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Unsichtbare Atomraketen

In der US-amerikanischen Prärie lagern unterirdisch die Überbleibsel des Kalten Krieges

Von Rudolf Stumberger *

Auf die Kuba-Krise 1962 reagierten die USA mit der Aufstellung von Minuteman- Atomraketen in den Great Plains. Heute kann man den letzten und einzigen Raketenbunker und das Silo aus dieser Zeit in South Dakota besichtigen.

Der »Bear Butte« im Westen von South Dakota ist ein alleinstehender Hügel, der 300 Meter aus der ansonsten flachen Prärie herausragt. Für die Lakota-Indianer ist er ein heiliger Ort und auf dem Weg zum Gipfel hängen allerorts bunte Gebetstücher an den Bäumen und Sträuchern. Von oben geht der Blick weit hinaus in die Ebene und reicht bis in die Nachbarstaaten Wyoming, Montana und North Dakota.

Doch ein entscheidendes Merkmal dieser Region ließe sich auch mit einem Fernglas nicht entdecken: die mehr als einhundert unterirdischen Atomraketensilos mit ihren Kommandoständen. Hier in South Dakota war eines der Raketenzentren der USA, die im Kalten Krieg für das »Gleichgewicht des Schreckens« sorgten. Einmal abgefeuert, hätten die Minuteman- Raketen mit ihren atomaren Gefechtsköpfen innerhalb von 30 Minuten ihre Ziele in der Sowjetunion erreicht. 1991 unterzeichneten US-Präsident George Bush und der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow den START-Vertrag zur Abrüstung strategischer Waffensystem (START – Strategic Arms Reduction Treaty). In der Folge wurden die Minuteman-Silos in South Dakota deaktiviert, eine von insgesamt sechs Minuteman- Atombasen in sieben US-Bundesstaaten. Heute sind »Delta-09«, ein Raketensilo, und »Delta-01«, ein unterirdischer Befehlsstand, als »Nationales Historisches Denkmal « für die Öffentlichkeit zugänglich.

South Dakota ist einer der Staaten des Mittleren Westens. Dünn besiedelt und schier endlos breitet sich die Prärie bis zum Horizont aus. Quer durch den Bundesstaat zieht sich wie eine Hauptschlagader der Interstate-Highway Nr. 90. Die Ausfahrt 131 führt nach Cactus Flat, der Ort besteht aber eigentlich nur aus einer Tankstelle mit angegliedertem Supermarkt. Und der Kontaktstelle des Badlands-Nationalparks, dem das Silo zugeordnet wurde. Die Badlands sind ein Gebiet mit bizarren Felsformationen, das von den Parkrangern verwaltet wird. Ranger Butch Davids aber hat nichts mit Adlern, Wildkatzen oder Büffeln zu tun, er kümmert sich um die Besucher des Raketensilos.

Wir fahren auf einer unbefestigten Straße hinaus in die weite Ebene der Prärie. Schließlich erreichen wir ein einsam liegendes, flaches Gebäude, umzäunt mit Stacheldraht – hier befindet sich im Untergrund verborgen Delta- 01, eines der ehemaligen Kontrollzentren. Das Gebäude an der Oberfläche beherbergte die Versorgungseinrichtung – Stromgeneratoren, eine Küche, Schlafräume, ein Aufenthaltsraum mit Fernseher, die Wache und die Kommunikationsapparate. In dieser Baracke schob die Mannschaft ihren Dienst: Die acht Männer der Raketensquadron – Offiziere der US-Air- Force –, das Wachpersonal, der Koch und die für die Versorgung Zuständigen. Eine Schicht dauerte drei Tage. Achtmal pro Monat rückten die Bunkerbesatzungen zu einer dieser Schichten aus.

Neben dem Gebäude ist ein gepanzertes Fahrzeug geparkt, mit dem das Gelände kontrolliert wurde. Der eigentliche Kontrollraum aber liegt rund zehn Meter unter der Erde, eine durch Schockabsorber abgefederte Metallkapsel in einer 18 Meter langen Betonschale mit einem Durchmesser von rund zehn Metern, dafür ausgelegt, auch eine Atomexplosion zu überstehen.

