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Ein Minischritt

Der neue Atomabrüstungsvertrag zwischen Rußland und den USA ist kein Start in eine Welt ohne Nuklearwaffen. An der Überlegenheit beider Länder ändert er nichts

Von Claus Schreer *

Heute soll der neue zwischen Moskau und Washington ausgehandelte Atomabrüstungsvertrag in Prag feierlich unterzeichnet werden. Er ist das Nachfolgeabkommen für den 1991 abgeschlossenen START-I-(Strategic Arms Reduction Treaty)-Vertrag, der bereits im Dezember 2009 ausgelaufen war. Vorgesehen ist, daß die beiden großen Atommächte die Anzahl ihrer strategischen Nuklearwaffen um 30 Prozent reduzieren. Die Zahl der einsatzbereiten Atomsprengköpfe soll von 2200 (wie im SORT-Vertrag von 2002 beschlossen) auf 1550 für jede Seite reduziert werden. Die strategischen Trägersysteme werden auf jeweils 800 begrenzt. Die Vereinbarungen sollen innerhalb von sieben Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags umgesetzt werden.

»Wir gestalten eine sichere Zukunft für unsere Kinder«, erklärte Obama, als er im Weißen Haus die Einigung mit Moskau über den Abschluß des Abrüstungsabkommens verkündete. In den Medien wurde der neue Vertrag als »historisches Abkommen« und als »Durchbruch« auf dem Weg zur weltweiten atomaren Abrüstung gefeiert. »Schubkraft für Obamas Traum einer Welt ohne Atomwaffen«, titelte die Süddeutsche Zeitung am 29. März. Die Rede ist von »New Start«, obwohl es sich bestenfalls um einen Minischritt, aber noch lange nicht um den Start in eine Welt ohne Atomwaffen handelt.

Nukleare Umrüstung

Die USA und Rußland verfügen über mehr als 90 Prozent der weltweit vorhandenen Atomwaffen, aber eine substantielle Verringerung ihrer Arsenale war nicht Gegenstand der Verhandlungen und steht auch nicht auf der Agenda der US-Politik. In seiner vielbejubelten Prager Rede vor einem Jahr erklärte Obama: »Solange diese Waffen existieren, werden wir ein sicheres und effektives Arsenal unterhalten, um jeden Feind abzuschrecken, und wir werden unseren Verbündeten diese Verteidigung garantieren«.

Die jetzt vorgesehene Reduzierung der Kernwaffenbestände ändert daher nichts an der Überlegenheit beider Vertragsstaaten gegenüber allen anderen Ländern der Welt. Die NATO-Staaten behalten mit 2080 strategischen Atomsprengköpfen (USA: 1550, Frankreich: 345, Großbritannien: 185) ihren Vorsprung gegenüber Rußland. Und gegenüber China, das als fünftgrößte Atommacht über 160 Nuklearsprengköpfe verfügt. Dem asiatischen Land sind sowohl Rußland als auch die NATO-Staaten um das Zehn- bzw. das Dreizehnfache überlegen.

Derzeit konzentriert sich die amerikanische Politik weniger auf Abrüstung als auf Umrüstung der Atomstreitkräfte. Im US-Militärhaushalt 2010 sind weiterhin 16,5 Milliarden US-Dollar für die Modernisierung der Nuklearwaffen, u.a. für die Entwicklung von »Mini-Nukes«, vorgesehen. Um einen weltweiten Prozeß der Kernwaffenverringerung in Gang zu bringen, müßten sowohl die USA als auch Rußland wesentlich drastischere Maßnahmen bei der Reduzierung ihrer Atomarsenale ergreifen. Peking wird sich frühestens dann zu Verhandlungen über die Verkleinerung seines eigenen Nuklearwaffenpotentials bereiterklären, wenn die USA und Rußland auf das chinesische Niveau abgerüstet haben.

Nach Angaben Washingtons sieht der nun vereinbarte Atomabrüstungsvertrag keine Beschränkungen für die Stationierung amerikanischer Raketenabwehrsysteme vor. US-Kriegsminister Robert Gates erklärte am 26. März: »Unser Programm der Raketenabwehr wird durch diesen Vertrag auf keine Weise eingeschränkt.« Angesichts der relativ bescheidenen Reduzierung der Atomwaffenarsenale sieht Rußland offensichtlich das bisher geltende Prinzip der gesicherten gegenseitigen Abschreckung noch nicht als gefährdet an. Es würde jedoch außer Kraft gesetzt, wenn es um wirklich substantielle atomare Abrüstung ginge, die USA aber gleichzeitig an ihrer Raketenabwehr festhalten. Moskau befürchtet, daß jede weitergehende Verkleinerung seines Kernwaffenpotentials die Erstschlagsfähigkeit der USA verbessern werde. Der Verzicht auf die Raketenabwehr ist deshalb die entscheidende Voraussetzung für jede weitere Reduzierung der Nuklearwaffen beider Länder und gleichzeitig die Voraussetzung dafür, daß sich alle anderen Staaten an diesem Prozeß beteiligen.

