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Zielgenaue Militärschläge mit weitreichenden nicht-atomaren Waffen - der Anfang vom Ende der Nuklearrüstung?

Ein Beitrag von Thomas Horlohe aus der NDR-Reihe "Streitkräfte und Strategien"

Andreas Flocken (Moderation):
Die Atomwaffen sollen weltweit reduziert werden. US-Präsident Obama strebt sogar eine atomwaffenfreie Welt an. Durch Abrüstungsschritte soll allerdings nicht die eigene Sicherheit gefährdet werden. In den USA geht man daher seit einiger Zeit ganz neue Wege: Angestrebt wird, einen Teil der strategischen Atomwaffen durch weitreichende Raketen mit konventionellen Sprengköpfen zu ersetzen. Was sich hinter diesem Konzept verbringt, weiß Thomas Horlohe:

Manuskript: Thomas Horlohe

Mitte Juni haben im US-Kongress die Anhörungen zum neuen Rüstungskontrollvertrag zwischen den USA und Russland über strategische Waffen begonnen. Sein Name, New START, soll deutlich machen, dass die Regierung Obama im Verhältnis zu Russland auch auf dem Feld der Rüstungskontrolle einen Neustart anstrebt. Der Vertrag offenbart tatsächlich den Beginn von etwas grundlegend Neuem. Das wird deutlich, wenn man nicht die Frage stellt, was New START künftig verbietet, sondern umgekehrt fragt, was der Vertrag erlaubt. Erstmals geht es in einem Abkommen über strategische Waffen - also Systeme mit einer Reichweite von mehr als 5.000 Kilometern - nicht mehr nur um Atomwaffen, sondern auch um konventionelle Waffen. US-Verteidigungsminister Gates stellte am 17. Juni vor dem Streitkräfteausschuss des Senats klar, dass der neue Vertrag das sogenannte "Conventional Prompt Global Strike"-Programm nicht einschränkt:

O-Ton Gates (overvoice)
"Der Neue START-Vertrag beschränkt uns nicht darin, Fähigkeiten für einen schnellen, weltweiten, konventionellen Militärschlag zu entwickeln oder zu dislozieren, mit denen innerhalb einer Stunde Ziele überall auf der Welt angegriffen werden können. Die vertraglichen Obergrenzen von 1.550 Gefechtsköpfen und 700 Trägersystemen lassen ausreichend Spielraum für die begrenzte Zahl konventioneller Gefechtsköpfe, die wir für diese Fähigkeit benötigen könnten."

Das Konzept vom "Conventional Prompt Global Strike" könnte man übersetzen als "weltweiter Sofortangriff" mit nicht-nuklearen Waffen. Es ist zwar noch nicht Wirklichkeit. Aber über das Stadium einer bloßen Idee ist das Konzept bereits weit hinaus. Diese Fähigkeit, jedes Ziel auf der Welt innerhalb einer Stunde bekämpfen zu können, wird angestrebt und systematisch vorbereitet.

Den Anfang machte die US-Marine bei ihren zwölf ständig auf See befindlichen Atom-U-Booten. Jedes ist mit 24 atomaren Trident II (D-5) Raketen ausgestattet. Nach den Plänen der Navy sollten jeweils zwei dieser Raketen mit je vier steuerbaren, nicht-atomaren Gefechtsköpfen bestückt werden. Der Kongress bewilligte die Haushaltsmittel für die geplante Umrüstung jedoch im Jahr 2003 nicht. Das Parlament hatte Sorge, russische Frühwarnsysteme könnten den Abschuss einer konventionellen Trident-Rakete nicht von dem einer atomar bestückten Trident-Rakete unterscheiden. Das Risiko, versehentlich einen Atomschlag Russlands auszulösen, war den Abgeordneten zu groß.

Dieses Risiko suchte die US-Luftwaffe zu begrenzen. Sie schlug vor, landgestützte Interkontinentalraketen vom Typ Minuteman II oder vom Typ Peacekeeper mit konventionellen Gefechtsköpfen auszustatten und auf neuen Basen, weit weg von den Stützpunkten der nuklear bestückten Raketen gleichen Typs zu stationieren. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, nicht-nukleare Interkontinentalraketen so abzufeuern, dass sie mit einer flacheren Flugbahn ihr Ziel erreichen. Beides wäre von den russischen Frühwarnsystemen zu erkennen.

Mit dem "Prompt Global Strike"-Konzept wird eine verwirrende Zahl von Waffensystemen und Projekten in Verbindung gebracht, die verschiedenste Abkürzungen haben. Klar ist, dass es den USA an ballistischen Raketen mit großer Reichweite als geeigneten Trägersystemen nicht mangelt. Die US-Luftwaffe arbeitet vor allem intensiv an einem neuartigen Gefechtskopf für die künftige nicht-nukleare Rakete. Der HTV-2 genannte, lenkbare Gleitflugkörper soll sein Ziel mit fünf- bis zwanzigfacher Schallgeschwindigkeit ansteuern. Das hört sich zwar futuristisch an. Aber seinen ersten Testflug hat HTV-2 am 22. April absolviert. Derzeit untersucht das US-Verteidigungsministerium, mit welchen Trägersystemen, Gefechtsköpfen und Stationierungskonzepten das "Conventional Prompt Global Strike"-Programm verwirklicht werden kann. Das Ergebnis wird noch in diesem Sommer erwartet.

