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"Gutdünken des Präsidenten"

Neue Atomwaffen-Einsatzdoktrin der USA vor Verabschiedung*

Die Washington Post enthüllte am 11. September 2005 ein bislang geheim gehaltenes Papier der Stabschefs des US-Militärs, das neue Grundlagen des Einsatzes von Atomwaffen durch die USA entwickelt und die zehn Jahre alte Einsatz-Doktrin ersetzen soll. Der Entwurf, der vom 15. März d.J. datiert, müsse nur noch von Verteidigungsminister Rumsfeld unterzeichnet werden. Die USA haben sich immer das Recht auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen vorbehalten, schreibt der Bundesausschuss Friedensratschlag in einer Pressemitteilung. Der jetzige Entwurf gehe aber über alle bisherigen Einsatzdoktrinen hinaus. "So nennt er zahlreiche Beispiele von Situationen, in denen Kommandeure den US-Präsidenten um eine Genehmigung des Einsatzes von Atomwaffen ersuchen können, die derart umfassend sind, daß der Einsatz letztlich nur noch dem Gutdünken des Präsidenten unterliegt."

In dem Dokument werden nach Informationen des Friedensratschlags folgende Beispiele genannt:

'(a) Ein Gegner, der Massenvernichtungswaffen gegen US-, multinationale oder alliierte Streitkräfte oder Zivilbevölkerungen einsetzt oder dies vorhat.

(b) Unmittelbar bevorstehender Angriff mit gegnerischen biologischen Waffen, die nur durch die Wirkungsweise von Atomwaffen sicher vernichtet werden können.

(c) Angriffe auf gegnerische Einrichtungen einschließlich Massenvernichtungswaffen, verstärkte Bunker mit chemischen oder biologischen Waffen oder die für die gegnerische Durchführung eines Angriffs mit Massenvernichtungswaffen gegen die USA oder ihre Freunde und Alliierte notwendige C2-Infrastruktur [Kommando- und Kontrollstruktur].

(d) Um möglicherweise übermächtigen konventionellen Streitkräften des Gegners, einschließlich mobilen und Gebietszielen (Truppenkonzentrationen) entgegenzuwirken.

(e) Zur schnellen und günstigen Kriegsbeendigung zu US-Bedingungen.

(f) Um den Erfolg von US- und multinationalen Operationen sicherzustellen.

(g) Zur Demonstration der Absicht und Fähigkeit der USA, Atomwaffen einzusetzen, um vor dem gegnerischen Einsatz von Massenvernichtungswaffen abzuschrecken.

(h) Als Antwort auf den Einsatz von durch den Gegner gelieferten Massenvernichtungswaffen durch Stellvertreter gegen US- oder multinationale Streitkräfte oder Zivilbevölkerungen.'

"Fast alles scheint also möglich zu sein", schreibt der Friedensratschlag. Vor allem die beiden zuletzt genannten Beispiele hätten es in sich. "Man stelle sich nur vor, die neue Doktrin wäre bereits im Jahr 2001 gültig gewesen: Atomare Schläge gegen Kabul oder Bagdad wären durchaus denkbar gewesen - mit all den verheerenden Folgen, wie sie die Welt seit Hiroshima und Nagasaki kennt. Und heute ginge die Angst um, die USA erwägten einen Atomangriff auf Isfahan im Iran."

Besonders perfide ist nach Auffassung der deutschen Friedensbewegung eine Aussage in dem Papier, wonach die USA an einer Politik der "Zweideutigkeit" festhalten wolle: Die genannten Beispiele seien mögliche Anlässe für den Gebrauch von Atomwaffen, sie müssten aber nicht unbedingt zu deren Gebrauch führen; andersherum solle offen bleiben, ob nicht auch unter anderen Umständen Atomwaffen eingesetzt werden könnten.

60 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki und fast 10 Jahre nach dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IHG) in Den Haag vom 8. Juli 1996, wonach der Einsatz von Atomwaffen völkerrechtswidrig sei, "einen solchen Entwurf überhaupt zu diskutieren, ist an Zynismus kaum noch zu überbieten", schreibt der Friedensratschlag. "Die Militärpolitik der Bush-Administration ist mit zur größten Bedrohung der Menschheit geworden."

Die Friedensbewegung fordert von der Bundesregierung und allen Parteien, sich unmissverständlich von den Atomkriegsplanungen der USA zu distanzieren. Laut und deutlich müsse auch die Forderung erhoben werden, alle US-Atomwaffen von deutschem Boden zu entfernen und die nukleare Teilhabe (via NATO) aufzukündigen. "Wenn die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel steht, darf es keine falsche Rücksichtnahme auf den Verbündeten geben", meint der Friedensratschlag.

Russland warnt USA vor Veränderung der Nuklear-Doktrin

Der russische Verteidigungsminister Sergei Iwanow hat vor "unüberlegten amerikanischen Schritten" zur Veränderung der US-Nuklear-Doktrin gewarnt. Die Idee proaktiver nuklearer Schläge sei "sehr gefährlich", sagte Iwanow am Rande des Treffens der NATO-Verteidigungsminister in Berlin.

"Die Senkung der Schwelle von nuklearem Waffeneinsatz ist an sich eine gefährliche Sache", so Iwanow. Im Zusammenhang mit der Aufgabe der Nicht-Verbreitung von Nuklearwaffen "sind solche Pläne nicht hemmend, sondern fördernd für die Ausbreitung von Nuklearwaffen, insbesondere in den Schwellenländern.

Iwanow übte Kritik an der bisweilen "herrischen Rhetorik" der NATO und der USA in der Proliferationsdebatte. Begriffe wie "Achse des Bösen" seien nicht hilfreich.