Erpressungsinstrumente

Worum geht es den Abrüstungsrhethorikern wirklich? Das eigentliche Ziel der US-Politik ist die Errichtung eines effektiven Regimes gegen die Weiterverbreitung von Atomwaffen, mit der Befugnis, Strafmaßnahmen gegen diejenigen durchzusetzen, die sich den westlichen Bedingungen nicht freiwillig unterwerfen. Das war auch der Kern in Obamas Abrüstungsbotschaft. Gleich zu Beginn seiner Prager Rede 2009 erklärte er: »Es ist eine seltsame historische Wendung, daß die Gefahr eines Atomkrieges gesunken, aber das Risiko eines Atomangriffs gestiegen ist. Die Waffentests sind weitergegangen… Die Technologie zum Bau einer Bombe hat sich verbreitet… Unsere Bemühungen, diese Gefahren einzudämmen, konzentrieren sich auf das globale Nichtverbreitungsregime, aber wenn mehr Menschen und Nationen die Regeln brechen, könnten wir an den Punkt kommen, wo das nicht mehr ausreicht.« Mit einem verschärften Nichtverbreitungsvertrag, erklärte Obama, soll ein effektives Instrument geschaffen werden, »das die Herstellung von Brennstoffen zur Verwendung für Nuklearwaffen überprüfbar beendet...Wir brauchen wirkliche und unmittelbare Konsequenzen für Länder, die beim Regelbruch erwischt werden oder den Vertrag grundlos verlassen wollen«.

Im Mittelpunkt der angeblichen Abrüstungsbemühungen steht also nicht die »Welt ohne Atomwaffen«, sondern das Werkzeug zur Erpressung derjenigen Länder, die nicht zum Klub der Atommächte gehören. Die Forderung von »wirklichen und unmittelbaren Konsequenzen« bedeutet aber schlimmstenfalls Krieg. Zweifellos besteht die Gefahr, daß immer mehr Staaten in den Besitz von Nuklearwaffen gelangen und daß atomwaffenfähiges Material auch in die Hände von Terroristen gelangen könnte. Zweifellos muß die Weiterverbreitung solcher Waffen verhindert werden. Und jedem vernünftigen Menschen ist klar, daß mit immer mehr Nuklearmächten die Welt nicht sicherer wird, sondern daß dadurch die Gefahr atomarer militärischer Auseinandersetzungen weiter zunimmt.

Doch die aktuellen Aggressionskriege gehen nicht von den Staaten aus, die keine Atomwaffen besitzen, sondern von den USA und ihren NATO-Verbündeten. Sie setzen mit militärischer Gewalt ihre imperialen Interessen durch und drohen den Ersteinsatz ihrer Atomwaffen auch gegen Staaten an, die keine Kernwaffen besitzen – wie von Obama in der neuen Nukleardoktrin der USA am Mittwoch verkündete.

* Aus: junge Welt, 8. April 2010


Hindernisse auf dem Weg zur globalen Nullösung

Entgegen allen offiziellen Behauptungen der US-Regierung dient die Raketenabwehr nicht dem Schutz vor einem Atomangriff. Ihr Zweck ist ausschließlich die Vereitelung eines Gegenschlags und damit die Freiheit zum Angriff auf jeden denkbaren Gegner. Gegenüber Rußland würde eine Raketenabwehr das bisher geltende Prinzip der gesicherten gegenseitigen Vernichtung (wer als erster schießt, stirbt als zweiter) außer Kraft setzen. Weitere Reduzierungen der Atomwaffenarsenale über das jetzt vereinbarte Maß hinaus hätten zur Folge, daß ein nuklearer Erstschlag gegen Rußland eine reale Option für die USA wäre. Denn je geringer die Anzahl der gegnerischen Atomwaffen, desto effektiver schützt die Raketenabwehr vor einem Gegenangriff und macht unverwundbar. Moskaus Militärexpertenbefürchten deshalb zu Recht, daß es den USA darum geht, »die russischen Atomwaffen auf ein Niveau zu reduzieren, das vom amerikanischen Raketenabwehrsystem neutralisiert werden kann«. (Generaloberst Leonid Iwaschow von der russischen Akademie für Geopolitik, in: UZ, 1. Mai 2009)

Neben dem sogenannten Raketenschild ist auch die unumschränkte, militärische Überlegenheit der USA und ihrer NATO-Verbündeten in der sogenannten konventionellen Kriegsführung ein Hindernis für eine globale Nullösung. Die US-Streitkräfte verfügen über die höchstentwickelten Waffensysteme der Erde, über Kriegsflottenverbände auf allen Weltmeeren und über rund 750 Militärstützpunkte rund um den Globus. Im Zusammenhang mit dem jetzigen Vertragsabschluß hat Moskau darauf hingewiesen, daß von den USA immer neue konventionelle Waffen entwickelt würden – Marschflugkörper und andere Präzisionswaffen, die hinsichtlich der Zerstörungskraft den atomaren in nichts nachstünden und so die Vereinbarungen über die Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen unterlaufen (RIA Nowosti vom 26. März). Die Kriege gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak haben demonstriert, daß die NATO-Mächte ihre Wirtschafts- und Vorherrschaftsinteressen nicht nur mit Erpressung, sondern auch mit Aggressionskriegen durchsetzen. Staaten, die sich durch USA und NATO bedroht sehen, werden deshalb kaum auf atomare Abschreckungswaffen verzichten.

Claus Schreer

** Aus: junge Welt, 8. April 2010


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