Doch was macht konventionelle Interkontinentalraketen für das Pentagon so erstrebenswert? Welche Vorteile haben weitreichende konventionelle Waffensysteme gegenüber den zahlreichen Atomraketen?

Nicht-nukleare strategische Waffen versprechen ein zentrales Dilemma abzumildern, in dem sich die Nuklearstrategie von Beginn an befindet: Die Drohung mit Atomwaffen kann zwar den Gegner vom Atomwaffeneinsatz abschrecken. Aber die Furcht vor den Folgen eines Atomkrieges wirkt auch auf denjenigen zurück, der mit Atomwaffen droht. Die Kehrseite von Abschreckung ist also die Selbstabschreckung. Eine historische Lehrstunde in Sachen Selbstabschreckung war die Kuba-Krise von 1962. Sie brachte die Welt an den Rand eines Atomkrieges. Bei den Entscheidungsträgern im Weißen Haus weckte sie den dringenden Wunsch nach militärischen Handlungsmöglichkeiten unterhalb der Schwelle zum unkontrollierbaren Atomkrieg. In der Folge wurden die Strategien abgestuft und die Einsatzpläne für Nuklearwaffen differenziert. Die Strategie der "Massiven Vergeltung" wurde von der Strategie der "Flexiblen Erwiderung" abgelöst. In die Atomkriegspläne wurden sogenannte "Limited Nuclear Options" eingearbeitet, also begrenzte Nuklearoptionen. D.h. für bestimmte Zielkategorien sind spezielle Einsatzszenarien entworfen worden. Dabei wurde eine begrenzte Zahl von Atomwaffen eingeplant, die helfen sollte, die Selbstabschreckung zu verhindern.

Anfang der Achtziger Jahre, also noch mitten im Kalten Krieg, gingen Strategieberater der RAND-Corporation, der wichtigsten militärstrategischen Denkfabrik in den USA, einen radikalen Gedankenschritt weiter. Sie empfahlen konventionelle strategische Waffen als Mittel gegen die Selbstabschreckung:

Zitat RAND (Rosenberg und Builder)
"Nicht-nukleare Waffen könnten Entscheidungsträgern die vergleichsweise verlockende Aussicht auf einen kontrollierten Konflikt bieten, einen, der atomwaffenfrei gehalten werden kann."

25 Jahre später haben sich Satellitenaufklärung und Navigationssysteme dramatisch weiterentwickelt. Sie erlauben heute Präzisionsangriffe auch mit konventionellen Gefechtsköpfen. Experten schätzen, dass bis zu 30 Prozent der Ziele im aktuellen strategischen Operationsplan der USA auch mit nicht-nuklearen Waffen zerstört werden könnten. Angriffsoptionen mit konventionellen Waffen sind schon heute Bestandteil des strategischen Operationsplans der USA. Die hierfür eingeplanten Bomber und Marschflugkörper sind aber nicht schnell genug, um bestimmte Ziele rechtzeitig zerstören zu können. Zum Beispiel sind die im Aufbau befindlichen, zahlenmäßig kleinen Atomstreitkräfte des Iran und Nordkoreas durch schnelle Überraschungsangriffe besonders verwundbar. Sie wären potenzielle Ziele eines "Conventional Prompt Global Strike". Denn es bleibt undenkbar, gegen diese und ähnliche Ziele Atomraketen einzusetzen.

Eine noch anspruchsvollere Zielkategorie sind sogenannte "flüchtige Ziele". Was sich hinter diesem Begriff verbirgt, deuten Militärs mit den Worten an: "Denken Sie an den 11. September." Im Zusammenhang mit einem weltweiten Sofortangriff mit nicht-nuklearen Waffen wird gelegentlich auf ein Ereignis vom 20. August 1998 verwiesen. Kriegsschiffe der Kampfgruppe um den Flugzeugträger "Abraham Lincoln" schossen damals aus dem Arabischen Meer Marschflugkörper vom Typ Tomahawk auf ein Ausbildungslager von Al Qaida im Osten Afghanistans ab. Dort war Osama Bin Laden gesichtet worden. Die Marschflugkörper benötigten für die 1.100 Meilen lange Anflugstrecke rund zwei Stunden. Als sie im Ziel einschlugen, hatte Bin Laden das Lager seit einer Stunde verlassen. Auch damit sich ein solcher Misserfolg nicht wiederholt, streben die USA die Fähigkeit an, mit weitreichenden konventionellen Raketen weltweit jedes Ziel sofort bekämpfen zu können.

Aus: NDR Info; STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN; 3. Juli 2010; www.ndrinfo.de


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