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Drei Schritte vor und mindestens zwei zurück

US-Präsident Barack Obama und die Zukunft der Atomwaffen

Von Otfried Nassauer *

Der Präsident der USA wird von Politikern und Medien für seine Abrüstungsinitiativen gelobt. Unterm Strich jedoch fällt die Rüstungsreduzierung viel geringer aus als angenommen – Modernisierungsprogramme für Nuklearsysteme werden sogar fortgesetzt. Zudem wird die deklaratorische Politik Obamas an der praktischen Atomstrategie in den nächsten Jahren nichts ändern.

Für Barack Obama stand die erste Hälfte des Aprils ganz im Zeichen des Atoms. Ein Jahr nach seiner Prager Rede, in der sich der US-Präsident die Vision einer Welt ohne atomare Waffen zu eigen gemacht hatte, wollte Obama demonstrieren, dass er seinen Worten auch Taten folgen lässt. Unmittelbar nach Ostern legte er den lange erwarteten »Nuclear Posture Review 2010« vor, eine Blaupause seiner Nuklearpolitik für die kommenden Jahre. Nur zwei Tage später unterzeichnete Obama ein »Neues START-Abkommen« und einigte sich mit Russland auf neue Obergrenzen für strategisch-nukleare Waffen. Kurz darauf folgte auf Einladung Obamas ein »Nuklearer Sicherheitsgipfel«, an dem 47 Staats- und Regierungschefs teilnahmen und sich zu verbesserten Sicherheitsmaßnahmen für nukleare Materialien verpflichteten. Ein Feuerwerk der Ereignisse, das eine genauere Betrachtung verdient.

Neue Töne in der US-Nuklearpolitik

Die gute Nachricht zuerst: Der Nuclear Posture Review (NPR) nimmt das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt explizit auf und stellt zudem fest, dass es »im Interesse der USA und aller anderen Nationen« liege, wenn der »fast 65 Jahre andauernde Rekord, Nuklearwaffen nicht einzusetzen, auf ewige Zeiten ausgedehnt werden« könne. Solche Töne waren in der Geschichte der US-Nuklearpolitik selten zu hören und in der Zeit George W. Bushs ganz sicher gar nicht. Die »fundamentale Aufgabe und Rolle« nuklearer Waffen ist es jetzt, »einen nuklearen Angriff auf die USA, ihre Alliierten und Partner abzuschrecken«. Ziel sei es, die Rolle nuklearer Waffen weiter zu reduzieren, so dass die Abschreckung eines Nuklearangriffs künftig die »einzige Aufgabe« nuklearer Waffen werde. Vorerst aber müsse an der Option eines Nuklearwaffeneinsatzes noch festgehalten werden, um »unter extremen Umständen die vitalen Interessen der USA, ihrer Verbündeten und Partner zu verteidigen«.

Auch die sogenannte Negative Sicherheitsgarantie für die nichtnuklearen Mitglieder des Atomwaffensperrvertrags (NVV) wird im NPR neu gefasst und klarer formuliert: Die »Vereinigten Staaten werden Staaten, die nicht-nukleare Mitglieder des Nichtverbreitungsvertrages sind und ihre nuklearen Nichtverbreitungsverpflichtungen erfüllen, nicht mit dem Einsatz nuklearer Waffen drohen oder Nuklearwaffen gegen (diese) Staaten einsetzen«. Die Garantie gilt explizit auch dann, wenn einer dieser Staaten biologische oder chemische Waffen einsetzen sollte. Rechnen müssen mit der nuklearen Drohung Washingtons künftig also nur noch Nuklearmächte und Staaten, die ihre Verpflichtungen aus dem NVV nicht einhalten. Im Klartext: Nordkorea und Iran. Dass Washington sich gegen diese Staaten auch die Möglichkeit offen hält, auf einen Chemiewaffensatz mit einem Nuklearwaffeneinsatz zu antworten, ist einer der wenigen indirekten Hinweise darauf, dass die USA auch künftig nicht auf die Möglichkeit verzichten, Nuklearwaffen als erste einzusetzen.

