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"Der Apparat des Kalten Krieges bleibt bestehen"

Die neue Nukleardoktrin der USA läßt die Möglichkeit der gegenseitigen Zerstörung unangetastet. Ein Gespräch mit Jonathan Schell

Jonathan Schell ist Friedensforscher, vielfacher Buchautor und Kolumnist der linksliberalen US-Zeitschrift The Nation. Er lehrte u.a. an der Yale University.



Am 8. April haben die USA und Rußland ein Abrüstungsabkommen geschlossen, wonach die Zahl der Atomsprengköpfe um ein Drittel verringert werden soll. Ist das ein Schritt in die von Obama in Aussicht gestellte atomwaffenfreie Welt?

Ich bin von der neuen Nukleardoktrin des Weißen Hauses enttäuscht, auch wenn in der »Nuclear Posture Review« sicherlich gute Elemente enthalten sind, wie die Reduzierung der Zahl der Sprengköpfe. Neuentwicklungen oder Atomtests soll es nicht mehr geben, während ein gutes Inspektionssystem vorgesehen ist, das unter dem früheren US-Präsidenten George W. Bush nicht funktionierte. Auch die Idee, »die Möglichkeit von Kriegen ohne den Einsatz von Atomwaffen zu untersuchen«, finde ich interessant. Das ist ein Punkt, der in den Kommentaren wenig Beachtung fand.

Was gefällt Ihnen nicht?

Der gesamte Apparat des Kalten Krieges bleibt bestehen. Das ist lächerlich und absurd. Wir haben weiterhin die Möglichkeit der gegenseitigen Zerstörung. Der Finger bleibt am Abzug, und an der Bereitschaft zum Einsatz dieser verheerenden Waffe ändert sich nichts. Meiner Ansicht nach ist es beleidigend, daß die Erstschlagsstrategie nicht endlich ad acta gelegt wird.

Teheran und Pjöngjang wurden von Bush als Hauptstädte von »Schurkenstaaten« bezeichnet. Obama benutzt diesen Begriff zwar nicht, für Verteidigungsminister Robert Gates ist das aber eine deutliche Botschaft an die Adresse von Iran und Nordkorea. Was halten Sie davon?

Das ist eine schreckliche Botschaft, sie bedeutet nämlich, daß wir sie angreifen werden, wenn sie weiterhin den Sperrvertrag verletzen. Unglaublich! Obama wiederholt genau wie Gates, daß man sich »alle Optionen offen hält«, also auch die atomare. Da fragt man sich, unter welchen Umständen der US-Präsident auf den roten Knopf drücken würde. Ich glaube zwar nicht, daß das Weiße Haus das Nukleararsenal wirklich einsetzen will, aber wenn dem so ist, warum sagen sie es dann nicht?

Obama hatte vor einem Jahr ebenfalls in Prag von einer atomwaffenfreien Welt geträumt. Wie realistisch sind solche Visionen angesichts der harten Fakten?

Dieser Präsident hat uns an große Versprechungen gewöhnt. Das Ergebnis ist aber immer wesentlich weniger kühn als die Ankündigung -- egal ob es um Finanzen, militärische Angelegenheiten oder die Gesundheitsreform geht. Ich frage mich, wer in seiner Regierung, außer ihm selbst, eigentlich eine atomwaffenfreie Welt will. Da fällt mir trotz langen Nachdenkens keiner ein. Obama kämpft mit der Bürokratie, und heraus kommt dann bestenfalls ein Kompromiß wie dieser.

Wie schneidet Obama im Vergleich zu seinen Vorgängern ab?

Sicherlich besser als Bush, einem Champion der Drohung mit nichtnuklearer Bombardierung. Bill Clinton hingegen hat sich als Präsident am Ende des Kalten Krieges nie wirklich für die Atomfrage interessiert.

Wer sind Ihrer Meinung nach die schärfsten Gegner einer Reduzierung auf Null?

Mit Sicherheit einige Politiker in Rußland. Moskau hat sich in den letzten Jahren auf sein Atomarsenal gestützt, weil andere Elemente seiner Macht geschrumpft sind. In den USA findet man die Gegner im Nationalen Sicherheitsrat, im Energieministerium und natürlich unter den zahlreichen Veteranen des Kalten Krieges.

Interview: Raoul Rigault

* Aus: junge Welt, 19. April 2010


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