deaktivieren oder zu liquidieren. Im Rahmen des Nunn-Lugar-Programms wurden seit 1991in Russland mehr als 7 600 Atomsprengköpfe entschärft, über 1 500 Interkontinentalraketen, große Mengen an Startrampen für ballistische Raketen, U-Boot-gestützte Raketen und mehr als Dreißig Atom-U-Boote ausgemustert bzw. entsorgt sowie über Dreitausend Tonnen russischer und albanischer Chemiewaffen vernichtet.

Außerdem wurden große Mengen waffenfähigen Spaltmaterials unschädlich gemacht, Testtunnel für Atomwaffenversuche geschlossen und radioaktiv verseuchtes Gelände gereinigt. Ziel vieler kooperativer Projekte ist die Sicherung und Vernichtung von atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen, sowie deren Ausgangsmaterialien, Technologien und Infrastruktur. Und das ist dringend notwendig, denn allein im vergangenen Jahr registrierten die Internationale Atomenergieorganisation IAEA und russische Behörden 160 Fälle tatsächlichen oder versuchten Diebstahls oder Schmuggels von Nuklearmaterial und anderen gefährlichen Substanzen. Davon gibt es auf der Welt mehr als genug. Die schätzungsweise 1 600 Tonnen angereichertes Uran und 500 Tonnen Plutonium würden beispielsweise ausreichen, um mindestens 100 000 Atombomben zu bauen. Das aus der Waffenproduktion, der Atomindustrie und Forschungsreaktoren stammende Material ist auf über 40 Länder verstreut.

Ein nicht zu unterschätzendes Risiko erwächst aus dem Jobverlust Zehntausender Wissenschaftler und hochspezialisierter Techniker, die vormals im Rüstungsbereich tätig waren und später arbeitslos wurden oder ein Leben mit Hungergehältern fristen. Lukrative Angebote anderer Staaten, Terrorgruppen oder krimineller Banden könnten in einer solchen Situation als verführerischer Ausweg für eine neue berufliche Karriere angesehen werden. Um dem entgegenzuwirken, errichtete die Initiative internationale Zentren für Wissenschaft und Technologie, in denen Tausende ehemalige Angehörige des Militärkomplexes der Sowjetunion gemeinsame Forschung und Entwicklung zu friedlichen Zwecken betreiben können. Die jetzt verkündete Einigung ist nach einer Phase unterkühlter Beziehungen zwischen Moskau und Washington vielleicht ein Zeichen der Erwärmung, das auch auf weitere Gebiete von Sicherheit, Rüstungskontrolle und Abrüstung ausstrahlen könnte.

* Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags erschien in: neues deutschland, 17. Juni 2013


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