Der NPR beschreibt die Gefahr, dass Terroristen an das Material für eine Nuklearwaffe gelangen oder gar eine Nuklearwaffe einsetzen könnten, als die größte Bedrohung der Gegenwart. Als zweite große Bedrohung wird die weitere Verbreitung atomarer Waffen an zusätzliche Staaten betrachtet. Erst an dritter Stelle steht die Wahrung der »strategischen Stabilität« mit Blick auf die anderen Nuklearmächte, vor allem Russland und China. Die Wiederbelebung und Stärkung des Nichtverbreitungsregimes wird deshalb zur Priorität in der Nuklearpolitik Obamas erklärt. Auch das geschieht zum ersten Mal in einem Dokument zur strategischen Nuklearpolitik der USA. Deutlich sichtbar wird das Bemühen, sich von der Nuklearpolitik der Regierung Bush klar abzusetzen und den Boden für eine konstruktive Atmosphäre bei der Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages im Mai zu bereiten.

Wenig Einfluss auf reale Militärstrategie

Diese deutlichen Änderungen finden allerdings auf der Ebene der deklaratorischen Politik statt und haben auch den einen oder anderen Haken. Wer entscheidet zum Beispiel, ob ein Staat seine Nichtverbreitungsverpflichtungen einhält? Der Präsident oder die Vereinten Nationen? Auf Basis von nachprüfbaren Beweisen oder aufgrund geheimdienstlicher Hinweise? Zudem müssen Obamas politische Vorgaben erst noch ihren Niederschlag in Strategiedokumenten, Ziel- und Operationsplänen finden. Das kann etliche Jahre dauern, und bis dahin gelten die Vorschriften aus der Zeit George W. Bushs. Die Hoffnung, ein künftiger republikanischer Präsident könne Obamas deklaratorische Politik widerrufen, kann zudem Verzögerungen nach sich ziehen. Eine Umsetzungsgarantie für die neue Grundausrichtung gibt es also nicht.

Dass solche Befürchtungen nicht unberechtigt sein müssen, verdeutlichen die Aussagen des NPR zur Zukunft der Nuklearstreitkräfte und die Ergebnisse der START-Verhandlungen. Für beide war offensichtlich der Blick auf die Nuklearpotenziale der anderen Nuklearwaffenstaaten maßgeblich, nicht aber die geänderte Prioritätensetzung der deklaratorischen Nuklearpolitik Obamas.

Der Neue START-Vertrag begrenzt die Zahl strategisch-nuklearer Trägersysteme beider Vertragsparteien auf je 800 Systeme, von denen 700 aktiv sein dürfen, und die Zahl der anrechenbar stationierten Sprengköpfe auf je 1550. Washington und Moskau heben hervor, dass damit die Zahl der Trägersysteme im Vergleich zum ausgelaufenen START-Vertrag um mehr als die Hälfte reduziert wird und die Zahl der Sprengköpfe um 74 Prozent. Im Vergleich zum Moskauer SORT-Vertrag von 2002 ergebe sich ein Minus von 30 Prozent. Was wie eine substanzielle neue Abrüstungsverpflichtung aussieht, erfordert faktisch jedoch nur sehr kleine Abrüstungsschritte. Das liegt zum einen daran, dass beide Seiten schon heute weit unter den alten START-Grenzen liegen, und zum anderen daran, dass veränderte Zählregeln bei den Langstreckenbombern zu künstlich kleingerechneten Sprengkopfzahlen geführt haben. Langstreckenbomber mit Marschflugkörpern zählen künftig nur noch als eine stationierte Nuklearwaffe, bislang zählten sie als zehn. Faktisch tragen sie sogar bis zu 20 Atomwaffen. Im Ergebnis dürfen beide Parteien einige Hundert Waffen mehr stationieren als die offiziell vereinbarten 1550.

