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Neue US-Strategie für Atomkrieg: Wie wird Russland antworten?

Die Federation of American Scientists (FAS) schlägt Washington eine neue Konzeption der atomaren Abschreckung vor.

Von Ilja Kramnik *

In ihrem Bericht über eine neue Atomdoktrin schlagen die US-Forscher vor, die Abschreckung durch Neuausrichtung der Raketen auf die wichtigsten Wirtschaftsobjekte, deren Vernichtung zur "Lähmung der russischen Wirtschaft" führen werde, zu verwirklichen.

FAS ist eine der angesehensten und ältesten nichtstaatlichen Organisationen in den USA. Sie wurde 1945 als "Federation of Atomic Scientists" gegründet, und zwar von Teilnehmern des Manhattan Projects, die die amerikanische Atombombe entwickelt hatten. Heute beschäftigt sich FAS unter anderem mit Studien im Bereich des weltweiten militärischen und atomaren Gleichgewichts, der nuklearen Eindämmung und Abrüstung.

Nach Ansicht der Forschervereinigung ist die gegenwärtig gültige Konzeption der atomaren Abschreckung, die die Ausrichtung ballistischer Raketen auf die Atomwaffenkräfte und Großstädte des Gegners vorsieht, überaltert. Um einen irreparablen Schaden zuzufügen, genüge es, so die amerikanischen Experten, die wirtschaftlich wichtigsten Objekte zu treffen, was das Land um die Möglichkeit der Kriegsführung bringen werde.

Die Liste der Ziele in Russland, die zur effizienten Abschreckung genügen, enthält zwölf Objekte. Am meisten vertreten sind dabei Hüttenwerke: die Kombinate von Magnitogorsk, Nischni Tagil und Tscherepowez (gehören dem Hüttenkombinat MMK, der Montanholding Evraz und Severstal), Norilsk Nickel, ferner die Rusal gehörenden Aluminiumwerke von Bratsk und Nowokusnezk.

Außerdem stehen auf der Liste drei Ölraffinerien: in Omsk (Gazpromneft), Angarsk (Rosneft) und Kirischi (Surgutneftegas). Nicht vergessen wurden auch Energiewirtschaftsobjekte: die Stromkraftwerke Berjosowskaja GRES (gehört dem Stromproduzenten OGK-4, Hauptaktionär ist der deutsche Konzern E.ON), Sredneuralskaja GRES (OGK-5 und die italienische Enel) und Surgutskaja GRES-1 und -2 (GRES-1 gehört dem Gazprom-Unternehmen OGK-2, GRES-2 gehört dem OGK-4 /E.ON/).

Das Wesen der Konzeption ist nicht neu. Die Pläne der atomaren Abschreckung, die während des Kalten Kriegs ausgearbeitet wurden, sahen ebenfalls die Vernichtung der für die Wirtschaft der einander gegenüberstehenden Seiten lebenswichtigen Unternehmen vor - dies als Zusatz zur Vernichtung des Militärpotenzials und der Soldaten des Gegners.

Veränderungen bestehen nur in der Anerkennung der Tatsache, dass es, um einem modernen entwickelten Staat einen irreparablen Schaden zuzufügen, gar nicht nötig ist, Dutzende Millionen seiner Bürger und all seine bewaffneten Kräfte zu vernichten.

Es genügt, seine Wirtschaft lahmzulegen, und das Land verliert die Möglichkeit der Kriegsführung. Der darauf eintretende Wirtschaftskollaps mit all seinen Folgen wird nicht weniger Menschen vernichten als ein direkter Abwurf von Atombomben.

Die neue Atomdoktrin Washingtons geht von einer bedeutenden Reduzierung der Nuklearpotenziale der USA und Russlands aus. Mit Rücksicht auf die Entwicklung des Raketenabwehrsystems und der beträchtlichen Überlegenheit der konventionellen Kräfte ist es für die USA jetzt viel vorteilhafter, das Niveau der nuklearen Konfrontation zu senken, denn das erlaubt es im Endergebnis, mit dem Sieg im eventuellen Atomwaffenkrieg zu rechnen.

Für Russland dagegen ist eine solche Reduzierung absolut ungünstig. Unser Land kann es sich gegenwärtig nicht erlauben, ein Nuklearpotenzial zu haben, das durch das amerikanische Raketenabwehrsystem vernichtet werden könnte. Demnach kann der neuen Atomdoktrin Amerikas nur eine feste Position bei den Verhandlungen mit den USA über eine Reduzierung strategischer Waffen entgegengesetzt werden.

Russlands Interessen bei diesen Verhandlungen lassen sich in vier Thesen zusammenfassen.

Erstens: Eine genaue Ober- und Untergrenze der Nukleararsenale. Bei der Obergrenze geht es darum, die Einbeziehung in ein neues ruinöses Wettrennen zwischen den Atomwaffenarsenalen zu vermeiden, bei der Untergrenze darum, die Reduzierung der Nukleapotenziale nicht bis zu einem Niveau zuzulassen, auf dem unsere Waffen durch die US-Raketenabwehr (ABM) vernichtet werden könnten.

Zweitens: Reduzierung und strikte Begrenzung des so genannten wiederverwendbaren Potenzials (Gefechtsblöcke und Träger, die gelagert werden).

Drittens: Beschränkung der Entwicklung der Raketenabwehrsysteme, die den Schutz vor einem massierten Schlag von ballistischen Interkontinentalraketen (ICBM) mit einzeln lenkbaren Mehrfachsprengköpfen ausschließt. Zugleich damit müssen die Beschränkungen die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen erlauben, die vor Angriffen unter Einsatz von Kurz- und Mittelstreckenraketen sowie vor ICBM-Einzelstarts schützen.

Viertens schließlich Beschränkungen für den Aufbau nichtnuklearer Präzisionswaffen mit großer Reichweite (Marschflugkörper), die zur Vernichtung der gegnerischen Atomwaffenkräfte eingesetzt werden können.

Die Behauptung dieser Positionen wird es Russland trotz der Annahme neuer Konzeptionen ermöglichen, sein Potenzial als eine der zwei weltweit führenden Atomwaffenmächte zu bewahren. Sonst garantiert sein Nuklearpotenzial die Sicherheit des Landes vor einem Atomwaffenschlag nicht mehr.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 20. April 2009


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