Ranger Butch öffnet mit seinem Schlüssel das Scherengitter des Aufzugs und mit ihm fahren wir hinab in die Tiefe. Ein Vorraum führt zu dem eigentlichen Bunker, die letzte Besatzung hat sich hier mit einem Wandgemälde verewigt: Es zeigt eine amerikanische Rakete, die eine Sowjetfahne zerfetzt. Auch das acht Tonnen schwere stählerne Bunkerschott ist auf einer Seite bemalt: »Wir liefern weltweit in 30 Minuten oder weniger«, steht da geschrieben.

Zu dieser Tür hatten nur die beiden Crewmitglieder Zutritt, 24 Stunden lang schoben sie ununterbrochen Dienst im Kontrollraum. Zur Ausrüstung im Inneren des Bunkers gehörten ein Bett mit blauem Sichtvorhang und eine Toilette. Und natürlich die Apparate für die Kommunikation nach draußen und für den Abschuss der Atomraketen. Zehn »Minuteman II« wurden von hier aus kontrolliert, insgesamt waren 150 Raketen in South Dakota stationiert, die in drei »Squadrons« organisiert waren.

Das Herzstück des Bunkers sind die beiden Kommandostände, hier saßen die wachhabenden Offiziere auf ihren Stühlen, einige Schritte voneinander entfernt. Ranger Butch Davis zeigt auf einen Lautsprecher und erklärt: »Hier wäre im Ernstfall der Warnton für den Ernstfall durchgegeben worden. « Danach wäre eine Stimme gekommen: »Stand by! Stand by! Prepare to copy!« – am anderen Ende der Leitung ein Offizier des Hauptquartiers des strategischen Kommandos auf der Air-Force- Base in Nebraska. Die Stimme hätte einen Code durchgegeben: »Bravo, Bravo, Echo, Tango...« Jeder der beiden Kommandeure hätte den Code mit einem Bleistift mitgeschrieben und anschließend verglichen. Hinter den Codes verbargen sich verschiedene Bedrohungsszenarien wie etwa der Anflug von Raketen.

Das Prinzip der Zweierbesatzung war auf gegenseitige Kontrolle angelegt. Ein Offizier allein hätte keine Rakete abfeuern können. Im Alarmfall hätten beide den Safe mit den Startschlüsseln geöffnet. Der Kommandeur hätte dem zweiten Mann den Befehl gegeben, seinen Schlüssel in die Startvorrichtung zu stecken und auf sein Zeichen hin zu drehen. Auch der Kommandeur hätte seinen Schlüssel eingesteckt. Ranger Butch Davis: »Er hätte gezählt – fünf, vier, drei, zwei, eins.« Dann hätten beide ihren Schlüssel gedreht – und der Kalte Krieg wäre ein heißer Krieg geworden. »Es gab nie einen Knopf, auf den man drücken musste«, sagt der Ranger.

Einer der Männer, die hier jahrelang Wache schoben, war David Blackhurst. Früher im Einsatz über Nordvietnam mit der B-52, wechselte er 1974 als Crew Commander zur »44th Strategic Missle Wing« und saß bis 1979 als Kommandant in einem Befehlsbunker. Seine Aufgabe war, ständig alarmbereit zu sein. Der 24-Stundendienst bestand größtenteils aus »Stunden um Stunden bloßer Langeweile, unterbrochen von Sekunden der Panik«, wie Blackhurst später in einem Interview sagte. Er vertrieb sich die Zeit mit Lederhandwerk, andere lasen viel. Einmal hatten sie bereits den Startschlüssel eingesteckt, der Alarm wurde aber abgeblasen.