Wie schon START und SORT, so macht auch der neue Vertrag den Parteien keine Vorschriften, wie viele nicht-stationierte Sprengköpfe sie in Reserve halten dürfen, die reaktiviert werden könnten oder noch nicht delaboriert wurden. Heute besitzen Moskau und Washington zusammen etwa 4800 stationierte Waffen, insgesamt aber noch rund 22 000 nukleare Sprengköpfe. Bei den Trägersystemen müssen die USA einige Dutzend ausmustern, Russland dürfte sogar noch aufrüsten, wenn es sich das leisten könnte. Es hat nur noch 566 stationierte Trägersysteme. Die Aussagen des NPR zur Zukunft der US-Nuklearstreitkräfte spiegeln Obamas Vision einer atomwaffenfreien Welt kaum. Der NPR befürwortet die Modernisierung nuklearer Sprengköpfe. Das Modernisierungsprogramm für die U-Boot-Sprengköpfe vom Typ W-76 soll zu Ende geführt werden.

Die Modernisierungsmöglichkeiten für die Raketensprengköpfe vom Typ W-78 sollen untersucht werden und die umfassende Modernisierung der Atombomben der B-61-Familie soll eingeleitet werden: Das künftige Modell, die B-61-12, soll alle heute noch vorhandenen Bomben der Typen B61- 3, -4, -7 und -10 ersetzen. Fast zwei Milliarden Dollar sind allein für die nächsten fünf Jahren vorgesehen. Zwar hält der NPR fest, dass keine neuen Nuklearwaffen, keine neuen nuklearen Fähigkeiten und keine neuen nuklearen Aufgaben entwickelt werden sollen, aber die zuständige Nationale Nukleare Sicherheitsadministration hat sich die Möglichkeit gesichert, alle konventionellen und – wenn der Präsident zustimmt – auch alle nuklearen Komponenten der Nuklearwaffen verändern zu können. Voraussetzung für Änderungen an den nuklearen Komponenten ist, dass die Sicherheit der Waffen oder deren Funktionsfähigkeit verbessert oder die Wahrscheinlichkeit der Notwendigkeit künftiger Atomwaffentests verringert werden kann. Unterschiede zu den Plänen für eine neue Generation verlässlicher Ersatzsprengköpfe (RRWs) sind kaum auszumachen.

Keine Klarheit über Trägersysteme

Die USA werden auch an der Triade ihrer nuklearen Trägersysteme festhalten und diese nur geringfügig verändern. Alle 450 Interkontinentalraketen sollen künftig nur noch einen Sprengkopf tragen. Ob deren Zahl künftig verringert werden soll, ob weitere Langstreckenbomber ausschließlich konventionelle Aufgaben erfüllen sollen und ob zwei weitere Raketen-U-Boote außer Dienst gestellt werden, das wird erst entschieden, nachdem geklärt wurde, mit welchen Trägersystemen die USStreitkräfte künftig das Konzept der Prompt Global Strikes mit konventionellen Langstreckenwaffen umsetzen sollen.

Die wesentlichen Modernisierungsvorhaben für die Trägersysteme werden deshalb weitergeführt. Die 450 Interkontinentalraketen vom Typ Minuteman 3 sollen weitere Jahrzehnte einsatzbereit bleiben. »Praktisch jedes Inch« der Rakete werde deshalb modernisiert und ein Teil der Raketen erhalte zudem modernere Wiedereintrittsflugkörper aus MX-Raketen, erläuterte Generalleutnant Frank G. Klotz dem Senat. Die Trident-Raketen der U-Boote sollen modernisiert bis 2042 im Dienst bleiben. Alle Bombertypen werden technisch aktualisiert und Vorarbeiten für völlig neue Trägersysteme werden vorangetrieben. Dazu gehören ein neuer weitreichender Marschflugkörper und erste Konzepte für einen neuen Bomber. Die Konzeption eines neuen Raketen-U-Boots ist bereits angelaufen. Der Bau soll 2019 beginnen und eine »ununterbrochene strategische Abschreckung in die 2080er Jahre« sicherstellen, sagt Stephen Johnson, der zuständige Admiral.