Ärzte gegen den Atomkrieg in Aktion

Die Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) hat 89 Abgeordnete aus den europäischen Ländern, in denen US-Atomwaffen lagern, für eine Anti-Atomwaffen-Politik gewonnen. In einer von der IPPNW initiierten Erklärung fordern die Abgeordneten die Regierungen von Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden, der Türkei und Großbritannien auf, Verhandlungen über den Abzug der US-Atomwaffen in Europa aufzunehmen und die so genannte "nukleare Teilhabe" zu beenden.

Anlässlich des Treffens der NATO-Verteidigungsminister am Dienstag in Berlin sammeln Ärzte und Studierende der Organisation und Mitglieder des Deutschen Friedensrates in der deutschen Hauptstadt Unterschriften für den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland.

"Angesichts der neuesten Veröffentlichung der US-Atomwaffendoktrin muss sich Europa von den US-Atomwaffen verabschieden. Sonst droht uns durch die nukleare Teilhabe eine Verwicklung in einen 'präventiven' atomaren Anschlag", so Ute Watermann von der IPPNW.

Die Abrüstungsexpertin der Vereinigung, Xanthe Hall, verwies auf die Rechtslage: "Die Bereitstellung von deutschen Piloten und Flugzeugen für Atomwaffeneinsätze ist ein Widerspruch zum deutschen Verzicht auf Atomwaffen, der im 2+4-Vertrag verankert ist", meint Hall.

NATO-Verteidigungsministertreffen: Große Übung der "NATO Response Force"

Im Mittelpunkt des NATO-Verteidigungsministertreffens vom 13. bis 14. September in Berlin wird nach Angaben der deutschen Bundesregierung neben der "Transformation der Allianz" auch "die Leistung der NATO Response Force" stehen. Diese schnelle Eingreiftruppe solle im Herbst nächsten Jahres im Rahmen einer großen Übung in der Republik Kap Verde "ihre volle Einsatzbereitschaft" erlangen. Deutschland, so Verteidigungsminister Peter Struck, habe hier "immer alle seine Verpflichtungen erfüllt".

Das Konzept für die NATO Response Force sieht laut Bundesregierung vor, binnen fünf Tagen erste Verbände in jedes Krisengebiet der Welt verlegen zu können. Die vollständige "Streitmacht" solle dann in der Lage sein, rund 30 Tage autark im Operationsgebiet agieren zu können. Nach Erlangung der vollständigen Einsatzbereitschaft im Oktober 2006 solle sie über Landstreitkräfte bis zur Brigadestärke, Seestreitkräfte bis zur Stärke einer "NATO Task Force", einschließlich einer Flugzeugträgergruppe, sowie Luftstreitkräfte mit genügend Luftfahrzeugen und Führungseinrichtungen für 200 Einsätze pro Tag plus zusätzlicher Unterstützungsflüge verfügen.

Die schnelle Eingreiftruppe der NATO habe im Oktober 2004 ihre vorläufige Einsatzfähigkeit erreicht. Die volle Einsatzbereitschaft mit etwa 21.000 Soldaten werde bis spätestens Oktober 2006 angestrebt.

Am zweiten Tag des Verteidigungsminister-Treffens soll es vor allem um die derzeitigen Kriegseinsätze der NATO gehen. Derzeit sei die NATO in Afghanistan, im Kosovo und im Sudan aktiv. Struck plane, seine Vorstellungen für ein erweitertes Bundestagsmandat für Afghanistan seinen Kollegen vorzustellen. Das derzeitige Engagement Deutschlands solle auf den gesamten Norden des Landes ausgeweitet werden, der Einsatz von bis zu 3.000 Bundeswehrsoldaten solle "flexibler" gehandhabt werden.

Zudem sei geplant, mit 16 Nationen einen Vertrag über den "Strategischen Lufttransport" zu schließen. 2002 habe die NATO mit den "Prague Capabilities Commitments" beschlossen, "Fähigkeitslücken" zu schließen. Dabei seien verschiedene Arbeitsgruppen eingerichtet worden, von denen die Bundesrepublik die Leitung des Projekts "Strategischer Lufttransport" übernommen habe. Dieser Teil werde nun erfüllt. Mit zwei Transportflugzeuge vom Typ Antonov, die innerhalb von 24 Stunden, und vier Antonov, die in neun Tagen einsatzbereit seien, könne die NATO demnächst schneller auf "Krisen" reagieren.

Pflüger: "Größtmögliche Beteiligung Deutschlands an den schnellen Interventionstruppen"

Der Europaabgeordnete Tobias Pflüger kritisierte in einer Pressemitteilung, dass sich Deutschland "mit jeweils stärkstem Anteil" in weltweit einsetzbaren Interventionsstreitkräften hervortue. Dies scheine "ein besonderes Kennzeichen der rot-grünen Außenpolitik zu sein", so Pflüger. Auch in der EU setzten Kanzler Schröder und Außenminister Fischer auf Militarisierung, insbesondere auch in Bezug auf die geplanten 13 "Battle Groups" der EU.

"Es ist einfach ein Skandal, dass eine Regierung, die vor sieben Jahren mit der Maxime 'deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik' angetreten ist, die größtmögliche Beteiligung Deutschlands an den schnellen Interventionstruppen von NATO und EU zu ihrem Markenzeichen gemacht hat", meint Pflüger. "Die 'Friedens'plakate von SPD und Grünen zur Bundestagswahl sind völlig unglaubwürdig."

* Aus: Internetzeitung ngo-online: www.ngo-online.de, 13. September 2005


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