Wir sind wieder an der Oberfläche und in der Prärie unterwegs, diesmal zu Delta-09, einem der Raketensilos, die von Delta-01 kontrolliert wurden. Die unterirdische Anlage liegt gar nicht so weit von der Autobahn entfernt. Ein Drahtzaun umgibt ein nicht allzu großes, steiniges Areal, in der Mitte eine Plattform aus Beton. »Warning« steht auf einem Schild am Zaun. Auf der Plattform sitzt ein Silodeckel aus Glas und von hier geht der Blick hinunter zu der weißen Minuteman-Rakete. Delta- 09 war von 1963 bis 1991 einsatzbereit, eine von mehr als 1000 Atomraketen, die in der Hochzeit des Kalten Krieges in ihren Silos warteten. Die Minuteman II war eine 18,2 Meter hohe dreistufige Feststoffrakete mit einem Startgewicht von 31,8 Tonnen, vergleichsweise billig zu produzieren und zu handhaben. Sie verfügte über eine Reichweite von 12 000 Kilometern und konnte so theoretisch jeden Ort auf der Erde erreichen. Die Zielgenauigkeit lag bei 900 Metern. Der 1,2-Megatonnen- Gefechtskopf barg eine Zerstörungskraft Dutzende mal so groß wie die Atombombe über Hiroshima. Sie war größer als alle Bomben zusammen, die im Zweiten Weltkrieg von der Air Force über Europa abgeworfen wurden.

Delta-09 ist die einzige Abschussrampe, die nach den Abrüstungsverhandlungen noch erhalten ist. Die anderen wurden gesprengt und mit Erde aufgefüllt, die Raketen entnommen und deaktiviert.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 3. Januar 2013

Minuteman immer noch aktiv

Über 500 Raketen einsatzbereit

1959 begannen die USA mit der Stationierung atomar bestückter Langstreckenraketen in der Vandenberg Airbase in Südkalifornien. Die ersten waren flüssigkeitsgetriebene »Atlas«-Raketen – bis 1964 wurden 120 Stück aufgestellt. Das zweite Modell einer Interkontinentalrakete war die ebenfalls flüssigkeitsgetriebene, rund 30 Meter lange »Titan «. 54 dieser Giganten waren bis 1987 in Arkansas, Kansas und Arizona stationiert. 1962, auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise, wurden die ersten Minuteman-Raketen in Montana aufgestellt. Als Feststoffrakete war sie wesentlich schneller einsatzbereit als die flüssigkeitsgetriebenen Raketen. Bis 1967 wurden in den Präriestaaten Montana, Wyoming, South Dakota und North Dakota rund 1000 Minuteman-Interkontinentalraketen stationiert, die von 100 Befehlsbunkern (wie Delta-01) kontrolliert wurden. Die 150 Raketen in South Dakota waren über eine Fläche von 35 000 Quadratkilometern verteilt.

Nach den Abrüstungsverhandlungen wurde 1994 die »44th Missle Wing« mit dem Hauptquartier auf der Ellsworth Air Base nahe der Stadt Rapid City aufgelöst. Delta-01 und Delta-09 sind die einzig verbliebenen Anlagen. Aber: Heute sind noch 530 aktive Minuteman-Raketen des Typs III in Montana, Wyoming und North Dakota stationiert. Dazu kommen knapp 300 Trident- U-Boot-Raketen mit 1150 Sprengköpfen. 60 strategische Atombomber B 52-H und B-2 sind noch aktiv. Sie können 300 Sprengköpfe befördern. Hinzu kommen rund 200 taktische Atomsprengköpfe.

Die USA haben es 2010 nach eigenen Angaben geschafft, die nach dem Moskauer Abkommen (SORT – Strategic Offensive Reductions Treaty) von 2002 erlaubte obere Grenze von 2200 einsatzbereiten, strategischen Atomwaffen zu erreichen. Laut SIPRI wird das nukleare Arsenal heute auf rund 4900 Atomwaffen beziffert, dazu kommen um die 3000, die nach und nach abgerüstet werden. 2150 Atomwaffen sind »aktiv«, also sofort einsetzbar. Weitere 2750 gelten als Reserve und könnten nach kurzer Vorbereitungszeit dem aktiven Arsenal zugeführt werden. nd




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