Diese Entscheidungen stehen in deutlichem Kontrast zu den Äußerungen im politischdeklaratorischen Teil des NPR. Sie signalisieren, dass die Vereinigten Staaten auch bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts über modernste Nuklearstreitkräfte verfügen wollen und vermitteln den Eindruck, als sei die Vision einer atomwaffenfreien Welt eine Vision für das 22. Jahrhundert.

Innenpolitischer Zwang für Obama

Innenpolitische Notwendigkeiten dürften wesentlich dazu beigetragen haben, dass sich im Nuklearwaffenpotenzial der USA nur wenig ändert. Zum einen machte der Kongress Obama im Haushaltsgesetz 2010 enge Vorgaben für die START-Verhandlungen, zum anderen braucht der Präsident für die Ratifizierung des Vertrags zumindest acht Stimmen der Republikaner im Senat.

Dass er sie bekommt, ist nicht gesichert – trotz der gravierenden Zugeständnisse, die Obama bereits gemacht hat. Auf dem Weg zu einer nuklearwaffenfreien Welt sind ihm eher drei Schritte vor und mindestens zwei zurück gelungen – ein Ergebnis, dass letztlich deutlich an seiner Glaubwürdigkeit zehren und deutliche Fortschritte bei der Stärkung des Nichtverbreitungsregimes während der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages im Mai signifikant erschweren kann.

* Aus: Neues Deutschland, 24. April 2010


US-Präsident Barack Obamas Nuklearpolitik und die NATO **

Drei Schritte vor und mindestens zwei zurück – so lautete vor drei Wochen die Überschrift über eine Analyse des »Nuclear Posture Reviews« (NPR) der USA. Mit diesem Bericht legte Barack Obama dem Kongress die Blaupause seiner künftigen Nuklearpolitik vor. Analysiert wurden die Änderungen der deklaratorischen Nuklearpolitik und die Zukunft der strategischen Nuklearstreitkräfte Washingtons nach Abschluss des »Neuen START-Abkommens«. In dieser Ausgabe betrachten wir die Aussagen zur Zukunft der regionalen Abschreckung und ihre Auswirkungen auf Europa und die hier stationieren Nuklearwaffen.

Deutschlands Außenminister, Guido Westerwelle, ist und bleibt ein Minister ohne Fortune. Er erleidet derzeit den nächsten politischen Rückschlag. Seinem Vorhaben, in Gesprächen über das künftige Strategische Konzept der NATO einen Abzug der letzten verbliebenen Nuklearwaffen aus Europa durchzusetzen, droht ein jähes Ende. Ganz so wie 1998 der Idee seines Vorgängers Joschka Fischer, der versuchte, die NATO auf einen Ersteinsatzverzicht für Nuklearwaffen einzuschwören.

Ironischerweise steht beiden Außenministern dieselbe US-amerikanische Politikerin im Wege: Madeleine Albright, unter Präsident Bill Clinton Außenministerin, ist heute Vorsitzende der Expertengruppe für das neue strategische Konzept der NAT0. Sie wird in Kürze Anders Fogh Rasmussen, dem Generalsekretär der Allianz, einen Bericht mit Empfehlungen für die künftige NATO-Strategie überreichen. Die Empfehlung, auf die letzten in Europa stationierten Nuklearwaffen zu verzichten, wird in ihrem Bericht nicht enthalten sein.

Westerwelle rudert schon zurück

Albright wird dem Vernehmen nach vorschlagen, diese Waffen vorläufig in Europa zu belassen. Sie sollen zum Gegenstand von Gesprächen mit Russland über weitere Schritte zur Nuklearabrüstung gemacht werden. Hillary Clinton, die Außenministerin der USA, argumentiert auf der gleichen Linie: »Bei allen künftigen Reduzierungen sollte es unser Ziel sein, (...) die nichtstrategischen Nuklearwaffen in die nächste Runde amerikanisch-russischer Abrüstungsdiskussionen einzubeziehen, zusammen mit den nicht stationierten strategischen Nuklearwaffen«, erklärte Clinton den NATO-Außenministern in Tallinn am 22. April.

