Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Bedrohlicher als in den 30er Jahren"

Der kubanische Arzt und Friedensaktivist Carlos Pazos über Krise, Rüstung und Atomwaffen

Carlos Pazos Beceiro ist kubanischer Arzt und Friedensaktivist. Er war von 1993 bis 1996 einer der Vizepräsidenten der Organisation Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW). Über die Krisen in der Welt und daraus resultierende Kriegsgefahren sprach mit ihm in Basel für das "Neue Deutschland" (ND) Harald Neuber.

ND: Auf dem jüngsten Weltkongress der Ärzte- und Friedensorganisation IPPNW in Basel stand vor allem die Wirtschaftskrise im Mittelpunkt. Was hat diese Krise mit möglichen Kriegen zu tun?

Carlos Pazos Beceiro: Sehr viel, denn die derzeitigen globalen Probleme gehen sehr weit darüber hinaus, was wir bisher erlebt haben oder aus den Geschichtsbüchern kennen. Wir haben es nicht nur mit einer Wirtschafts- oder gar nur einer Finanzkrise zu tun. Stattdessen sehen wir uns weltweit einer Vielzahl von Problemen gegenüber: einer Umweltkrise, einer politischen Krise, einer militärischen Krise, einer Hungerkrise, einer ethischen Krise und weiterer. Alle diese Probleme wurden ohne Zweifel vom Neoliberalismus verursacht und schüren internationale Konflikte. Das können wir derzeit in jeder Nachrichtensendung sehen. Der belgische Soziologe und Priester Francois Houtart hat das so gesagt: Der Kapitalismus ist in seine bewaffnete Phase eingestiegen.

Ähnelt die gegenwärtige Krise der Lage in den 30er Jahren?

Die Lage ist heute um einiges komplizierter, weil die Weltwirtschaft in stärkerem Maße vernetzt ist. Anhand der Banken lässt sich das gut erklären, denn die ersten Kreditinstitute sind in den USA zusammengebrochen, nur wenige Monate später folgten die europäischen Banken. Das zeigt, wie ernst die Lage ist. Und wenn wir unsere Lage mit ähnlichen Situationen der Geschichte vergleichen, stellen wir etwas sehr Beunruhigendes fest: Nicht jede Wirtschaftskrise hat in einen Krieg geführt, aber jeder Krieg hat mit einer Wirtschaftskrise begonnen.

Der deutsche Ökonom Heiner Flassbeck hat auf dem IPPNW-Kongress regionale Integrationsmodelle als mögliche Lösung vorgeschlagen und auf Lateinamerika verwiesen.

Mit der Gründung des südamerikanischen Bündnisses UNASUR und der Bank des Südens sind in der Tat konkrete Mechanismen geschaffen worden, um gegen die drohenden Gefahren gewappnet zu sein. Die Industriestaaten Europas und die USA sind indes völlig in der Defensive. Dort hieß es doch immer: Warten wir ab, der Markt wird es schon richten. Nun werden allerorts Banken verstaatlicht und die Regierungen übernehmen wieder die Kontrolle. In den erwähnten Staaten bedeutet das, dass die Menschen für die Krise bezahlen, das verursachende System aber weiter besteht.

Wo ist die Verbindung zur Militarisierung?

In Lateinamerika schreitet diese Militarisierung durch die USA massiv voran und dahinter steht eindeutig das Interesse Washingtons an den Bodenschätzen. Leider hat die Menschheit nichts aus der Vergangenheit gelernt, denn offenbar sollen die wirtschaftlichen Konflikte weiterhin militärisch gelöst werden. Das ist eben der große Unterschied zum Kalten Krieg. Ich sage nicht, dass das Gleichgewicht zwischen der Sowjetunion und den USA gut oder richtig war. Aber es war ein Gleichgewicht, das der Welt heute fehlt.

Wenn Sie über das Thema referieren, sprechen Sie, ebenso wie Ihr nicaraguanischer Kollege Antonio Jarquín, von Eurasien.

Weil man diese Regionen – Europa und Asien – gemeinsam betrachten muss. Das an Europa angrenzende Asien birgt viele Bodenschätze und liegt deswegen im Visier der USA. Die Vereinigten Staaten sind aber nicht die einzige Industriemacht, die ein Ressourcenproblem hat. Ebenso geht es Japan und China. Der Streit um die zentralasiatischen Ressourcen wird deswegen massiv zunehmen. In diesem Kontext müssen wir auch den Konflikt mit Iran sehen. Dabei kann niemand garantieren, dass diese möglichen Kriege begrenzt bleiben und nicht auf Europa übergreifen. Es ist das alte Problem: Jeder weiß, wie man einen Krieg beginnen, aber niemand weiß, wie man ihn beenden kann.

Aber wächst vor diesem Hintergrund tatsächlich die Gefahr eines Atomkrieges?

Ja, denn angesichts dieses bedrohlichen globalen Szenarios haben die Atomstaaten kein Interesse an wirklicher Abrüstung. Das hat die Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag in New York gezeigt. Auch wenn manche Akteure optimistisch bleiben wollen, war die Enttäuschung über das laue Ergebnis groß. Zugleich lassen US-Militärs neue Atomwaffen entwickeln, so genannte mini nukes, und schwadronieren über regional begrenzte Atomkriege. Dabei dürfen wir eines nie aus dem Auge verlieren: Der Einsatz von Atomwaffen würde heutzutage das Ende der Zivilisation bedeuten. Und es gibt eine bedrohliche Mischung aus Krisen, konventionellen und atomaren Waffen sowie der Weigerung, den Nichteinsatz von Nuklearwaffen zu garantieren.

Was bleibt also zu tun?

Vor allem müssen wir aktiv bleiben und dürfen uns nicht entmutigen lassen. Und wir müssen die Bevölkerung aufklären. Vor allem die Bevölkerung der Atomwaffenstaaten.

* Aus: Neues Deutschland, 2. September 2010


Zurück zur Seite "Atomwaffen"

Zur Seite "Friedensbewegung"

Zur Kuba-Seite

Zurück zur Homepage