Diese Sichtweise findet sich auch im neuen »Nuclear Posture Review«. Guido Westerwelle relativierte daraufhin seine Abzugsforderung: »Niemand hat je die Devise ausgegeben, dass dies in wenigen Jahren erreichbar wäre. Keiner ist naiv.«

Neue Modelle, neue Milliarden

Der NPR sieht eine Modernisierung der sub-strategischen Nuklearwaffen vor. Begründet wird auch dieses Vorhaben mit Barack Obamas Prager Rede: »Solange es diese Waffen gibt, werden die Vereinigten Staaten ein sicheres und wirksames Arsenal zur Abschreckung potenzieller Feinde aufrechterhalten und die Verteidigung ihrer Verbündeten garantieren.« Oder in Außenministerin Clintons Worten beim NATO-Treffen in Tallinn: »Solange Nuklearwaffen existieren, wird die NATO eine nukleare Allianz bleiben.«

Vorgesehen ist eine Modernisierung der beiden wesentlichen Komponenten: Für die nuklearfähigen F-16- und F-15E-Jagdbomber der US-Luftwaffe soll ein Nachfolger entwickelt werden, eine doppelt verwendbare Version des Joint Strike Fighters (JSF). Die in fünf europäischen Staaten, darunter in Deutschland gelagerten US-Atombomben der Versionen B-61-3 und B-61-4 sollen gründlich modernisiert werden. Gemeinsam mit der strategischen Version B-61-7 und einer weiteren taktischen Version, der B-61-10, sollen sie durch ein neues Modell, die B-61-12 abgelöst werden, über das der Kongress bereits im vergangenen Jahr heftig stritt.

Fast 2 Milliarden US-Dollar sind derzeit für die Haushaltsjahre 2011 bis 2015 für eine Machbarkeitsstudie und den Einstieg in die Entwicklung der neuen Version eingestellt. Weitere Milliarden müssen in den Jahren danach fließen, denn erst ab 2018 kann die neue Bombe als Bewaffnung für Jagdbomber und Langstreckenbomber hergestellt werden. Mit ihr würde der bisher bestehende Unterschied zwischen taktischen und strategischen Versionen der B-61 hinfällig.

Die als Lebensdauerverlängerung bezeichnete Maßnahme ist jedoch weit mehr, als der Name verrät. Vorgesehen ist eine Modernisierung der meisten nichtnuklearen Komponenten. Nach gesonderter Autorisierung durch den US-Präsidenten ist auch eine Überarbeitung der nuklearen Komponenten, des sogenannten »physics package« möglich, vorausgesetzt, dass dadurch entweder die Sicherheit oder die Funktionssicherheit gesteigert bzw. die Notwendigkeit nuklearen Testens verringert werden kann.

Unterschiede zu den Plänen für eine neue Generation verlässlicher Ersatzsprengköpfe (RRWs), die Verteidigungsminister Robert Gates und der Chef der zuständigen NNSA, Thomas d’Agostino, unter George W. Bush verfolgten, sind kaum auszumachen. Barack Obamas Vorgabe, keine neuen Nuklearwaffen, keine Nuklearwaffen mit neuen Fähigkeiten und keine Atomwaffen für neue Aufgaben zu entwickeln steht mit diesem Vorhaben auf dem Prüfstand.

»Alle Optionen« bleiben offen

Mit diesen Entscheidungen werde sichergestellt, dass »die USA die Fähigkeit beibehalten, Nuklearwaffen in Erfüllung ihrer Bündnisverpflichtungen vorgeschoben zu stationieren«, hält der NPR fest. Diese »nimmt die Ergebnisse künftiger Entscheidungen in der NATO über die Notwendigkeit der nuklearen Abschreckung und der nuklearen Teilhabe nicht vorweg«, sondern halte »alle Optionen offen«. Washington stelle seinen Alliierten einen »glaubwürdigen US-Nuklearschirm« bereit, der aus den »strategischen Kräften der Triade, vorgeschoben-stationierten Nuklearwaffen in Schlüsselregionen und Nuklearwaffen in den USA besteht, die schnell vorgeschoben stationiert werden können«. Auch wenn die Gefahr eines nuklearen Angriffs sich auf »einem historischen Tiefstand« befínde, trage »die Präsenz von US-Nuklearwaffen in Verbindung mit den einzigartigen Arrangements der nuklearen Teilhabe (...) zum Zusammenhalt der Allianz bei« und stelle »eine Rückversicherung für Verbündete und Partner dar, die sich regionalen Bedrohungen ausgesetzt fühlen«. Änderungen sollen nur nach Diskussion in und »auf Entscheidung der Allianz« erfolgen. Das erfordert Einstimmigkeit und gibt jedem NATO-Mitglied die Möglichkeit, einen Abzug der Nuklearwaffen aus Europa durch sein Veto zu verhindern. Die Modernisierung von Trägerflugzeugen und nuklearen Bomben soll unabhängig davon erfolgen, wie die NATO sich entscheidet.

Verbesserte regionale Sicherheitsarchitekturen, zu denen eine effiziente Raketenverteidigung, Fähigkeiten, den Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu bekämpfen, konventionelle Fähigkeiten zur Machtprojektion und eine integrierte Kommandostruktur gehören, seien »entscheidend, wenn man sich auf eine Welt ohne Nuklearwaffen zubewegt«.

Diese Verknüpfung hatte sich bereits im Ballistic Missile Defense Review (BMDR) angedeutet, einem weiteren aktuellen Planungspapier aus dem Pentagon. Dort stellte die Regierung Obama ausführlich dar, wie sie sich den stufenweisen Ausbau einer Raketenabwehr in Europa im kommenden Jahrzehnt vorstellt. Im BMDR wird für eine europäische Raketenabwehr geworben: »Gegen nuklear bewaffnete Staaten wird die regionale Abschreckung notwendigerweise auch [künftig] eine nukleare Komponente erfordern. Aber die Rolle der US-Atomwaffen in diesen regionalen Abschreckungsstrukturen kann durch eine Stärkung der Rolle der Raketenabwehr und anderer Fähigkeiten reduziert werden.«

Zur Erinnerung: Seit George W. Bushs »Nuclear Posture Review« 2002 sind die Raketenabwehr und die Fähigkeit zu raschen konventionellen strategischen Angriffen auf Ziele rund um den Globus (Prompt Global Strikes) Bestandteil der Gesamtabschreckung. Obamas NPR und der BMDR befürworten beides explizit. Letzteren wird unter Obama die Aufgabe zugewiesen, einige Aufgaben zu übernehmen, für die sich die Regierung Bush die nukleare Option offen hielt: die Reaktion auf Angriffe mit B- und C-Waffen oder auf Versuche nichtstaatlicher Akteure, zu Terrorzwecken an nukleares Material oder nukleare Waffen zu gelangen.

Unter Obama wird das Konzept einer Gesamtabschreckung auf regionale Abschreckungssysteme, also auf Europa und die NATO, den Nahen und Mittleren Osten und den Fernen Osten übertragen. Das bringt Konsequenzen mit sich, positive wie negative. Positiv ist die Reduzierung der Rolle und der Zahl atomarer Waffen, die angestrebt wird. Da auch Japan zustimmte, wurde die im NPR angekündigte Außerdienststellung der letzten seegestützten nuklearen Marschflugkörper möglich.

Europa wird in einen Disput hineingezogen

Problematisch sind dagegen etliche andere Aspekte: Wird eine weitere Reduzierung der Zahl und der Rolle nuklearer Waffen in der NATO vom vorherigen Aufbau einer Raketenabwehr der USA und der NATO in Europa abhängig gemacht, so könnten die europäischen NATO-Staaten tief in den russisch-amerikanischen Disput über die US-Raketenabwehr und deren Risiken für die strategische Stabilität hineingezogen werden. Das ist eine Aussicht, die den meisten europäischen Staaten nicht gelegen kommen kann. Russland wird auf Dauer auch die modifizierte Raketenabwehr der USA kaum akzeptieren können. Spätestens in der vierten Phase des Aufbaus der umstrukturierten Raketenabwehr ab 2018/20 sieht auch Obamas Konzept die Stationierung von Abfangraketen gegen Interkontinentalraketen »im Norden Europas« vor. Moskau dürfte darin erneut eine Gefährdung seiner Abschreckungsfähigkeit sehen oder das Vorhaben gar als Indiz für eine geheime Erstschlagsplanung der USA werten.

Zudem enthält das veränderte Raketenabwehrkonzept eine neue problematische Komponente. Im BMDR wird angekündigt, dass die USA Technologien zum »frühzeitigen Abfangen« gegnerischer Raketen entwickeln wollen. Dieses Teilkonzept wird als »Early Intercept« bezeichnet. Gemeint sind Technologien, mit denen gegnerische Raketen schon kurz nach dem Start oder sogar noch bevor sie abgeschossen wurden, zerstört werden können. Mit anderen Worten: Technologien, die in der NATO eine neue Diskussion über präventive Einsätze auslösen dürften.

Wenn der Aufbau größerer konventioneller Angriffsfähigkeiten zur Voraussetzung für nukleare Abrüstung gemacht wird, so ist das ebenfalls problematisch. Zum einen könnte Russland solche Fähigkeiten als weiteren Teil einer Erstschlagskonzeption werten. Zum anderen wäre unklar, ob die NATO sich in das Konzept der Prompt Global Strikes einbinden lässt. Die Gefahr besteht, dass hieraus ein grundsätzliches Hindernis für nukleare Abrüstung in Europa wird.

Noch komplexer ist ein anderes Problem: Wird die NATO als regionales Abschreckungssystem mit regionaler Sicherheitsarchitektur betrachtet, so muss das in Europa ungute Erinnerungen an die NATO-Diskussion der 70er Jahre wachrufen. Damals wollten gerade die europäischen NATO-Staaten kein regionales Abschreckungssystem, um sicherzustellen, dass die globale Abschreckung unteilbar war. Sie fürchteten, ein regionaler, auf Europa begrenzbarer Nuklearkrieg werde sonst denkbar. Dass solche Überlegungen auch heute in Washington noch existieren, bewies der ehemaligen Verteidigungsminister James Schlesinger Ende 2008. In einer ausführlichen Studie für das Pentagon befürwortete er mit Blick auf die erweiterte (also regionale) Abschreckung eine Wiederbelebung des Konzeptes der begrenzten nuklearen Optionen, der Limited Nuclear Options. Mit genau diesem Konzept hatte Schlesinger als Verteidigungsminister Mitte der 70er Jahre die Befürchtungen über einen begrenzten Atomkrieg mit ausgelöst.

Eine jahrelange Hängepartie droht

Schließlich droht mit der Ankündigung, einen Abzug der nichtstrategischen Nuklearwaffen aus Europa von Verhandlungen mit Russland abhängig zu machen, möglicherweise eine jahrelange Hängepartie. Es kann Washington und seinen NATO-Partnern nicht entgangen sein, dass Moskau seit Jahren über diese Waffen erst dann reden will, wenn die USA sie auf ihrem eigenen Territorium lagern. So entsteht nur ein neues diplomatisches Mikadospiel: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren.

Klar wird: Die gegenwärtig in New York tagende Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag erhält kein starkes positives Abrüstungssignal. Weder durch den NPR noch durch den neuen START-Vertrag und auch nicht seitens der NATO. Mangelnder Fortschritt bei der Abrüstung bedeutet aber wohl auch mangelnden Fortschritt bei der Verhinderung von Weiterverbreitung. Kein gutes Omen für New York.

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit – BITS. Den ersten Teil seiner Betrachtungen zur Atomwaffenpolitik Barack Obamas – »Drei Schritte vor und mindestens zwei zurück« – veröffentlichte ND am 24. April.

** Aus: Neues Deutschland, 15. Mai 2010


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